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Winterschals

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Nathanael stand vor dem Versammlungshaus und vergrub die Hände in den Taschen seines Wintermantels. Der Schnee tanzte in der Luft wie Staub. Die anderen Gläubigen hatten sich voneinander verabschiedet, waren nach Hause gegangen, um zu Mittag zu essen, und hatten die Straßen des Dorfs leer zurückgelassen. Samuel war mit seinen Freunden davongerannt. Dabei hätte Nathanael ihn gerne gefragt, was Elias auf dem Dorffest getrieben hatte, nachdem er selbst es verlassen hatte. Wie hatte ihr Bruder nur so viel Wein trinken können?

Auf dem Hinweg hatte er Samuel nicht ausfragen können, weil Vanessa hinter ihnen gegangen war und sie hätte hören können. Sie war trotz der Kälte draußen unterwegs gewesen und hatte sich ihnen an die Fersen geheftet. Vielleicht nur, um sie zu ärgern, vielleicht, weil sie im Versammlungshaus etwas zu essen klauen wollte.

»Hast du Hausarrest, Nathanamehl?«, hatte sie gerufen.

In der Unterstufe war das einer seiner Spitznamen gewesen, aber niemand sonst nannte ihn jetzt noch so. Nathanael hatte nicht geantwortet. Samuel hatte dümmlich gekichert. Dann war sie plötzlich weg gewesen.

Nathanael dachte an das bleiche Gesicht der Mutter am Morgen. Vermutlich hatten sich die Eltern in der Nacht wieder gestritten, nachdem ihre Sorge um Elias nachgelassen hatte. Nathanael hatte nichts gehört, aber das musste nichts heißen. Die Eltern stritten sich oft in der Nacht, im Flüsterton, mit zischenden Lauten. Manchmal hörte man den Vater mit der flachen Hand auf eine Oberfläche schlagen. »Hör auf«, sagte die Mutter dann halblaut.

Nathanael wusste nicht, worüber die Eltern stritten, aber er vermutete, dass die Mutter meistens recht hatte. Wahrscheinlich kamen die Streitereien daher, dass der Vater etwas, was er hätte erledigen sollen, nicht getan hatte. Es gab Tage, da legte er sich auf sein Bett und reagierte auf keine Ansprache. »Er hat eine Laune«, sagte die Mutter dann, »lasst ihn in Ruhe.« Sie tat, als störte es sie nicht, aber sie antwortete den Söhnen in diesen Zeiten nur knapp und verlor schnell die Nerven mit Elias.

Nathanael stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Haus nicht mehr stünde, wenn er heimkam. Wenn Elias es angezündet hätte, aus Rache, weil der Vater ihm eine Ohrfeige gegeben hatte, und er nur noch eine rauchende Ruine vorfände.

Wieso dachte er nur solche Dinge? Elias würde bestimmt verstockt und schweigsam sein, wenn Nathanael heimkam, aber er war nicht so dumm, wie die Eltern immer sagten. Nie würde er sein eigenes Haus anzünden.

Es war kalt, viel länger konnte er nicht mehr hier draußen herumstehen. Vielleicht konnte er in die Schule gehen und dort für eine Weile seine Ruhe haben? Aber auch dort war es am Wochenende eisig, wenn die Feuer nicht brannten. Oder zurück in den Versammlungsraum? Dort bestand allerdings die Gefahr, dass er Hendrik antraf und dieser mit ihm reden wollte.

Zögernd machte er sich auf den Heimweg. Als er an Grubers Haus vorbeikam, überlegte er, anzuklopfen. Doch als er durchs Fenster schaute, sah er keine brennenden Öllampen und keine Bewegung.

Er hörte gedämpfte, schnelle Schritte im Schnee und blieb stehen. Auch das noch. Schon wieder Vanessa. Sie trug einen dicken Wintermantel und mehrere Schals um den Kopf gewickelt. Möglicherweise waren das die Schals, die einige Leute nach der Predigt nicht mehr hatten finden können. Aber er war sich nicht sicher.

»Haben sie dich aus der Schule genommen?«, hörte er Vanessa durch den Stoff fragen. Sie klang nicht mehr so spöttisch wie vorher.

Nathanael blieb stehen.

»Ja«, sagte er.

»Arschlöcher«, sagte Vanessa und zog die Schals etwas nach unten, fort vom Mund.

Nathanael mochte den Klang des Wortes, er unterdrückte ein Lächeln. »Es ist nur für eine Woche«, sagte er.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Vanessa.

»Lass mich in Ruhe«, sagte Nathanael. Was wusste sie schon? Seine Eltern würden sich umstimmen lassen. Jetzt wollte er nach Hause.

Nach ein paar Schritten traf ihn ein Schneeball am Hinterkopf. Es tat nicht weh, sie hatte ihn nicht fest geworfen, und er drehte sich nicht um. Die Kälte drang durch seine Mütze. Als er schließlich doch stehen blieb und sich umdrehte, war niemand mehr zu sehen.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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