Читать книгу Die Erinnerung an unbekannte Städte - Simone Weinmann - Страница 8
Schulzimmer
Оглавление»Die Oortsche Wolke«, sagte Ludwig Gruber. »Da kommen die Kometen her. Das haben wir doch gestern alles besprochen.«
Seine Klasse schlief so früh am Morgen noch, sie war ganz still, auch wenn die meisten Augen täuschend weit geöffnet waren. Draußen dämmerte es.
Aus dem Dorfbrunnen war heute kein Wasser gekommen. Ludwig hasste das Gefühl von ungewaschenen Händen, er wischte sie zum wiederholten Mal an den Seiten seiner Hosen ab. Er schwieg, die Klasse schwieg. Niemand schien sich an dem Schweigen zu stören. Ludwig blickte auf seine Schuhe. Das Leder war von der Kälte rissig geworden, und an einer Stelle begann sich die Sohle zu lösen.
»Nehmt das Buch heraus«, sagte er.
Sekunden verstrichen, bevor der erste Schüler sich rührte, die anderen folgten ihm traumwandlerisch. Wenn sie eine Bewegung nachahmen konnten, mussten sie keine Worte verstehen. Die Bücher waren alt, eines fiel beim Öffnen auseinander. Der Schüler, dem es gehörte, bückte sich ächzend nach den losen Seiten und begann zu husten. Schon den ganzen Winter lang hustete er so.
Während die Schüler das Kapitel lasen oder die aufgeschlagene Seite anstarrten, schaute Ludwig aus dem Fenster. Der Himmel begann von unten hell anzulaufen, es sah aus, als stiege ein Licht hinter einer milchigen Scheibe auf. Ludwig wandte sich zurück zur Klasse, sein Blick fiel auf den leeren Platz am verkratzten Pult vorn links, wo Nathanael gesessen hatte.
»Es ist so langweilig«, flüsterte Sarah ihrer Banknachbarin zu und schaute Ludwig aus trüben Augen an. »Beim Dorffest werden wir …«, und dann wurde ihre Stimme so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Immer dieses Dorffest. Es war das Einzige, was die Schüler in der Winterzeit aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte. Sie waren schon vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und würden die Schule bald für immer hinter sich lassen.
Eine leise Unruhe erfasste die Klasse und ging zwischen den Pulten umher wie eine Person. Ludwig räusperte sich. »Wer fertig ist, beginnt mit den Hausaufgaben. Schreibt eine Seite über Kometen.« Jemand seufzte laut.
Es knallte. Vanessa hatte Peter mit einem zusammengerollten Heft auf den Kopf geschlagen und huschte zurück an ihren Platz. Einige schrieben jetzt mit kratzenden Geräuschen. Peter lächelte, als wäre er glücklich über Vanessas Angriff. Dabei hielt er den Mund geschlossen, sodass seine schiefen Zähne nicht zu sehen waren. Ludwig machte ein paar Schritte auf Vanessas Pult zu und blickte auf ihr Papier. Sie hatte einen Satz geschrieben, ließ aber jetzt ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin- und herwippen und gab vor, Ludwig nicht zu bemerken. Ihre weißblonden gelockten Haare fielen ihr über die Schultern wie ein Umhang, sie sahen ungekämmt aus.
Sarah hatte noch gar nichts geschrieben, sie hatte den Kopf auf die Bank gelegt und die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hin und berührte mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an. »Du musst mitarbeiten«, sagte er leise.
Als er sich wieder ans Lehrerpult setzte, sah er, dass Sarah sich aufgerichtet hatte und ihn immer noch fixierte, als versuche sie sich zu erinnern, was der Auftrag war. Dann schaute sie aufs Blatt und begann etwas zu kritzeln, das sie mit ihrer Hand vor seinem Blick schützte, wahrscheinlich zeichnete sie etwas.
Ludwig schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile hatte der Himmel die Farbe angenommen, die er an wolkenlosen Tagen hatte, das gebrochene Weiß eines Mehlteigs. Der Schulhof darunter sah aus wie neu, die Risse im Asphalt waren unter dem Schnee verschwunden.
Es dauerte nur eine kurze Weile, bis die Klasse merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen war. Die Schreibgeräusche erstarben. Jemand kicherte. Ludwig dachte an die Kometen, die weit weg ihre stillen Bahnen durch das Weltall zogen. Dann wandte er sich der Klasse zu.