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Prediger

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Nathanael drückte die schwere Tür zum Versammlungsraum auf. Schwaches Licht drang durch die Deckenfenster. Der Saal war leer, die Stuhlreihen standen ordentlich da. Wie kahl es hier aussah ohne die Kerzen. Aus dem Nebenzimmer drang ein leises Rascheln.

»Ich bin gleich bei dir«, rief Hendrik hinter der angelehnten Tür.

Nathanael war absichtlich langsam gegangen und später dran als abgemacht. Bestimmt ließ Hendrik ihn deshalb jetzt warten. Nathanael setzte sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe, dorthin, wo seine Eltern immer saßen. Er stellte sich vor, was sie während den Predigten und den Betabenden sahen. Hendrik stand erhöht auf einem Podest. Man hatte also seine Beine direkt vor sich und musste den Kopf weit nach hinten legen, um sein Gesicht zu sehen. Dafür sah man nichts von den anderen Leuten, die im Raum waren, hörte nur ihre Bewegungen und ihr leises Atmen. Wie ein Gewicht im Rücken. Nathanael war froh, dass er immer ganz hinten saß.

Hendrik öffnete die Tür. Er trug nicht seinen üblichen dunklen Anzug, sondern Jeans und einen Pullover.

»Willkommen«, sagte er und lächelte. »Entschuldige. Ich musste die Freitagspredigt fertig schreiben.«

»Kein Problem«, sagte Nathanael und nahm die Hand, die Hendrik ihm entgegenhielt. Sie war warm.

»Unglücklich, hier zu sein?«, fragte Hendrik.

Das war einer seiner Tricks, dachte Nathanael.

»Nein«, log er.

Hendrik lächelte immer noch leicht. »Schön. Ich freue mich, dass du hier bist. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Das glaube ich auch, dachte Nathanael.

»Ich möchte mit dir über etwas sprechen, das mich beschäftigt. Komm, setzen wir uns in mein Zimmer.«

Es war das erste Mal, dass Nathanael Hendriks Arbeitszimmer betrat. Es war voller Bücher. Theologische Werke, aber auch Bücher über Psychologie. Massenhypnose, las er. Revolutionen und ihre Vorläufer.

»Ich lasse fast niemanden hier herein«, sagte Hendrik.

»Wo hast du all die Bücher her?«, fragte Nathanael. Er merkte, dass seine Stimme interessierter klang als gewollt.

»Geschenke«, sagte Hendrik. »Setz dich.«

Er hob einen Stapel Bücher von einem Hocker. Nie hätte Nathanael gedacht, dass Hendrik so viele Bücher besaß. Er hatte geglaubt, Hendrik arbeite ausschließlich mit der Bibel, dem Evangelium des Staubes und den »Sprüchen der Gnade«, aus denen er oft zitierte und die Nathanael nicht ausstehen konnte. Alles, was darinstand, war entweder offensichtlich richtig oder völlig verlogen.

»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden«, sagte Hendrik. »Eine Sache macht mir Sorgen.«

»Was denn?«, fragte Nathanael.

»Wenn du Prediger werden willst, musst du lernen, offener zu sein. Und wärmer. Als Prediger müssen die Leute dich mögen.« Hendrik sah Nathanael forschend an. »Magst du die Menschen, Nathanael?«

Nathanael dachte nach. »Nicht alle«, sagte er und blickte zu Boden. Für einen Moment kam er sich ganz durchsichtig vor. Als wisse Hendrik alles über ihn.

Hendrik seufzte. »Magst du mich?«

Nathanael spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Nein«, sagte er leise. Aber stimmte das wirklich? Auch wenn er mit Hendrik meistens nicht einverstanden war, gab es etwas an ihm, das ihn anzog.

Hendrik lachte.

»Da bist du eine Ausnahme«, sagte er. »Die meisten Menschen mögen mich nämlich. Weißt du, das hängt zusammen. Wer die Menschen nicht liebt, wird auch von ihnen nicht geliebt. Um Prediger zu werden, musst du als Erstes lernen, die Menschen zu lieben.«

Es stimmte, Hendrik schaute jeden an, als sei er ihm wichtig. Es fühlte sich gut an, so angeschaut zu werden. Und doch war Hendrik dagegen, dass man sich bei der Zentrale Hilfe holte, wenn man krank war. Gott wird für uns sorgen, sagte Hendrik immer.

»Ich will kein Prediger werden«, sagte Nathanael mit klarer Stimme und sah Hendrik direkt in die Augen.

»Ich weiß«, sagte Hendrik. Er lächelte. »Aber auch als Arzt musst du die Menschen gernhaben und sie für dich gewinnen. Ich kann dir dabei helfen. Ich glaube, dass ich dir etwas beibringen kann, das in keinem Schulbuch zu lesen ist.«

Hendrik erhob sich. »Steh auf«, sagte er.

Nathanael gehorchte. Hendrik schüttelte den Kopf. »Aufrechter«, sagte er. »Schultern zurück. Hände sinken lassen. Und jetzt lächeln.«

Nathanael bemühte sich um eine gute Haltung und zog die Mundwinkel nach oben.

»Sieht unecht aus«, sagte Hendrik und lachte. »Das musst du mit einem Spiegel üben.«

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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