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China

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»Haben Sie sich meine Hausaufgaben angesehen?« Nathanael stand vor der Tür und blickte sich nervös um. Er ist dünner geworden, dachte Ludwig. Eiskalte Winterluft strich um seine Beine. Als er vom Klopfen geweckt worden war, hatte er vermutet, es sei wieder eine Schülerin, die ihm auf Geheiß ihrer Mutter Essensreste brachte, obwohl er ausdrücklich gesagt hatte, dass er das nicht wollte, auch nicht, wenn er krank war. Sie verstanden einfach nicht, dass er sich lieber von altem Brot ernährte als vom Essen seiner Schüler.

»Komm rein, ich hol mir den Tod«, sagte Ludwig.

Der Junge zögerte, und Ludwig dachte schon, er müsse ihn ein zweites Mal auffordern, doch dann betrat Nathanael endlich das Haus. Er war noch nie hier gewesen. Ludwig sah sein Wohnzimmer mit Nathanaels Augen und schämte sich. Auf dem Bett lagen mehrere zerschlissene Decken. Schmutziges Geschirr stand auf dem Boden. Ludwig hatte nicht die Kraft gehabt, Wasser aus dem Brunnen zu holen, um das Geschirr zu waschen. Außerdem klebten ihm die Haare am Kopf. Die Holzbretter, mit denen der Boden bedeckt war, knarrten bei jedem Schritt. Ludwig hatte sie auslegen müssen, weil die Rohre der Bodenheizung geplatzt waren.

»Was willst du hier«, sagte Ludwig. »Du steckst dich an.« Ludwig fühlte sich schwach. Er setzte sich auf sein Bett. »Ich kann deine Hausaufgaben nicht korrigieren. Deine Eltern haben es verboten.«

»Das ist nicht fair«, sagte Nathanael. »Ich glaube nicht mal an Gott.«

»Hast du das deinen Eltern gesagt?«

»Natürlich nicht.«

»Ich kann dir nicht helfen. Tut mir leid.«

Nathanael schwieg für einen Moment. »Ich gehe nach China«, sagte er dann.

Ludwig legte sich hin und zog die Decke über sich. »Lass mich jetzt mit deinen Dummheiten in Ruhe, Nathanael. Ich bin krank.«

»Ich meine es ernst. In China gibt es Strom. Sonst würde Lisas Radio nicht dorthin senden.«

»Von dort empfangen, Nathanael. Hast du nicht aufgepasst?«

»Das meinte ich doch. In China gibt es Strom. Also gibt es dort auch noch Medizin. Medikamente. Es sind siebentausendfünfhundert Kilometer, ich habe es im Atlas nachgeschlagen. Weniger als zwei Jahre zu Fuß. Den Rand von Nord 1 erreiche ich in ein paar Stunden, danach kommt schon bald Ost 2, und dahinter wird es nicht anders sein als hier. Das schaffe ich! Besser als Kartoffeln ausgraben und Hendriks Predigten ertragen.«

»Wenn du das Dorf verlässt, wirst du sterben.«

Nathanael schaute ihn ungerührt an.

»Ich muss hier weg.«

»Wenigstens haben wir zu essen. Vielleicht wird es irgendwann wieder besser für uns alle. Irgendwo entsteht wieder eine Macht, die uns erobern wird, meinetwegen sogar die Russen. Ich verneige mich vor jedem, solange er uns nur wieder Benzin und Medikamente bringt und die Straßen repariert. Dieser Sender in China könnte auch mit einer Plutoniumbatterie betrieben werden und ohne menschliches Zutun aufgezeichnete Musikstücke senden. Lisa sagt, sie hat nie jemanden reden hören. Bleib hier und warte ab, wie wir alle.«

»Warten! Das ist alles, was Sie tun!«

Ludwig schwieg und sah Nathanael an. Etwas in seinem Blick war anders als früher. Schließlich senkte Nathanael die Augen. Wortlos wandte er sich um, ging zur Tür und riss sie auf.

Ludwigs Herz klopfte noch immer, nachdem Nathanael die Tür schon längst geschlossen hatte und die Kälte, die er hereingelassen hatte, langsam nachließ.

Er drehte sich zur Wand. Es stimmte, während man wartete, dass die Dinge endlich besser wurden, ging das Leben vorüber. Jede neue Erkältung schien schwerer abzuschütteln zu sein als die letzte, und seine Müdigkeit wurde mit jedem Jahr tiefer. Immer dachte er, er würde sich im Sommer vom Winter erholen, aber wenn der Winter dann wiederkam, merkte er, dass ihm der letzte noch in den Knochen saß, so als hörte er in Wahrheit nie auf und überdauerte tief in ihm den ganzen Sommer.

Von fern spürte Ludwig wieder den alten Zorn, von dem er geglaubt hatte, ihn längst überwunden zu haben. Den Zorn auf alles, was schiefgegangen war. Er war arglos durch sein Leben gegangen, Ziele vor Augen, die damals alle für leicht erreichbar hielten, seine Lehrer, seine Eltern. Er würde einige Jahre in New York arbeiten, das Praktikum bei der Großbank dort hatte er dank seines Abschlusses in Informatik leicht bekommen, und bestimmt würde er danach eine interessante Stelle finden. Er hatte sich bereits nach Wohnungen im East Village umgeschaut und ausgerechnet, dass er sich mit seinen Ersparnissen von der Arbeit im IT-Callcenter und dem Praktikumslohn eine kleine Wohnung gerade eben so würde leisten können. Er würde über neunzig Jahre alt werden, ohne je viel Schmerzen zu leiden, an jeder Ecke würde ein Arzt oder ein Therapeut warten, der ihm, wenn nötig, zuhörte und half. Er würde sich immer wieder neu erfinden, wenn er seines Lebens überdrüssig wurde, hierhin und dorthin reisen, alles ausprobieren, von allem kosten. Doch bevor er damit überhaupt hatte anfangen können, war der Himmel schwarz geworden. Nur Sekunden später war der Strom ausgefallen, und die Mobilgeräte hatten keinen Empfang mehr gehabt. Fassungslos hatten sie irgendwann verstanden, dass er nicht zurückkehren würde, während es mit jeder Stunde kälter wurde. Und die Versprechen, nach denen er sein Leben ausgerichtet hatte, waren zur Lüge geworden. Sie alle mussten damit leben, auch wenn es einige gab, die so taten, als wäre es nie anders gewesen, oder wie Petra sogar behaupteten, die Katastrophe habe die Welt verbessert. Heute schien im ganzen Dorf und der Umgebung nur einer dazu entschlossen, zurück in die Zivilisation zu finden, Nathanael. Aber es gibt sie nicht mehr, dachte Ludwig. Sie ist nicht unter der Erde vergraben, sie hat nicht auf einem anderen Kontinent überlebt. Zwischen uns und der Zivilisation klafft der größte Abgrund, den es gibt, der Abgrund der Zeit. Nathanael war zu jung, um das zu begreifen.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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