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Aspekte der Disparität
ОглавлениеZu der Reihe von Begriffen, die sich selbst als die Herren-Signifikanten des dialektischen Materialismus2 anbieten (wie Negativität, Parallaxe und so weiter) sollte man auch die Hegel’sche Ungleichheit hinzufügen – jedoch nicht als solche, sondern in Form des Begriffs der Disparität, entsprechend dem englischen Ausdruck disparity. Dieser ist eine der vorgeschlagenen Übersetzungen von „Ungleichheit“ – und hier funktioniert die Übersetzung ausnahmsweise einmal besser als das Original. (Warum? Das zeigt die folgende Liste der Konnotationen von „Parität“, verneint durch „Un-“ bzw. „Nicht-“: Entsprechung, Übereinstimmung, Äquivalenz, Einheitlichkeit, Gemeinsamkeit, Ähnlichkeit, Gleichförmigkeit, Parallelität, Kongruenz.) Auf ihrer elementarsten Ebene verweist die Disparität auf ein Ganzes, dessen Teile nicht zusammenpassen, sodass es als ein künstlich Zusammengesetztes erscheint, dessen organische Einheit für immer zerstört ist. Stellen wir uns einen lebenden und auf den ersten Blick ganz natürlich scheinenden Körper vor. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass er ein Bein oder einen Arm aus Metall hat, dass eines seiner Augen aus Glas ist, dass die Zähne in seinem Mund Teil einer künstlichen Prothese sind und so weiter. Die Totalität, welche die Glieder vereint, ist eine unechte Totalität, eine falsche Ganzheit: eine Verbindung aus Elementen, die, wenn sie zusammengefügt werden, ein organisches Ganzes vortäuschen, während sich durch eingehende Analyse leicht zeigen lässt, dass sich in ihrem Zusammenschluss eine Art klassifikatorische Verwirrung oder ein entsprechender Kurzschluss ausdrückt. Die Glieder gehören nicht wirklich zusammen. Dabei bleibt allerdings verdeckt, dass es im Grunde nur ein Element und seine Lücke gibt (die Leere dessen, was diesem Element fehlt, sein symmetrisches Gegenstück). Bei dem zweiten Element handelt es sich um einen heterogenen Eindringling, der die Leerstelle füllt. Nehmen wir an, es gibt keine höhere umfassende Einheit von Theologie und moderner Wissenschaft, sodass man sagen könnte (wie es Neo-Thomisten gerne tun), dass die Wissenschaft sich mit der endlichen materiellen Realität befasst, wohingegen die Theologie den umfassenderen Rahmen des unendlichen Absoluten bereitstellt, welches die endliche Realität begründet. Als Papst Johannes Paul II. Stephen Hawking empfing, wandte er sich angeblich wie folgt an ihn: „Wir sind uns durchaus einig, Herr Astrophysiker. Was nach dem Urknall geschieht, fällt in ihr Ressort, was davor geschah, in unseres.“ Selbst wenn dieser Austausch in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat, so trifft er doch offenbar den richtigen Punkt – se non e vero, e ben’trovato –, aber tut er das tatsächlich? Haben wir es hier nicht vielmehr mit einem Fall einer falschen Ganzheit zu tun? Als der Papst behauptete, die Wissenschaft befasse sich mit dem Geschehen nach dem Urknall, die Theologie mit dem davor, setzte er einen gemeinsamen Raum voraus, in dem die Theologie sich mit der einen Seite befasst und die Wissenschaft mit der anderen. Genau das aber funktioniert nicht. Eine solche Synthese ist ein Schwindel. Die Leerstelle dessen, was vor dem Urknall geschah, lässt sich nicht durch Theologie ausfüllen, sie ist eine dem wissenschaftlichen Raum immanente Leerstelle, mit der sich ausschließlich die Wissenschaft befassen und entsprechende Vorschläge machen kann. (Und genau das tut die Quantenkosmologie: Es gibt bereits alternative Theorien des Universums, nach denen der Urknall nicht den absoluten Anfang bildete, da unser Universum dem endlosen Rhythmus von Zerfall und Geburt [„Urknall“] folgt.) Anders gesagt, sprechen wir in den beiden Fällen schlichtweg nicht über denselben Urknall.
Nach Lacans Auffassung ist die Geschlechterdifferenz auf ebendiese Weise eine falsche Einheit der Gegensätze: Mann und Frau sind nicht die beiden Hälften eines organischen Ganzen oder zwei entgegengesetzte Prinzipien oder Kräfte, deren ewiger Kampf unser Universum zum Leben erweckt. Mann und Frau befinden sich nicht auf der gleichen ontologischen Ebene, sie sind nicht zwei Spezies derselben Gattung. Das ursprüngliche Paar bilden vielmehr die Frau und die Leere (oder der Tod wie in „Der Tod und das Mädchen“) und dann erst kommt der Mann. Er füllt die Leerstelle aus und bringt so ein Ungleichgewicht ins Universum. Maos „Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels“ sollte daher keineswegs so verstanden werden, dass der Mann die andere Hälfte trägt. Es bedeutet vielmehr, dass die andere Hälfte leer ist – und als solche eine Quelle von Unordnung. Folglich sollten wir Maos Behauptung im Zusammenhang mit seiner berühmten Äußerung „Die Welt ist in Unordnung: Die Lage ist ausgezeichnet“ lesen.
Denken wir an die alte jüdische Geschichte von Jakob, der sich in Rahel verliebte und sie heiraten wollte; sein Vater aber wollte, dass er Rahels ältere Schwester Lea heiratete. Damit Jakob nicht von seinem Vater oder von Lea getäuscht werden konnte, vereinbarte Rahel mit ihm, wie er sie nachts im Bett erkennen konnte. Bevor es jedoch dazu kam, fühlte Rahel sich schuldig gegenüber ihrer Schwester und teilte ihr mit, welches Zeichen sie verabredet hatten. Was aber, so fragte Lea sie, wenn er meine Stimme erkennt? Daraufhin beschlossen sie, dass Rahel sich unter das Bett legen und, während Jakob mit Lea schlief, die entsprechenden Geräusche machen würde, damit er nicht bemerkte, dass er mit der falschen Schwester Sex hat. Hier haben wir eine unerwartete Version von Lacans il n’y a pas de rapport sexuel: Es reicht nicht, einen Mann und eine Frau dazu zu bringen, es im Bett miteinander zu tun. Damit dies irgendwie funktionieren kann, braucht es eine Stimme, die von jemandem ausgeht, der unter dem Bett verborgen ist. Etwas formal Ähnliches ereignet sich in einer denkwürdigen Passage gegen Ende des ersten Kapitels von Marcel Prousts Die Welt der Guermantes, dem ersten Band seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Zum ersten Mal spricht Marcel (der Erzähler) mit seiner Großmutter am Telefon; die Stimme, die er hört, wird von der „natürlichen“ Gesamtheit des Körpers subtrahiert, zu dem sie gehört und aus dem sie als ein eigenständiges Partialobjekt hervortritt, als Organ, das magischerweise ohne den Körper, dessen Organ es ist, fortbestehen kann – Marcel ist es, als habe er die Stimme „allein vor [sich], ohne die Maske des Gesichts“. Was widerfährt aber dem Körper, wenn er von seiner Stimme getrennt wird, wenn die Stimme von der Ganzheit der Person subtrahiert wird? Für einen kurzen Augenblick sehen wir eine „dem Phantasma des affektiven Sinnzusammenhangs beraubte Welt, eine aus den Fugen geratene Welt“.3 Marcel erscheint die Großmutter außerhalb des phantasmatischen Bedeutungsrahmens, außerhalb der reichen Textur des warmen, liebenswerten Menschen, der sie ist – auf einmal sieht er sie „rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend und mit etwas wirrem Blick über ein Buch hingleitend, eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte“. Auch hier gelangt man nur durch Aufbrechen der organischen Einheit der Großmutter, durch Subtraktion ihrer Stimme von ihrem Körper, zu dem, was sie „wirklich ist“.4
Psychoanalytisch gesprochen, stellt Proust in dieser Szene dar, was Lacan als „Separation“ bezeichnet, als Separation von einem Objekt (in dem Fall der Großmutter) und dem, „was in ihm mehr ist als es selbst“, dem objet petit a als dem dezentrierten Kern seines Seins. Was also, wenn wir die Separation (in ebendieser Lacan’schen Bedeutung) analog zur Milchtrennung verstehen, bei der die Milch in einen Separator gefüllt wird, eine Schleudervorrichtung, die den Rahm von der übrigen Milch trennt? Auf entsprechende Weise ermöglicht der Separationsanalytiker es dem Analytiker, den Rahm (das Objekt a) von der gewöhnlichen Realität „abzuscheiden“, die, nachdem sie entrahmt wurde, in ihrem ganzen grauen Elend sichtbar wird.
Die eigentlich philosophische Lektion dieser lächerlichen Peripetien ist äußerst wichtig: Die organische („unmittelbare“, wie Hegel sich ausgedrückt hätte) Einheit eines Phänomens ist zwangsläufig eine Falle, eine Täuschung, die tieferliegende Antagonismen verdeckt. Die einzige Möglichkeit, zur Wahrheit zu gelangen, besteht darin, diese Einheit schonungslos in Einzelteile zu zerlegen, damit sichtbar wird, dass es sich bei ihr um etwas Künstliches und Zusammengesetztes handelt. Dies gilt von der Personenebene (damit Marcel die Wahrheit über seine Großmutter erkennen kann, muss er seine Erfahrung der Einheit ihrer Persönlichkeit auseinandernehmen und zerstören, indem er sie in eine eigenständige obszöne Stimme und den ekelhaften körperlichen Rest scheidet) bis zur Gesellschaftsebene (die organische Einheit eines Sozialkörpers muss durch die Scheidung in Klassen zerstört werden). Für die begriffliche Ebene heißt das, die Wahrheit ist auf der Seite der Abstraktion, Reduktion und Subtraktion und nicht auf der Seite der organischen Ganzheit. Die wiederhergestellte Einheit, die „Synthese“ einseitiger Abstraktionen, bleibt auf der Abstraktionsebene und kann eigentlich nur als eine monströse Montage, ein nichtorganisches Ganzes erscheinen, das Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Frankensteins Monster hat. Einer der üblichen Vorwürfe gegen Hegel lautet, dass die Selbstbewegung der Begriffe in einem dialektischen Prozess nur eine künstliche Abstraktionsbewegung sei und keine eigentliche organische Bewegung – das stimmt, allerdings ist dies eben genau der Punkt bei Hegel.5
Es ist das ontologische Axiom der Disparität, dass eine solche disparate Struktur universell und konstitutiv für die Realität ist (beziehungsweise für das, was wir als solche erfahren): Die Realität, die wir erfahren, ist niemals „alles“; damit die Illusion des „alles“ entstehen kann, muss sie um ein disparates künstliches Element ergänzt werden, das ihre Leerstelle beziehungsweise ihr Loch ausfüllt, wie bei einer Filmkulisse, die aus „wirklichen“ Elementen (Bäumen, Tischen, Wänden) zusammengesetzt, aber mit einem gemalten Hintergrund versehen wurde, der die Illusion schafft, dass wir uns in einer „realen“ Außenwelt befinden. Der erste Philosoph, der das klar gesehen hat, ist Kant: Die Realität, die wir erfahren, ist nicht-alles, inkonsistent, wir können kein Alles aus ihr machen, ohne in Antinomien zu geraten. Darum besteht die einzige Möglichkeit, die Realität als konsistentes Ganzes zu erfahren, darin, sie durch transzendentale Ideen zu ergänzen.
Das Gesagte gilt selbst auf der intimsten Ebene persönlicher Erfahrung. Wenn ein Subjekt mit einem äußerst intensiven Geschehen konfrontiert wird (brutaler Folter, absolutem Ekel, einem Übermaß an jouissance), kann es dieses nicht als Teil seiner normalen Realität annehmen, und folglich erlebt es einen Realitätsverlust. Darum berührt die jouissance die Grundlagen dessen, was man als psychoanalytische Ontologie bezeichnen möchte. Die Psychoanalyse stößt auf die ontologische Grundfrage, warum es etwas gibt und nicht nichts, im Zusammenhang mit der Erfahrung des Realitätsverlusts, wenn irgendein traumatisches, überaus heftiges Zusammentreffen das Subjekt in seiner Fähigkeit beeinträchtigt, die Seinslast seiner Welterfahrung ganz auf sich zu nehmen. Lacan stellte vom Beginn seiner Lehre an den inhärent und nicht reduzierbaren traumatischen Status der Existenz heraus: „Jede Existenz hat per definitionem etwas derart Unwahrscheinliches, daß man in der Tat fortwährend über ihre Realität mit sich zu Rate gehen muß.“6 Später, nach der entscheidenden Wende in seiner Lehre, macht er die Existenz („als solche“, möchte man hinzufügen) an der jouissance als dem eigentlich Traumatischen fest, dessen Existenz sich mithin niemals ganz annehmen lässt und das deshalb für immer als gespenstisch, präontologisch wahrgenommen wird. Auch hier besteht eine sehr wichtige Verbindung zu Kant: Um etwas als Teil unserer Realität erfahren zu können, muss es in den Rahmen passen, der die Koordinaten unserer Realität festlegt; Kants Bezeichnung für diesen Rahmen ist transzendentales Schema, sein psychoanalytischer Name ist Fantasie oder Phantasma. Deshalb steht die Fantasie von einem streng freudianischen Standpunkt aus betrachtet auf der Seite der Realität; sie stützt den „Realitätssinn“ des Subjekts: Wenn der phantasmatische Rahmen auseinanderfällt, erlebt das Subjekt einen „Realitätsverlust“ und fängt an, die Realität als ein „irreales“ und entsprechend beklemmendes Universum ohne festen Seinsgrund wahrzunehmen. Dieses alptraumhafte Universum – das Lacan’sche Reale – ist keine „reine Fantasievorstellung“, sondern im Gegenteil das, was von der Realität bleibt, wenn ihr die Unterstützung durch die Fantasie entzogen wurde. Oder, wie es bei Cavell mit atemberaubender Präzision heißt:
Einer dürftigen Auffassung nach ist die Fantasie eine Welt abseits der Realität, eine Welt, die eindeutig ihre Irrealität erkennen lässt. Die Fantasie ist gerade das, womit man die Realität verwechseln kann. Es ist die Fantasie, die unsere Überzeugung begründet, dass die Realität Geltung hat; würden wir unsere Fantasie aufgeben, würden wir unsere Verbindung mit der Welt aufgeben.7
Anders gesagt ist das, was wir als Realität erfahren, immer schon zurechtgestutzt, gefiltert; irgendeine Dimension ist von ihr ausgeschlossen und kann nur als Fiktion erscheinen, als „nicht zu unserer Realität gehörig“. Sagen wir einmal, ich sei gezwungen mitanzusehen, wie jemand schwer gefoltert wird – es ist unmöglich für mich, das Geschehen als Teil meiner Realität wahrzunehmen. Ich muss mir selbst sagen, dass dies unmöglich wirklich geschehen kann, dass ich ganz sicher träume etc. Obgleich also die Folterszene „objektiv“ zur selben Welt gehört, in der ich tagtäglich lebe, muss ich sie „als Fiktion behandeln“, um sie aushalten zu können. Ich weiß noch von meinem Armeedienst, wie ich diese bizarre und stupide Welt nach nur ein paar Tagen als meine Realität akzeptiert habe. Der Preis dafür aber war, dass mir mein früheres Zivilleben wie eine Art Traumlandschaft vorkam, nicht wie ein Teil meiner Realität. Und nachdem ich meinen Dienst beendet hatte und nach Hause zurückgekehrt war, überraschte es mich, wie schnell sich alles wieder umkehrte: Nach einigen Tagen erschien mir mein Armeeleben wie eine undeutliche, gespenstische Welt, die es irgendwie nie wirklich gegeben hat (auch wenn mich bestimmte Vorfälle daraus noch Jahrzehnte verfolgten). Und dieselbe Disparität ist in jedem Klassifizierungs- oder Einteilungsvorgang wirksam: Wenn wir eine Gattung in ihre Spezies unterteilen, kommen wir damit nie an ein allumfassendes Ende, und es gibt immer eine Unterart oder ein Unterelement, das wie ein Füllsel funktioniert, das heißt, sich eben als ein Element der entsprechenden Spezies anbietet, tatsächlich aber all das vertritt, was sich ebendem Prinzip dieser Einteilung entzieht (ähnlich der von Borges vorgenommenen Einteilung der Hunde, die als eine Spezies „alle Hunde“ umfasst, „die in dieser Einteilung keinen Platz haben“). Eine solche Bestätigung einer Ausnahme zu einem allgemeinen Begriff kann eigentlich nur als antihegelianisch, ja sogar kierkegaardianisch erscheinen: Geht es Hegel nicht genau darum, dass sich jede Existenz durch begriffliche Vermittlung unter eine allgemeine Wesenheit subsumieren lässt? Was aber, wenn wir darin die Grundfigur der von Hegel sogenannten „konkreten Allgemeinheit“ erkennen? Konkrete Allgemeinheit ist nicht die organische Aufgliederung einer Allgemeinheit in ihre Spezies, Teile oder Organe; wir gelangen nur dann zu ihr, wenn die betreffende Allgemeinheit unter ihren Spezies oder Elementen auf sich selbst in ihrer gegensätzlichen Bestimmung stößt, in einem Ausnahmeelement, das die allgemeine Dimension verneint und als solches ihre unmittelbare Verkörperung darstellt. In einer hierarchischen Gesellschaft sind es die Menschen am unteren Rand, die ein solches Ausnahmeelement bilden, etwa die „Unberührbaren“ in Indien. Anders als Gandhi habe Dr. Ambedkar „unterstrichen, dass es nichts nützt, wenn man lediglich die Unberührbarkeit abschafft: Dieses Übel sei das Resultat einer bestimmten Art der gesellschaftlichen Hierarchie, es sei das ganze Kastensystem, das abgeschafft werden müsse: ‚Kastenlose wird es solange geben, wie es Kasten gibt.‘ […] Gandhi erwiderte, dies alles sei vielmehr eine Frage der Grundlagen des Hinduismus, der in seiner ursprünglichen zivilisatorischen Form keine Hierarchien gekannt habe.“8
Obwohl sich Gandhi und Ambedkar gegenseitig respektierten und im Kampf für die Würde der Unberührbaren häufig zusammenarbeiteten, besteht hier eine unüberwindliche Differenz zwischen ihnen: Es ist die Differenz zwischen der „organischen“ Lösung (das Problem durch Rückkehr zur Reinheit des ursprünglich unverdorbenen Systems zu bewältigen) und der wirklich radikalen Lösung (in dem Problem ein „Symptom“ des Gesamtsystems zu erkennen, das sich nur durch Abschaffung des gesamten Systems beseitigen lässt). Ambedkar sah deutlich, dass die aus vier Kasten bestehende Struktur nicht vier Elemente vereint, die der gleichen Ordnung angehören: Während die ersten drei Kasten (Priester, Kriegerfürsten, Händler/Landwirte) ein konsistentes Alles bilden, eine organische Triade, entsprechen die Unberührbaren der „asiatischen Produktionsweise“ von Marx, dem „Teil ohne Anteil“, dem inkonsistenten Element, das innerhalb des Systems den Platz dessen einnimmt, was durch das System an sich ausgeschlossen wird – und als solches stehen die Unberührbaren für das Allgemeine. Es gibt im Grunde keine Kasten ohne Kastenlose; solange es Kasten gibt, solange wird es ein überschüssiges exkrementelles Element ohne Wert geben, das zwar formal Teil des Systems ist, aber keinen richtigen Platz darin hat. Gandhi verschleiert dieses Paradox, indem er den Eindruck erweckt, es sei eine harmonische Struktur möglich, die sämtliche ihrer Elemente entsprechend integriert. Das Paradox der Unberührbaren besteht darin, dass sie durch die exkrementelle Logik doppelt gezeichnet sind: Sie haben nicht nur mit unreinen Exkrementen zu tun, ihr eigener formaler Status innerhalb des Gesellschaftskörpers ist auch der eines Exkrements. Um aus dem Kastensystem auszubrechen, genügt es dem echt dialektischen Paradox nach nicht, dass der Status umgekehrt wird und man die Unberührbaren zu „Kindern Gottes“ erhebt; der erste Schritt sollte vielmehr in dem genauen Gegenteil bestehen, nämlich darin, den exkrementellen Status zu verallgemeinern und auf die ganze Menschheit auszudehnen.
Diese Paradoxien sind äußert wichtig, wenn wir den Hegel’schen Schlüsselbegriff der konkreten Allgemeinheit richtig verstehen wollen. Um uns klarzumachen, worum es sich dabei handelt, können wir uns etwa eine Vielzahl von ähnlichen Phänomenen oder Objekten denken – sagen wir, eine Vielzahl von Menschen. Wie gelangt man durch ihren Vergleich zu dem allgemeinen Begriff, der sie alle umfasst? Welche Merkmale abstrahieren wir von der Fülle ihrer empirischen Eigenschaften? Es reicht nicht zu sagen, dass wir uns auf Merkmale konzentrieren, die all diesen Wesen und nur ihnen gemeinsam sind; es bleibt die Frage, welche Merkmale „wesentlicher“ sind. Doch wie entscheiden wir das? Wieso sollte etwa Sprache „wesentlicher“ sein als das Tragen von Kleidung? Weil, wie es heißt, das „wesentliche“ Merkmal dasjenige ist, das alle anderen „vermittelt“, ihre immanente Voraussetzung darstellt (das Tragen von Kleidung setzt das durch Sprache koordinierte Zusammenwirken von Menschen voraus). Die beiden üblichen Kandidaten für eine solche „konkrete Allgemeinheit“ sind Arbeit und Sprache (der Mensch wird als werkzeugmachendes Tier, als sprechendes Tier verstanden), gefolgt von anderen Kandidaten (der Religion oder zumindest einem gewissen Sinn für das Heilige und für Rituale und so weiter). Wir können uns an diesem Punkt endlos fragen, was zuerst kommt: Ist die Sprache aus der Notwendigkeit zur Zusammenarbeit entstanden oder setzt Arbeit Sprache voraus, damit aus ihr eine spezifisch menschliche Arbeit werden kann? Viel wichtiger ist es, dass die Vermittlung der Merkmale nicht dem empirischen Werden entspricht: Die universelle Vermittlungsfunktion gehört nicht dem Element zu, das den empirischen Ausgangspunkt der Entwicklung des betreffenden Phänomens bildete. Geld beispielsweise – das mit dem Kapitalismus in Form des Kapitals zum Schlüsselmoment des gesellschaftlichen Ganzen wird – beginnt als ein sekundäres Instrument, um den Warenaustausch zu erleichtern; erst mit dem Kapitalismus setzt das Resultat rückwirkend seine eigenen Voraussetzungen (wie Marx sich ganz hegelianisch ausdrückt), das heißt, ein sekundäres Moment wird zum Dreh- und Angelpunkt für die Regulierung der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion. Des Weiteren sollte man auch nicht die Nützlichkeit eigenwilliger Definitionen unterschätzen, die ein triviales Randmerkmal zu einem Schlüsselmoment erheben (im Stil von: „Der Mensch ist das Tier, das die Frage plagt, was es mit seinen Exkrementen tun soll“ oder „Der Mensch ist das Tier, das seine Nägel schneidet“ und so weiter). Solche Definitionen, die für sich genommen offensichtlich lächerlich sind, liefern einen Hinweis auf unvermutete Verbindungen: Sie ermöglichen es uns, einer sehr wichtigen, für gewöhnlich aber nicht zur Kenntnis genommenen Ausprägung irgendeines „wesentlichen“ Merkmals Beachtung zu schenken. Die Tatsache etwa, dass sich Menschen an ihren Exkrementen stören, dass sie versuchen, sich ihrer zu entledigen, sie unsichtbar zu machen, verschwinden zu lassen, sagt eine Menge über die Ausschlüsse und Verbote, auf die sich das symbolische Universum gründet; hinter jedem symbolischen Universum, um Kristeva zu zitieren, lauert ein Abjekt.
Im herkömmlichen Verständnis, in dem der Sprache beziehungsweise der Arbeit der Vorzug gegeben wird, ist die Sexualität, obgleich nicht weniger allgemein (oder sogar noch allgemeiner, denn es gibt sexuell aktive Menschen, die niemals gearbeitet haben), nichts spezifisch Menschliches. Natürlich ist die Art und Weise, wie Menschen Liebe machen, spezifisch menschlich. Sie schließt Perversionen, Verführungsrituale, ökonomische Interessen und Machtspiele mit ein. All diese Phänomene resultieren aber daraus, wie die natürliche Substanz der Sexualität durch die Kultur umgestaltet wird – das Agens der Umgestaltung ist hier nicht die Sexualität selbst, sondern es sind gesellschaftliche und kulturelle Prozesse. Die Psychoanalyse unterscheidet sich jedoch radikal von dieser Sichtweise: Freud stellt die Sexualität in den Mittelpunkt, weil sich der elementare Bruch mit dem Tierleben, der Übergang in eine metaphysische Dimension seiner Auffassung nach genau dort vollzieht, in der Entstehung einer von den biologischen Bedürfnissen des Geschlechtsverkehrs unter Tieren losgelösten sexuellen Lust. Aus diesem Grund steht das Christentum der Sexualität ablehnend gegenüber und akzeptiert sie nur dann als ein notwendiges Übel, wenn sie ihrem natürlichen Zweck der Fortpflanzung dient – nicht, weil in der Sexualität unsere niedere Natur zum Ausbruch kommen würde, sondern genau deshalb, weil die Sexualität mit der reinen Geistigkeit als der ursprünglichen metaphysischen Betätigung konkurriert. Freuds Hypothese zufolge bildet der Übergang von den tierischen (Paarungs-)Instinkten zum Proprium der Sexualität (zu den Trieben) den Urschritt aus dem physischen Reich des biologischen (tierischen) Lebens in die Metaphysik, in die Ewigkeit und Unsterblichkeit, und damit auf eine in Bezug auf den biologischen Kreislauf von Werden und Vergehen heterogene Ebene. (Darum ist die von katholischer Seite vertretene Argumentation falsch, dass der nicht zum Zweck der Fortpflanzung vollzogene Geschlechtsverkehr tierisch sei. Es verhält sich genau umgekehrt: Der Sex vergeistigt sich nur dann, wenn er von seinem natürlichen Zweck getrennt und zum Selbstzweck wird.) Platon war sich darüber bereits im Klaren, als er vom Eros, der erotischen Bindung an einen schönen Körper, als dem ersten Schritt auf dem Weg zum höchsten Gut schrieb; eindeutige Christen (wie Simone Weil) erkannten im sexuellen Verlangen ein Streben nach dem Absoluten. Die menschliche Sexualität ist gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit, ihr Ziel zu erreichen, und diese konstitutive Unmöglichkeit verewigt sie, so wie die Liebe, die in den mythischen Geschichten über große Liebende das Leben und den Tod überdauert. Das Christentum sieht in diesem echt metaphysischen Exzess der Sexualität einen Störfaktor, den es zu beseitigen gilt. Darum ist es paradoxerweise das Christentum selbst (vor allem das katholische), das sich seiner Konkurrentin dadurch entledigen will, dass es sie auf ihre tierische Fortpflanzungsfunktion reduziert: In dem Wunsch, die Sexualität zu „normalisieren“, sucht es sie von außen zu vergeistigen, versieht sie mit einer geistigen Außenhaut (Geschlechtsverkehr müsse mit Liebe und Achtung für den Partner vollzogen werden, auf kultivierte Weise und so weiter) und verdeckt so die ihr immanente geistige Dimension der bedingungslosen Leidenschaft. In genau diesem Sinne ist die Sexualität für Freud das „konkrete Allgemeine“ des Menschen.
Es gilt hier noch zwei weitere Festlegungen zu treffen. Hegels konkrete Allgemeinheit ist nicht einfach eine blinde, leblose Abstraktion, ein allen Elementen gemeinsames Merkmal, das Hegel als „an sich Allgemeines“ bezeichnet; es ist ein für sich Allgemeines, ein Allgemeines, das als solches in Erscheinung tritt, im Unterschied zu seinen einzelnen Elementen. Nehmen wir den Fall eines modernen Individuums: Es ist allgemein für sich, weil es sich selbst als allgemein erfährt, als nicht an den konkreten Kontext seiner kontingenten Situation gebunden. Ein Lehrer oder Busfahrer etwa ist nicht bloß ein konkreter Fall eines Menschen, er erfährt sich selbst als ein (allgemeines) menschliches Wesen, das zufälligerweise letztlich Lehrer oder Busfahrer geworden ist.
Zu guter Letzt ist die „konkrete Allgemeinheit“ eines bestimmten Phänomens oder Feldes weniger irgendein allgemeines Merkmal, das all seine Elemente gemeinsam haben, als vielmehr eine Lücke, ein Antagonismus oder Hindernis, das dieses Feld zusammenhält. Im klassischen Marxismus ist der gesellschaftliche Antagonismus (der Klassenkampf) nicht einfach ein negativer Faktor, der das Gesellschaftsgebäude dauerhaft destabilisiert, sondern zugleich das, was dieses Gebäude überdeterminiert und in diesem Sinne „zusammenhält“ (alle gesellschaftlichen Institutionen stellen letztlich unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit dem Klassenkampf dar). Nehmen wir den Staat als eine gesellschaftliche Institution. Der Staat ist der institutionelle Hauptakteur bei der Regulation des sozialen Lebens und seiner Reproduktion. Aber nicht nur das: In einer Klassengesellschaft ist er voreingenommen und begünstigt die eine Klasse, während er die andere unterdrückt. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass ein „wahrer“ Staat ein neutrales Instrument darstellt, das allen seinen Bürgern zugutekommt, während dieses Instrument in einer Klassengesellschaft durch die herrschende Klasse in Besitz genommen und (missbräuchlich) verwendet wird. Die Rede von der Unparteilichkeit des Staates ist schlichtweg ideologische Irreführung, da der Staat nur in Klassengesellschaften auftritt, wo er seiner Funktion gemäß unter den Bedingungen des Klassenantagonismus die gesellschaftliche Reproduktion ermöglichen soll. Der Staat ist mit anderen Worten kein Apparat, der in einer Klassengesellschaft verdreht oder einseitig benutzt wird, er ist schon seiner Natur oder Idee nach verdreht und einseitig parteilich.
Das Gleiche gilt für die Gerechtigkeit (das Recht). Man sollte Spinozas Ineinssetzung von Macht und Recht vor dem Hintergrund von Pascals berühmtem Pensée betrachten:
Zweifelsohne ist die Gleichheit der Güterverteilung gerecht, aber da man nicht erreichen kann, dass man zwangsläufig der Gerechtigkeit gehorcht, hat man erreicht, dass es gerecht ist, der Gewalt zu gehorchen. Da man der Gerechtigkeit nicht Gewalt verleihen kann, hat man die Gewalt gerechtfertigt, damit Gerechtigkeit und Gewalt eine Einheit bilden und Frieden herrsche, der das höchste Gut ist.9
Das Entscheidende an diesem Abschnitt ist die „formalistische“ Logik, die ihm zugrunde liegt: Der Form der Gerechtigkeit kommt mehr Gewicht zu als ihrem Inhalt – ihre Form sollte gewahrt werden, selbst wenn sie ihrem Inhalt nach die Form ihres Gegenteils, der Ungerechtigkeit, bildet. Und, so könnte man hinzufügen, diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt ist nicht einfach das Ergebnis spezieller unglücklicher Umstände, sondern sie ist konstitutiv für den eigentlichen Begriff der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit bildet „an sich“, ihrem Begriff selbst nach, die Form der Ungerechtigkeit, nämlich „gerechtfertigte Gewalt“. Wenn wir es mit einem fingierten Gerichtsverfahren zu tun haben, bei dem der Ausgang aufgrund politischer Machtinteressen von Vornherein feststeht, ist zumeist von einem „Hohn auf die Gerechtigkeit“ die Rede – die vorgebliche Gerechtigkeit ist in Wahrheit eine Vorführung blanker Macht oder Korruption, die sich als Gerechtigkeit ausgibt. Was aber, wenn die Gerechtigkeit „an sich“, ihrem Begriff nach, ein Hohn ist? Unterstellt Pascal dies nicht stillschweigend, wenn er resigniert schließt, da die Macht nicht zur Gerechtigkeit kommen könne, müsse eben die Gerechtigkeit zur Macht kommen?