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I WINTER Anatomie

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Augenlieder mit ie. Schon wieder ein Rechtschreibfehler im heiligen Text. Nathanael blickte zwischen der Vorlage und seiner Abschrift hin und her. Er hatte das Wort unwillkürlich richtig geschrieben. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Jetzt würde er die letzten Buchstaben mit dem kleinen brüchigen Gummi ausradieren müssen, was schwierig war, weil das Papier leicht zerriss. Erst ein paar Zeilen weiter oben hatte er eine der Markierungen korrigieren müssen und beinahe ein Loch ins Papier gemacht. Eine fehlplatzierte Unterstreichung, und der Text war entweiht, weil der Vorleser dann an der falschen Stelle die Hände zum Himmel hob. Aber warum man auch die Schreibfehler beibehalten musste, hatte er nie verstanden.

Nathanael legte den Stift und den Radiergummi hin, stand auf und streckte sich. Durch das kleine Fenster des Dachzimmers sah er auf die verschneite Straße. Sie war voller Fußspuren, aber menschenleer. Schnee lag auf den Dächern und zwischen den Mauern der verfallenen Häuser. Im ersten Stock des Hauses gegenüber bewegte sich hinter den Fenstern ein schwaches Licht. Jemand war mit einer Kerze unterwegs, obwohl es bald Mittag sein musste, so trübe war der Tag. Vielleicht Sarah. Ob sie die Öllampe auf seinem Pult auch flackern sah?

Nathanael hörte die schnellen Schritte der Mutter auf der Treppe, dann klopfte es. Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür. Die Mutter trug eine weiße Schürze über ihrem langen dunklen Kleid. Vom Kochen hatte sie Flecken auf den Wangen.

»Bist du fertig? Das Essen ist gleich so weit.«

»Noch nicht.«

»Erst auf Seite 38? Was stehst du da am Fenster und trödelst?«

Nathanael schwieg.

»Ich werde dir das Mittagessen beiseitestellen.«

»Kann ich nicht nachher weiter abschreiben?«

Zwischen den Brauen der Mutter erschien eine steile Falte. »Nein. Die Prophetin zählt auf uns.«

Die Prophetin kümmerte es bestimmt nicht, ob Nathanael die Abschrift heute oder morgen fertigstellte. Sie hatte sich in den Wald zurückgezogen, und wer wusste schon, was sie dort tat. Aber er hatte sich vorgenommen, der Mutter zu gehorchen oder zumindest so zu tun.

Die Mutter schloss die Tür wortlos. Nathanael setzte sich ans Pult und nahm den Stift in die Hand, legte ihn dann aber doch wieder weg. Er streifte seinen rechten Schuh ab, krallte seine Zehen in den Griff der untersten Schublade und zog sie auf. Hier hatte er das Buch aufbewahrt.

Auf dem Titelbild war ein Mensch ohne Haut abgebildet gewesen, mit braunen Muskeln und blauen Adern. Aber am besten hatte ihm die Doppelseite über das menschliche Herz gefallen. In der Mitte prangte ein schön gezeichnetes rosafarbenes Herz, das vom Seitenfalz durchteilt wurde. Eine kleine Fotografie unten links zeigte eine Operation am offenen Herzen. Die Chirurgen trugen Kittel und Kappen in blassem Grün und enge Handschuhe. Durch Brillen mit kleinen aufgesteckten Zylindern blickten sie in die klaffende Wunde, die mit einem Metallgestell offen gehalten wurde. Ein Chirurg tippte mit einem Stift in die Mitte der Wunde, als setzte er dazu an, ein Wort ins Herz zu schreiben.

Wenn er nur das Bild noch einmal anschauen könnte. Aber er würde das Buch nie wieder in die Hände bekommen. Als die Mutter damit zur Schule geeilt war, war Nathanael ihr gefolgt. Sie war wie von unsichtbaren Fäden gezogen die Treppe hinaufgestiegen, Nathanael hatte kaum mit ihr Schritt halten können. Dann hatte sie die Tür zum Lehrerzimmer aufgerissen und Gruber das Buch vor die Füße geworfen wie etwas Verseuchtes, das sie in ihrem Haus gefunden hatte. Nathanael schob die Schublade mit dem Fuß wieder zu. Er hatte sich für die Mutter geschämt, wie sie Gruber angeschrien hatte. Der Lehrer hatte ihr ruhig zugehört, ohne das Gesicht zu verziehen. Schließlich hatte die Mutter tief durchgeatmet und gesagt, dass ihr Sohn keinen Tag länger in die Schule gehen würde.

Nathanael legte das Handgelenk an sein rechtes Ohr, die Ohrmuschel war kalt. Er trug einen Schal und zwei Pullover. Trotz der niedrigen Temperaturen, die im Dachzimmer herrschten, war er immer gerne in diesem wenig benutzten Raum gewesen, um Hausaufgaben zu machen, hier hatte er seine Ruhe vor Samuel und Elias. Aber heute wollte er nur nach draußen, auf die Straße, eisige Winterluft einatmen, die im Hals schmerzte.

Am Abend, nachdem die Eltern ihn aus der Schule genommen hatten, war Nathanael übel geworden. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sich zwischen Bauch und Rippen etwas eingeklemmt. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und keinen Bissen heruntergebracht. Es hatte ihm Angst gemacht, aber er hatte kein Fieber und die Mutter machte sich keine Sorgen. »Gott wirkt in dir«, sagte sie. Nathanael ärgerte sich so sehr darüber, dass er sich vornahm, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er doch wieder damit angefangen, und auch das schrieb sie natürlich Gottes Einfluss zu.

Gott, dachte Nathanael. Er macht, dass mir übel ist und dass ich wieder mit der Mutter spreche. Aber Rahel wollte er nicht retten.

»Als ich jung war, hat kaum jemand an Gott geglaubt«, hatte Gruber einmal gesagt. Nathanael konnte sich das nicht vorstellen. Er nahm den Stift wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen im Evangelium.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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