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Plastik

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Nathanael streifte seine Schuhe und seine Jacke ab, betrat das Wohnzimmer und warf seine Tasche auf den Boden.

»Willst du, dass sich jemand den Hals bricht?«, fragte die Mutter. »Nimm die Tasche da weg.«

Sie saß mit Elias am Stubentisch, vor ihnen ein Blatt mit Rechenaufgaben. Wie ungerecht sie war. Ihn nahm sie von der Schule und Elias half sie beim Rechnen.

Nathanael hob die Tasche wieder auf, er spürte darin das Gewicht des Buches, das Hendrik ihm ausgeliehen hatte. Praktische Theologie.

»Ich hasse Hendrik«, sagte er.

»Was fällt dir ein!«, rief die Mutter. »Hendrik ist der gütigste Mensch, den ich kenne.«

»Ich hasse sein Büro und ich hasse seine dummen Bücher.«

»Ich warne dich«, sagte die Mutter.

Elias begann zu lachen. Die Mutter beachtete ihn nicht. Wieso konnte sich Elias alles erlauben? Nathanael wusste nicht einmal, ob Elias sich über ihn oder über die Mutter lustig machte.

»Geh auf dein Zimmer und denk nach, wie du weitermachen willst«, sagte die Mutter. »Du kannst auch zu deinem Vater in die Lehre gehen und Metzger werden. Elias, fang noch mal von vorn an.«

Nathanael schleppte sich die Treppe nach oben in sein Zimmer und schleuderte die Tasche mit dem Buch in eine Ecke. Er hoffte, dass es dort zu Staub zerfallen würde, es war sowieso schon alt. Wie eintönig und anstrengend das Leben geworden war, seit er nicht mehr in die Schule durfte.

Jetzt gab es nur noch Hendrik. Zu Beginn war er ja noch ganz freundlich gewesen. Doch mit jeder kritischen Nachfrage Nathanaels verlor er ein wenig mehr die Geduld. Heute hatte er gesagt, Nathanael müsse sich selbst auseinandernehmen und dann von Grund auf neu erschaffen, und dass er das immer schon gewusst habe, schon damals, als Nathanael ein kleiner Junge gewesen war und seinen Eltern nicht gehorcht hatte. Es fiel Nathanael schwer, das von sich zu weisen. Vielleicht erkannte Hendrik wirklich etwas in ihm, das schon immer da gewesen war. Er hatte etwas Kaltes an sich, das wusste Nathanael, etwas, das es möglich machte, dass er seinen Kinderglauben verloren hatte und dass er seine Eltern manchmal für ihre tiefe Religiosität verachtete. Seine eigenen Eltern. Nathanael legte sich aufs Bett. Er schaute an die Decke und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Weinen half nicht.

Die Mutter machte die Tür auf und blieb im Türrahmen stehen. Nathanael studierte die Schatten an der gemaserten Zimmerdecke. Vielleicht würde sie wieder gehen, wenn er sich nicht rührte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie eintrat.

»Hör zu«, sagte sie und blieb auf halbem Weg zwischen Tür und Bett stehen. »In der ersten Zeit nach dem Tag Null waren Vater und ich ständig am Rand der Verzweiflung. Es gab nicht genug zu essen und es war kalt. Der Himmel war viel dunkler als jetzt. Eines Tages klopfte es an unsere Tür. Da warst du gerade zwei Jahre alt. Es regnete in Strömen. Draußen stand Hendrik, halb verhungert, triefnass. Mit Armen, so dünn wie die eines Kindes. Doch seine Augen strahlten. Er sprach von Gott und der Prophetin, von der ich damals noch nie gehört hatte, und ich spürte, dass sich unser Leben verändern würde. Ich ließ ihn herein, gegen Vaters Protest. Hendriks Hände glühten.«

»Ich weiß«, sagte Nathanael. Diese Geschichte hatte er schon tausend Mal gehört. Früher hatte er sich vorgestellt, dass die Hände des Predigers im Halbdunkel leuchteten, wie kühles Feuer, aber heute glaubte er nicht mehr daran. Hendrik hatte die Abschrift des Evangeliums bei sich getragen, in Plastik eingepackt. Die Mutter bewahrte die Plastikhülle bis heute auf, sie lag im schönen Schrank in der Küche. Die Abschrift selbst, verschmiert und jedes Jahr weniger lesbar, weil die Leute sie gerne berührten, lag in einem Holzschrein im Versammlungsraum.

»Wir haben sein Leben gerettet«, sagte die Mutter. »Und er unsere Seelen.«

»Ich weiß«, sagte Nathanael wieder. Wieso konnte sie nicht gehen und ihn in Ruhe lassen?

»Sei ihm dankbar, Nathanael, gerade du solltest ihm dankbar sein«, sagte sie. »Wir wollten aufgeben. Wir dachten, es gäbe keine Zukunft. Vater und ich hatten entschieden, dich auszusetzen. Besser, als zu dritt zu verhungern.«

Jetzt wandte Nathanael den Kopf der Mutter zu. Ihre Stirn war voller Falten, noch nie hatte sie so alt ausgesehen. Nathanael packte ein solcher Zorn auf diese Frau, die sich andauernd in sein Leben einmischte und ihn bevormundete, dass er kaum atmen konnte.

Hendrik hatte recht. Er war nicht fähig zu lieben. Er liebte nicht einmal die eigene Mutter. Sie hätte ihn also ausgesetzt, wenn Hendrik nicht gekommen wäre. Oder log sie ihn nur an, um ihn dazu zu bringen, Hendrik zu mögen? Er wusste nicht, was schlimmer wäre.

Du bist ein oberflächlicher Mensch, hatte Hendrik gesagt, oberflächliche Menschen kommen leicht vom Glauben ab. Vielleicht stimmte es. Und wenn schon. Nathanael drehte seinen Kopf mit einem Ruck wieder zur Wand. Er hasste Hendrik und die Mutter gleichermaßen. Die Mutter sagte nichts mehr. Schließlich hörte er sie davongehen.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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