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Fieber

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Ludwig sah sich im Licht des frühen Abends durch einen hellgrünen, frisch bepflanzten Park gehen. Er folgte einer Reihe junger Bäume, jeder von ihnen sorgfältig in der dunklen Erde eingegraben und am Stamm von einem zarten Netz umhüllt. Auf einem menschenleeren Spielplatz standen Schaukeln, kleine Häuschen und Wippen aus hellem Holz, fabrikneue Bänke warteten auf Anwohner, die sich im Sommer auf sie setzen würden. Er steuerte auf eines der Hochhäuser zu, die die Grünanlage säumten. Die hohe Glastür war von bronzenem Metall gerahmt und schwang lautlos auf, als er näher kam, sie hatte den Chip in seiner Tasche erkannt. Sie ließ ihn in die hohe Lobby ein. Auch die Lifttür öffnete sich von selbst, als er näher kam. Alles in der Kabine glänzte, das Metall des Bodens und der Wände, der hohe Spiegel. Ohne dass er einen Knopf drücken musste, fuhr der Lift lautlos in den achten Stock. Dort betrat Ludwig einen Gang mit Kirschholzwänden und einem matten Steinboden, der von einem komplex geäderten Muster durchzogen war. Die Tür zu seinem Appartement schwang auf, er ging hinein. Der Parkettboden war aus echtem Holz, das man roch, seine Farbe so matt und pudrig wie das früheste Morgenlicht. Obwohl es draußen noch nicht dunkel war, schaltete sich sanft das Licht ein, wie Musik, die langsam lauter wurde. Indirektes Licht aus vielen Quellen, Designerlampen, eine milder leuchtend als die andere. Eine Wohnküche mit einer frei stehenden Kücheninsel, schimmernde Messer in einem Messerblock aus Glas, zwei Backöfen übereinander, sechs Herdplatten, alles glänzend, als wäre es noch von niemandem berührt worden. Ludwig ging zum Fenster, legte eine Hand auf die Lehne des schwarzen Ledersessels und blickte auf die Gleise weit unter ihm. Er betrachtete die lautlos fahrenden Züge, die blendenden Signallichter. Und erst jetzt begriff er: Er war es, der stehen geblieben war, nicht die Welt. Ludwig stieß sich von der Lehne ab. Er musste sein Leben nachholen, seine Eltern warteten auf seinen Anruf, wahrscheinlich seit Jahren. Er drehte sich in Richtung des Wohnbereichs, wollte zum Telefon stürzen, doch da war kein Raum mehr, keine Lichter, nur Schwärze.

Ludwig schreckte hoch. Sein Hals schmerzte, er tastete nach dem Glas Wasser, das neben seinem Bett stand, und trank gierig.

Ludwig hatte den Unterricht für heute abgesagt. Es konnte nicht spät sein, Licht drang zwischen den Vorhängen hindurch. Er legte sich ein frisches Stofftaschentuch aufs Gesicht und dachte an seine Eltern, die er nie wieder würde anrufen können. Wenn er als Kind krank gewesen war, hatte ihm die Mutter Apfelschnitze gebracht, und er hatte auf dem Flatscreen Comicserien angeschaut, bis er einschlief. Ums Bett herum hatten heruntergefallene Papiertaschentücher gelegen, die irgendwo in einer Fabrik hergestellt und ständig ersetzt und geliefert wurden, sie hatten kaum etwas gekostet. Die Mutter hatte über die Unordnung geschimpft, die Taschentücher aber für ihn eingesammelt. Und sein Vater hatte ihm ein Glas Wasser mit einer Vitamin-C-Brausetablette darin gebracht, die leise zischte.

Wie anders es heute war, krank zu sein. Alles, was er hatte, um wenigstens die Halsschmerzen zu lindern, waren getrocknete Salbeiblätter, welche die alte Selina letzten Sommer gesammelt und vorbeigebracht hatte. Sie rochen nach Staub und schienen nicht zu helfen. Immer, wenn er krank wurde, fürchtete Ludwig um sein Leben. Er sprach mit niemandem darüber, aber wenn er so mit heißem Kopf im Bett lag, betete er. Lass mich leben, lieber Gott. Er betete, dass es ein Virus war und keine bakterielle Infektion, weil er die Vorstellung hasste, an etwas zu sterben, das man in seiner Jugend mit einem einfachen Antibiotikum hätte heilen können. Er betete um Ruhe und Stärke. Wenn er überlebte, würde er Lisa fernbleiben, keinen Wein mehr trinken und Walter für seinen Ratschlag danken. Er würde überhaupt dankbar sein für das Leben, das er hatte.


Ludwig hatte keinen Appetit und nicht einmal Lust, die Hühner zu füttern, obwohl er das sonst gerne tat. Er hörte sie hinter der geschlossenen Tür der ehemaligen Küche gackern.

Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Der Schnee war halb geschmolzen, der Boden von Matsch bedeckt. Alles schien die gleiche graue Farbe zu haben, der Himmel, der Boden, die Häuser, das Gesicht der Nachbarin, die mit gebeugtem Rücken vorbeiging. Sogar das Salz war grau geworden, das hatte er gesehen, als er die Vorräte überprüft hatte, die langsam, aber sicher zur Neige gingen. Bald würde er trotz Fieber nach draußen müssen. Ihm schwindelte. Er setzte sich an seinen alten, zerkratzten Tisch. Hier hatte er Lisa gefragt, ob sie mit ihm fortgehen würde. Er hatte sich vorgestellt, wie Lisa, Sarah und er gemeinsam in einem anderen Dorf ein kleines Haus instand setzten, und dabei einen großen Frieden verspürt. Vielleicht würden sie sogar ein Kind bekommen. Eine kleine Schwester für Sarah.

Lisa hatte ihn zuerst angelächelt, aber dann wurde ihr Gesicht traurig. Ich kann Sarah und ihren Vater nicht voneinander trennen, hatte sie gesagt, und ohne Sarah kann ich auch nicht sein. Kurz darauf hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie sich aus dem Weg gehen müssten.

Und doch hatte sie ihn am Fest wieder nach dem Mond gefragt. Ludwig blickte auf den Mondkalender, der an der Wand hing und jetzt nur noch drei Jahre in die Zukunft reichte. Er hatte die Seiten aus einem Astronomiebuch gerissen und aufgehängt, als er neu in das Haus gezogen war. Damals hatte er noch gedacht, dass der Mond bestimmt wieder klar am Himmel sichtbar sein würde, wenn er zum Ende des Kalenders kam, und dass er dann wissen würde, ob sie im Dorf das Datum richtig geschätzt hatten oder nicht.

Das Leben ist kurz, hatte Lisa einmal gesagt, wie um ihn zu trösten. Aber das stimmte nicht. Alle sagten, dass die Zeit schneller vorbeiging, wenn man älter wurde. Ihm schien eher, dass sie zunehmend stockte. Besonders im Winter, wenn man krank war, aus dem Fenster schaute und zusah, wie unendlich langsam am Morgen der Tag anbrach und wie lange es dauerte, bis der Nachmittag wieder in die Dämmerung überging.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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