Читать книгу Die Erinnerung an unbekannte Städte - Simone Weinmann - Страница 14
Metallladen
ОглавлениеLisa saß hinter der Theke und las. Als Ludwig die Tür öffnete, zuckte sie zusammen und richtete sich auf. »Und, war Vollmond?«, fragte sie.
Ludwig nickte. Er fuhr mit dem Finger die Theke entlang. Er hatte nicht nachgesehen. Ohnehin konnte niemand sicher sein, welcher Tag genau war; ein paar Dörfer weiter waren sie überzeugt, es sei drei Tage später. Lisas Bitte hatte ihn dazu gebracht, wieder darüber nachzudenken, wie man den Kalender genauer machen könnte, etwa, indem man versuchte, die dunkelste Nacht des Monats zu bestimmen. Aber wozu, Lisas Vorstellungen vom Einfluss des Monds waren doch nur dummer Aberglaube.
Die Tür zum Hinterzimmer des Ladens stand halb offen. Auf dem kleinen Tisch lag ein gelb gemustertes Wachstuch, dahinter waren die rostigen Armaturen einer ehemaligen Küche sichtbar. Am Boden stand das Kurbelradio. Leise chinesische Musik, unterbrochen von statischem Knistern, drang aus den Lautsprechern. Ludwig wünschte sich, dort am Tisch sitzen zu dürfen, den ganzen Tag lang. Er würde den Kopf auf das kühle Wachstuch legen und der Musik zuhören, bis es Abend wurde, während Lisa vorn an der Theke las.
»Habt ihr das Fahrrad noch?«, fragte Ludwig, um etwas zu sagen.
»Ja, aber wie du weißt, darf ich es nicht …«
»Ich will es ja nicht kaufen. Nur ausleihen. Ich möchte nächste Woche den Dynamo behandeln.«
Lisa zögerte und nickte dann. Sie verschwand im Hinterzimmer, und Ludwig hörte, wie sie eine Tür aufschloss. Sie kam mit einem großen, verbeulten Mountainbike unter dem Arm zurück. Ludwig nahm es ihr ab. Es war schwerer, als er erwartet hatte, waren Mountainbikes nicht leicht gewesen? Er stellte es auf den Boden. Lisa strich sich den dunklen Rock glatt und richtete ihren Zopf.
»Was für ein Ding«, sagte Ludwig.
Sie lächelte stolz, als hätte sie das Fahrrad selbst gebaut.
Das Hinterrad des Mountainbikes war vollkommen verbogen, und die Speichen waren rostig. Doch das Vorderrad lief noch. Ludwig hob es an und drehte das Rad, die Lampe leuchtete hell. Wie schön es wäre, ein Fahrrad zu besitzen. Ludwig würde damit in andere Dörfer fahren und mit Neuigkeiten zurückkommen, die Lisa überraschten. Oder er würde sie mitnehmen, sie würden immer weiter fahren, bis sie ans Meer kämen, und dort ein Haus bauen.
»Danke«, sagte Ludwig, nachdem Lisa das Fahrrad zurück ins Hinterzimmer getragen und die Tür wieder verschlossen hatte. »Ich hole es in ein paar Tagen.«
»Ist gut«, sagte Lisa und griff nach dem Buch, das vor ihr auf der Theke lag.
»Was liest du?«, fragte er.
»Die Buddenbrooks«, antwortete sie.
Schon wieder, dachte Ludwig. Während der großen Kälte hatte er stapelweise Bücher in den Kamin geworfen und verbrannt. Nur zwei naturwissenschaftliche hatte er aussortiert. Beide lagen seit Jahren in Walters Bibliothek.
Lisa hielt ihm das Buch hin, und er schlug es auf der ersten Seite auf.
»Lisa Wendelin«, las er vor.
Sie richtete sich auf, und Ludwig merkte, dass er mit seiner Lehrerstimme gelesen hatte wie vor der Klasse, wenn er die Anwesenheitsliste prüfte. Lisa hatte ihren Mädchennamen mit runden Buchstaben hineingeschrieben, bestimmt noch als Schülerin. Wahrscheinlich hatte sie das Buch auf der Flucht mitgeschleppt. Wieso hatte er sie nicht schon damals kennenlernen können? Jetzt trug sie Michaels Namen, Schmid. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Es war wie eine Tarnung, die sie sich übergestülpt hatte.
Weiter unten war eine Strichliste eingezeichnet, neun Fünferblocks und ein angefangener Block mit vier Strichen. Das Lesezeichen steckte fast am Ende des Buches zwischen den Seiten, bald würde sie auch den letzten Block durchstreichen können.
»Nächstes Jahr werde ich es Sarah zum Lesen geben«, sagte Lisa.
Ludwig nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sich Sarah auf solch ein langes Buch würde konzentrieren können. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet Lisas Tochter so unbedarft von der Schule gehen würde. In letzter Zeit arbeitete sie immer weniger mit.
»Wie geht es dir?«, fragte er schließlich.
»Ich habe schlecht geschlafen. Muss der Vollmond sein.«
»Ich auch.« Ludwig schaute Lisa lange an. Sie lächelte. Also doch.
Die Tür ging auf, kalte Luft kam ins Innere. Es war Urs.
Er wandte sich an Lisa: »Hast du die Ersatzschrauben gefunden?«
Lisa griff unter die Theke und holte eine Tüte mit Schrauben hervor. »Es sind nur fünf, und eine wird nicht ganz passen, die musst du noch abschleifen.«
Urs nahm die Schrauben entgegen. »Danke. Warum bist du letzte Woche nicht zur Dorfversammlung gekommen?«, fragte er.
»Hat Michael mich nicht entschuldigt?«
»Doch«, sagte Urs. »Aber ich wäre froh gewesen um eine weitere Stimme gegen Hendriks Vorschlag.«
»Du musst ihn ja nicht umsetzen«, sagte Ludwig.
Hendrik hatte wieder einmal darum gebeten, dass Urs bei der Zentrale vorstellig werden sollte, um finanzielle Unterstützung für die Kirche zu holen. Sie täten so viel für die Gemeinschaft, und früher hätte es ja auch die Kirchensteuer gegeben. Und obwohl die Mehrheit der Versammlung dafür gewesen war, hatte Urs gesagt, es stünde außer Frage, die Zentrale erneut damit zu behelligen.
»Ja, aber es sieht besser aus, wenn zumindest ein paar von euch auf meiner Seite sind. Zumal nun sogar Sina gegen mich stimmt.«
Urs hob die Hand zum Gruß und verließ den Laden, die Tüte in der Hand.
»Der hat’s auch nicht immer leicht«, sagte Ludwig.
Lisa schüttelte den Kopf. »Mir wär’s lieber, die Zentrale würde die Religiösen unterstützen. Wenn die bei uns klopfen, fühlen wir uns jedes Mal verpflichtet, etwas zu geben. Sarah und Michael gehen doch auch oft zu den Betabenden.«
Ludwig zuckte mit den Schultern. Er gab ebenfalls meistens etwas, dem Frieden zuliebe, aber er hatte gegen Hendriks Vorschlag gestimmt.
Ludwig ging zügig an den Reihenhäusern vorbei, die die Hauptstraße des Dorfes säumten. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Die frühere Ähnlichkeit der Häuser miteinander war noch erkennbar, alle hatten denselben kleinen Balkon links oben. Ansonsten war ihr Zustand sehr unterschiedlich. Einige standen leer und hatten eingestürzte Dächer und rußgeschwärzte Wände. Bei den anderen waren die Ziegeldächer mit Steinen und Kotflügeln von Autos ausgebessert. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Putz blätterte überall von den Wänden, und das Holz, das die Fassaden schmückte, war dunkelbraun und verzogen. Rauch stieg aus einigen Kaminen.
Er ging schnell weiter, am Schulhaus vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen, über die Kreuzung, in deren Mitte ein riesiger Spalt den Asphalt aufriss, und dann eine steile Quartierstraße entlang den Hügel hinauf. Auch hier standen Reihenhäuschen, die meisten leer und verfallen. Die Hausmauern waren von den Spuren zerplatzter Wasserleitungen gezeichnet, die den Putz aufgerissen hatten. Schnee lag in den ehemaligen Wohnzimmern. In einem hing noch ein Bild an der Wand, aber was einmal darauf abgebildet gewesen war, war nicht mehr zu erkennen. Im Haus am oberen Ende der Straße wohnte Anna mit Vanessa. Aus ihrem Schornstein stieg kein Rauch, vielleicht schliefen sie noch.
Ludwig ging an dem Haus vorbei und gelangte auf den Feldweg zwischen den Wiesen. Die kalte Luft hatte sein Kopfweh nicht verscheucht. Er blieb stehen und sah vom Hügel auf das Dorf hinunter. Ludwig wusste genau, wer wo wohnte, wer krank war und wer gesund, wer wie viele Kinder hatte und wer sich mit wem stritt. All die Probleme, all die kleinen Entscheidungen, die Dramen. Nie hatte er so leben wollen. Als Student hatte er von New York geträumt, von einem Loft mit unverputzten Wänden und Sirenengeheul in der Nacht, wo man die Nachbarn nicht kannte und jeder tat, was er wollte. Er hätte gerne in einem Großkonzern gearbeitet, mit spiegelnden Fassaden und Glasliften, eine dünne Krawatte getragen und viel Geld verdient, zumindest für ein paar Jahre.
Das Haus, in dem Lisa mit Michael und Sarah wohnte, war von hier aus nicht zu erkennen. Auf Petras Haus hingegen hatte er einen freien Blick, es war eines der größten im Dorf. Er sah vor sich, wie Nathanael im Dachzimmer heimlich über den Hausaufgaben brütete, wie seine Mutter ihn dabei erwischte und ihm eine Ohrfeige verpasste. Er spürte das Echo des Schmerzes in der Wange und schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht in diese Geschichte verstricken lassen.
Im Metallladen brannte schwaches Licht, Lisa musste eine Kerze angezündet haben. Ludwig drehte sich um und ging weiter. Er stellte sich vor, das Dorf hinter ihm versänke in metertiefem Schnee. Als er den Wald betrat, huschte vor ihm ein Fuchs über den Weg.