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Betgruppe

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Nathanael blieb in der Tür des Saals stehen und suchte mit den Augen die Sitzreihen ab. Sarah war noch nicht hier. Vorn begrüßte Hendrik die Neuankömmlinge und schüttelte ihnen lächelnd die Hand. Auch ihm winkte er zu, aber Nathanael hob nur kurz die Augenbrauen. Dann setzte er sich in die hinterste Reihe. Im Rücken spürte er die kalte Wand. Er hätte Hendrik wenigstens zunicken können, er hatte sich doch vorgenommen, freundlich zu sein, bis er zurück in die Schule durfte. Bestimmt würde sich der Prediger später wieder bei den Eltern beklagen. Hendrik fasste einen Mann leicht am Oberarm, woraufhin dessen Gesicht aufleuchtete.

Dutzende von Kerzen brannten auf Tischen und am Boden. Nathanael beobachtete die Erwachsenen, die den Raum langsam füllten. Die Frauen in ihren langen dunklen Röcken, mit ihren Zöpfen, die Männer mit ihren Bärten und den abgeschabten Hosen und Jacken. Sie setzten sich mit umständlichen Bewegungen in die vorderen Reihen und unterhielten sich. In den Händen hielten sie alle eine Bibel, in vielen verschiedenen Ausgaben, dunkelrote und grüne, kleine und große, und das, was Hendrik ihre Vollendung nannte: einen handbeschriebenen, zusammengehefteten Stapel Papier. Das Evangelium des Staubes. Einiges davon hatte Nathanael selbst abgeschrieben.

Endlich tauchten auch Sarah und ihr Vater auf. Nathanael sah ihnen dabei zu, wie sie sich zwei Reihen vor ihn setzten. Sarah drehte den Kopf zur Seite, als ob sie sich nach ihm umschauen wollte, doch sie wandte den Blick gleich wieder nach vorn. Nathanaels Eltern betraten den Raum als Letzte, man hatte ihnen zwei Plätze in der ersten Reihe freigehalten. Die Mutter ging voraus, auch sie in einem langen schwarzen Kleid, mit aufrechtem Gang, die schwarzen Haare in einem Knoten hochgesteckt. Der Vater folgte, seine Haltung wie immer etwas schief, und statt einem Vollbart wie die meisten anderen Männer hatte er kreuz und quer abstehende graue Stoppeln am Kinn.

Samuel, der dicht hinter den Eltern gegangen war, bog ab und drängte sich an den anderen Jugendlichen in der letzten Reihe vorbei. Dann ließ er sich schwer auf das Evangelium fallen, das Nathanael neben sich abgelegt hatte.

»Hau ab«, zischte Nathanael ihm ins Ohr, »hier ist reserviert.« Vielleicht würde Sarah ja nach der Pause den Platz wechseln.

Samuel schnitt ein Gesicht. »Wieso?«

Nathanael stieß ihm seinen Ellbogen in den Oberarm.

»Aua«, rief Samuel leise.

»Steh jetzt auf. Oder ich verrate den Eltern, wo du gestern warst«, sagte Nathanael.

Samuel schaute ihn ungerührt an, aber dann verzog er sich. Am Tag zuvor war er mit seinen Klassenkameraden weit auf den gefrorenen Dorfweiher hinausgeschlittert, bis das Eis angefangen hatte zu knacken. Nathanael hatte ihnen vom Ufer aus zugesehen.

Samuel setzte sich vorn neben Elias, mit dem er sofort zu tuscheln begann. Nathanael betrachtete ihre Hinterköpfe. Samuel hatte helle Haare, Elias dunkle, aber die Ähnlichkeit in ihren etwas eckigen Bewegungen verriet, dass sie Brüder waren. Hoffentlich bewegte er sich nicht auch so.

»Sei doch froh, dass du nicht mehr in die Schule musst«, hatte Samuel am Morgen gesagt. Nathanael hätte ihm für die dumme Bemerkung gerne unter dem Tisch einen Tritt versetzt. Aber er konnte keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen.

Hendrik erhob seine Stimme. »Beginnen wir.«

Nathanael versuchte sich vorzustellen, was er von Hendrik halten würde, wenn er ihm heute zum ersten Mal begegnen würde. Hendrik war groß und dünn. Er hatte schütteres Haar und ein Gesicht, das stets leicht beleidigt wirkte. Die Eltern sagten, er habe es schwer gehabt, bevor er zum Evangelium gefunden habe. Jetzt war sein schmaler Körper erfüllt von etwas, das nicht von dieser Welt war, etwas Starkem, das ihn hin- und herwarf und durch den Raum trieb. Hendriks Hände bewegten sich beim Reden wie von selbst, schlanke, elegante Hände. Nicht wie bei Gruber, dessen Hände beim Sprechen immer wieder kraftlos nach unten sanken oder in den Hosentaschen verschwanden. Hendriks Stimme war scharf und klar, man hörte jede Silbe überdeutlich. Gruber klang immer etwas verhangen, als strenge ihn das Sprechen an, während für Hendrik das Sprechen scheinbar eine Erleichterung darstellte.

Der Saal war ganz still. Nathanael wäre gerne mit den Gedanken abgeschweift, aber Hendriks Worte bohrten sich hartnäckig in seine Ohren. Dabei hatte er fast die gleiche Predigt schon einmal gehalten. Sie handelte von dem gesegneten Dorf in Russland, über dem der Himmel noch offen war und wo die Menschen nichts mehr zu essen brauchten, weil sie so heilig und rein waren. Nathanael konnte sich nicht vorstellen, wie es war, nie mehr etwas essen zu wollen. Hellblau sei der offene Himmel, sagte Hendrik, und am Abend rosa, so wie Gott ihn geschaffen habe.

Die Gemeinde hörte andächtig zu. Vielleicht wussten sie nicht mehr, dass sie das alles schon einmal gehört hatten, oder sie mochten gerade die Wiederholung. Dann begann das Beten. Alle senkten die Köpfe. Auch Nathanael legte seine Hände so in den Schoß, wie es richtig war, mit dem rechten Daumen in der linken Handfläche. Er versuchte weiter, Hendriks Worte auszublenden, und konzentrierte sich auf den hellen Halbmond am Daumennagel.


Auch im Pausenraum brannten Kerzen. Die Leute scharten sich im Halbdunkel um die großen Metalltöpfe, der Geruch von Kräutertee und süßem Gebäck lag in der Luft. Nathanael wartete neben der Tür, bis Sarah erschien. Sie roch gut, nach Seife und Wolle.

»Komm«, sagte sie und zog ihn in den dunkelsten Teil des Raums, weit weg von den Kerzen und den redenden Erwachsenen. »Hier.« Sie blätterte in ihrem Evangelium und nahm einige lose Blätter heraus. Nathanael faltete sie und steckte sie in seine Bibel. Er blickte sich um. Niemand schien sie gesehen zu haben, seine Eltern standen mit Hendrik in einer Ecke und tranken Tee.

»Was habt ihr in der Schule gemacht?«, fragte er.

»Ich hab nicht zugehört«, antwortete Sarah. »Du kannst es nachlesen. Ich hab die Seiten aus dem Biologiebuch gerissen, pass auf, dass niemand sie sieht.«

Nathanael unterdrückte den Impuls, ihr zu sagen, dass sie die Bücher nicht zerreißen durfte. Es gab nicht viele von ihnen. Aber er brauchte die Seiten ja.

»Haben wir … habt ihr viele Hausaufgaben?«, fragte er.

»Ja«, sagte Sarah. »Viel zu viele. Ich verstehe nicht, was sein Problem ist. Wo wir doch bald Dorffest haben.«

Nathanael wusste nicht, was das mit dem Dorffest zu tun hatte, das erst Ende der Woche stattfinden würde. Aber er fragte nicht nach. »Ich geb sie dir morgen.«

»Kannst du wieder ein paar Fehler einbauen? Und meine Schrift nachmachen?«

Sarah lächelte Nathanael verschmitzt an, ihm wurde ganz flau im Magen. Mussten ihre braunen Haare so schimmern? Sie stand zu nah bei ihm. Seltsam, oft wünschte er sich, in ihrer Nähe zu sein, aber wenn er sie dann traf, wollte er nur, dass es schnell wieder vorbei war und er in Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie gesagt und wie sie es wohl gemeint hatte.

»Ich weiß nicht, deine Schrift ist komisch«, sagte Nathanael. Sarahs Buchstaben neigten sich so stark nach rechts, dass man sie kaum lesen konnte.

»Sonst merkt er es«, sagte sie. »Er hat schon letztes Mal so seltsam geschaut.»

»Ich versuche es.«

»Ich wünschte, ich müsste auch nicht mehr in die Schule.«

»Zu Hause ist es langweilig«, antwortete Nathanael.

»Kannst ja deinem Vater helfen.«

»In der Metzgerei?« Nathanael verzog das Gesicht. Er hasste den Blutgeruch.

»Warum nicht? Ich kann Fische sehr schnell ausnehmen. Papa sagt, ich werde mal eine gute Fischerin.«

»Papa sagt was? Hallo Nathanael.«

Nathanael zuckte zusammen, er hatte Sarahs Vater nicht bemerkt. Michael war größer als Nathanaels Vater und hatte ein unförmiges Gesicht. Er reichte Sarah ein Stück Gebäck, das in ein Tuch gewickelt war.

»Gutes Essen«, lobte er. »Dafür lohnt es sich, diesem Schwätzer zuzuhören.« Und zu Nathanael gewandt: »Erzähl das nicht deinen Eltern.«

»Papa, geh doch nach Hause, wenn du nicht zuhören willst«, sagte Sarah. »Mir hat die Predigt gefallen.« Dabei schaute sie Nathanael an.

Nathanael antwortete nicht. Er verstand nicht, warum Sarah hier besser aufpasste als in der Schule. Michael schien es jedenfalls nichts auszumachen, wie Sarah mit ihm sprach, er lächelte nur.

»Du hast recht, Liebes. Es liegt sicher viel Wahres darin.«

»Nenn mich nicht Liebes.«

»Frauen«, sagte Michael zu Nathanael und lachte. Nathanael lachte mit, obwohl er nicht wusste, was Michael meinte.

»Wir machen weiter«, rief Hendrik.

Frauen, dachte Nathanael auf dem Weg zurück in den Raum. Seine Mutter in ihrem schwarzen Kleid. Sarah mit ihren glänzenden Haaren. Vanessa, die einem Mitschüler quer durch den Raum ein Buch an den Kopf warf. Die Prophetin, die angeblich im Wald lebte. Nathanael stellte sie sich mit wirren Haaren vor. Hendrik hatte gesagt, sie habe leuchtende Augen und ganz warme und trockene Hände gehabt, von dem Fieber, das ihre Visionen begleitete, und sie habe mit einem leichten Akzent gesprochen, weil sie doch als Kind von Russland hergezogen war. Er und sie seien Freunde gewesen, behauptete er, aber Nathanael vermutete, dass er log. Einmal hatte Rahel gefragt, ob denn die Prophetin Rechts- oder Linkshänderin sei, und Hendrik hatte es nicht gewusst.

Sarah setzte sich auch nach der Pause wieder neben ihren Vater. Samuel und Elias schauten sich nach Nathanael um und kicherten. Sie kamen ihm fremd vor, wie irgendwelche Jungs, mit denen er nichts zu tun hatte.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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