Читать книгу Die Erinnerung an unbekannte Städte - Simone Weinmann - Страница 12
Komet
ОглавлениеLudwig erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Er fror, das Feuer war in der Nacht erloschen. Mühsam stand er auf und streifte seinen Mantel über. Im Zimmer nebenan hörte er leise die Hühner scharren und gackern. Bald würde er sie füttern müssen. Aber zuerst musste er pinkeln. Er zog die Schuhe an und öffnete die Haustür. Draußen war es noch kälter als gestern. Dieser elende Winter. Die dünne Schneedecke im Garten brach unter seinen Füßen, während er die wenigen Schritte zum Bretterverschlag zurücklegte. Auf dem Weg zurück zum Haus steckte er die eiskalten Hände in die Manteltaschen und streifte dabei den Zettel von Nathanael. Drinnen nahm er ihn aus der Tasche, faltete ihn auf und begann zu lesen.
Auf einem Kometen im Sonnensystem lebt eine außerirdische Zivilisation. Für viele Jahrhunderte reist der Komet durch Kälte und Dunkelheit. Am dunkelsten und kältesten ist es, wenn er sich der Oortschen Wolke nähert, wo er ursprünglich herkommt und wo alles aus Eis besteht, sogar die Luft gefriert dort.
Während der langen Jahre, die der Komet in Sonnenferne verbringt, befindet sich alles Leben in tiefem Schlaf. Nichts bewegt sich. Doch wenn der Komet alle paar Jahrhunderte näher an die Sonne kommt, an der Erde vorbei und noch näher, erwacht er für einige Zeit. Dann tauen die gefrorenen Wesen auf, umarmen sich und treffen sich, sie spielen Musik, tanzen und lachen und führen Theaterstücke auf. Gleichzeitig bekommt der Komet einen Schweif, denn das Eis schmilzt, und der Schweif zieht sich weit durch das Sonnensystem und ist von allen Planeten aus sichtbar, außer von der Erde und der Venus, die von ihren Atmosphären dicht verhüllt sind. Aber vom Mars aus sieht man ihn kristallklar, und er zieht sich über den ganzen weiten Marshimmel, an den glitzernden Sternen vorbei.
Dann schleudern die Gesetze der Gravitation den Kometen wieder fort von der Sonne. Die Wesen verabschieden sich traurig voneinander, wenn es dunkler wird, und vergraben sich in den Boden, wo sie zu Stein gefrieren für die nächsten Jahrhunderte. Doch von all dem wissen wir nichts, und wir werden auch nie etwas davon erfahren.
Ludwig faltete den Zettel langsam zusammen. Er starrte aus dem Fenster auf die menschenleere Straße. Jemand musste Nathanael die Unterlagen zur Astronomiestunde weitergegeben haben. Was stellte der Junge sich vor? Dass Ludwig seine Hausaufgabe korrigieren und zurückgeben würde, gegen den Willen seiner Eltern? Nathanael schien den Auftrag, den er den Schülern gegeben hatte, zudem missverstanden zu haben, es war nicht darum gegangen, eine Geschichte zu erfinden. Immerhin stimmte der Kometenorbit, den Nathanael beschrieb, ungefähr mit den Tatsachen überein. Das war schon viel, die Texte der anderen Schüler waren konfus gewesen, so als hätten sie keines von Ludwigs Worten verstanden.
Ludwig nahm eine Handvoll trockenes Stroh, stopfte es zwischen die Holzscheite im Kamin und schlug den Feuerstein und das Stahlstück zusammen, bis das Stroh zu qualmen begann. Er hängte den Wasserkessel über die größer werdenden Flammen und warf getrocknete Pfefferminzblätter hinein. Wie sehr er Kaffee noch immer vermisste, gerade an einem Morgen wie heute. Er streute aus einer Dose Hafer in das Pfefferminzwasser und löffelte den Brei langsam. Das Licht draußen war noch trüber als sonst, vielleicht würde es bald wieder schneien.
Wenn er Nathanaels Hausaufgaben weiterhin korrigierte, würde früher oder später unvermeidlich Petra an seine Tür klopfen. Sie würde ihn anschreien, was er sich einbilde und ob sie Nathanael einsperren müsse, damit Ludwig aufhören würde, ihn zu beeinflussen. Wahrscheinlich würde sie Urs in die Sache hineinziehen, der sich dann in Ludwigs Lehrplan einmischen würde. Sina, Urs’ Frau, besuchte jetzt auch die Betgruppe.
Als Petra Nathanael aus der Schule genommen hatte, hatte sich in Ludwigs Ärger eine leise Erleichterung gemischt. Er war froh gewesen, dass er ihr hartes Klopfen an seiner Tür nicht mehr hören würde, zumindest so lange, bis Samuel und Elias in die Oberstufe kämen. Wenn Petra sie denn überhaupt die Oberstufe besuchen ließe. Seit Ludwig Nathanaels Klasse übernommen hatte, war sie in regelmäßigen Abständen vorbeigekommen, um seinen Unterricht zu kritisieren. Ob er nicht dieses Buch oder jenes Thema weglassen könne. Ständig hatte sie Nathanaels Taschen durchsucht und seine Schulunterlagen kontrolliert. Früher hatte Ludwig noch gehofft, dass Niklas, Nathanaels Vater, sich eines Tages gegen seine Frau wehren würde. Er war ein schweigsamer Mann und schwer zu durchschauen. Aber scheinbar teilte er Petras Ansichten.
Nein, dachte Ludwig. Ich werde nichts tun. Es ist besser, auch für Nathanael.