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Kartoffeln

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Nathanaels Einkäufe vom Wochenmarkt waren nicht schwer, bei jedem Schritt schwang die Tasche hin und her. Der Boden war mit Schnee bedeckt, aber der Wind war heute weniger kalt als gestern, und es roch schwach nach Erde und Frühling.

Als er zum Schulhaus kam, blieb er stehen. Im oberen Stock sah er Gruber, der gerade die äußere Reihe der Pulte entlangging. Seine Bewegung ließ die Öllämpchen auf den Schreibtischen flackern. Im Erdgeschoss befanden sich alle Kinder der unteren Klassen zusammen in einem Zimmer. Kerzen standen auf dem Fenstersims. Die Kinder rannten im Raum herum, vielleicht spielten sie ein Spiel. Sina, die Lehrerin der jüngeren, stand an der Stirnseite des Zimmers zu einem Kind hinuntergebeugt. War es Elias? Nathanael konnte es nicht deutlich sehen. Die Fenster aller anderen Schulzimmer waren dunkel. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass die Schule vor langer Zeit einmal voll mit Kindern gewesen war. Im oberen Stock standen die ersten Schüler von ihren Pulten auf, sicher machten sie bald Pause. Er musste sich beeilen, er wollte seinen Klassenkameraden nicht begegnen und sich ihre Fragen anhören müssen.

Nathanael ließ das Schulhaus hinter sich. Bestimmt würde er bald zurück in die Schule dürfen. Die Mutter war heute gut gelaunt. Sie hatte ihn ausschlafen lassen und ihm nur leichte Aufgaben gegeben. Einkaufen und beim Mittagessen helfen.


Auf dem Küchentisch lag bereits ein Haufen Kartoffeln, daneben die Schälmesser. Das Herdfeuer brannte, darüber hing ein Topf mit Wasser. Die Mutter ging in der Küche umher, öffnete Schubladen und sang leise vor sich hin. »Herr unser Erlöser …« Das Lied hatte eine seltsame Melodie, angeblich von der Prophetin selbst komponiert. Die Mutter lächelte Nathanael an.

»Vielen Dank«, sagte sie und nahm das Brot, die Wurst und die Milch aus seiner Tasche. Sie deutete auf den leeren Stuhl vor den Kartoffeln. »Ich habe Tee gemacht.« Sie stellte zwei Teetassen auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Es roch nach getrockneten Kräutern und Erde. Nathanael nahm eine Kartoffel in die Hand und begann sie zu schälen.

»Wie geht es dir?«, fragte die Mutter, während auch sie mit schnellen Bewegungen eine Kartoffel schälte.

»Gut«, antwortete Nathanael, ohne sie anzusehen.

»Ich habe Neuigkeiten für dich.«

Nathanaels Herz klopfte schneller.

»Ich habe mit Hendrik gesprochen«, fuhr die Mutter fort. »Ich habe ihn daran erinnert, dass du schon mit zehn das Evangelium auswendig konntest.«

Nathanael schwieg.

»Er hat sich bereit erklärt, dich zu unterrichten. Zwölf Stunden pro Woche. Nur du und er.« Die Mutter lächelte, ihre Augen leuchteten. »Obwohl er so viel zu tun hat.«

Nathanael ließ die halb geschälte Kartoffel fallen und warf das Rüstmesser hin.

»Ich will aber zurück in die Schule.«

»Lass mich ausreden. Wenn du bei Hendrik in den Unterricht gehst, kannst du selbst Prediger werden.«

»Wir haben doch ihn.«

»Du kannst als Missionar in ein anderes Dorf gehen. Du wirst ein gutes Leben haben.«

Nathanael schwieg.

»Du bist erst fünfzehn. Du denkst dir, es wäre schön, Menschen zu heilen. Ich wollte früher auch Menschen helfen. Aber jetzt weiß ich, dass sie einzig und allein Gottes Hilfe brauchen.«

»Aber …«, sagte Nathanael.

Die Mutter unterbrach ihn. »Ärzte machen nichts anderes, als den Menschen beim Sterben zuzusehen. Es stinkt, Blut fließt, alles ist hoffnungslos, die Angehörigen schreien dich an. Es ist der schrecklichste Beruf, den es gibt.«

»Früher war das anders.«

»Früher war alles anders. Früher hatten die Menschen einen Pakt mit dem Teufel. Sie lebten länger, aber sie waren unglücklich und nahmen Medikamente, die ihre Seelen vergifteten. Jeder hatte Angst vor dem Tod. Heute haben wir keine Angst mehr.«

»Ich habe Angst.«

»Ein Glaube, der nie durch Zweifel geprüft wurde, ist nichts wert. Als ich so alt war wie du, habe ich auch an allem gezweifelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, so zu leben wie meine Eltern.«

»Du lebst ja auch nicht wie sie«, sagte Nathanael.

»Zum Glück.« Die Mutter stand auf. Sie warf die geschälten Kartoffeln in einen Topf. Sie lächelte und schaute über seinen Kopf hinweg. »Du wirst ein guter Prediger werden.«

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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