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Widerstand, Stauung, Wiederholung
ОглавлениеWie geht man dazu vor? Den Schlüssel dafür liefert die echt spekulative Ambiguität des Widerstands in der von Rebecca Comay entfalteten Darstellung. Danach heißt Widerstand zu leisten gegen die bestehende Ordnung aufzubegehren, sie für neue Entwicklungen zu öffnen und Veränderung zu fordern (wie in der französischen Résistance gegen die deutsche Besatzung oder beim Eintreten der politischen Linken für „Orte des Widerstands“), es kann jedoch auch die konservative Abwehrhaltung gegenüber Veränderung und Fortschritt bezeichnen und die darin wirksame Beharrungskraft (wie bei den konservativen Katholiken, die sich gegen Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe zur Wehr setzen). Diese Ambiguität kennzeichnet den Freud’schen Widerstandsbegriff in seinem eigentlichen Kern. Widerstand ist danach nicht nur die dem Fortschritt der analytischen Behandlung entgegenwirkende Kraft (unbewusste Wünsche erwehren sich ihrer Offenlegung, Symptome geben ihre Bedeutung nicht preis), damit kann auch gemeint sein, was sich der erdrückenden sozial-ethischen Ordnung widersetzt und sich von ihr befreien will. (Ein klassischer Fall: Ein Subjekt drückt seinen Widerstand gegen die normierende Struktur, die es daran hindert, sich obszönen Wünschen hinzugeben, durch ein Hysteriesymptom aus.) Der Punkt ist natürlich der, dass sich diese Ambiguität nicht durch zwangsweise Einführung einer Unterscheidung zwischen den beiden Bedeutungen des Ausdrucks auflösen lässt – die Ambiguität ist immanent, beide Bedeutungen stehen miteinander im Zusammenhang. Der Widerstand gegen die analytische Behandlung stellt nicht bloß ein Hindernis dar, er eröffnet zugleich die Möglichkeit eines Zugangs zum Unbewussten. Jede Analyse ist daher letztlich eine Analyse von Widerständen: Wenn sich der Patient einem Vorschlag des Analytikers in irgendeiner Form widersetzt, ist das ein Hinweis darauf, dass ein sensibler Punkt getroffen wurde. Oder, wie Lacan es prägnant ausdrückt, Verdrängung und die Rückkehr des Verdrängten sind zwei Seiten desselben Phänomens.
Ein solches Zusammenfallen der Gegensätze erhält im Begriff der Stauung seinen Selbstbezug: Stauung bezeichnet Stabilität, Unbeweglichkeit, das Gegenteil von Veränderung und dennoch zugleich Veränderung, Störung der bestehenden Dingordnung durch übermäßige Fixierung, ein zu starkes Hervorstehen. Stellen wir uns einen normalen Verlauf der Dinge vor, den Kreislauf des Lebens aus Werden und Vergehen – und dann geschieht etwas Seltsames, nicht etwas Neues, sondern bloß eine Art Fixierung. Statt der ständigen Zirkulation, die die globale Stabilität gewährleistet, bringt die Fixierung auf ein einzelnes Element (ein spezifisches Objekt der Leidenschaft) die Stabilität des ganzen Prozesses ins Wanken. Trieb ist der Freud’sche Name für eine solche Fixierung: ein wiederholtes Feststecken, das den gleichmäßigen Lauf der Dinge unterbricht. Vielleicht sollten wir auch Benjamins Dialektik im Stillstand so lesen: nicht als eine Absage an die dialektische Bewegung, sondern als eine Stauung, die das fragile Gleichgewicht des betreffenden Ganzen stört. Braucht es nicht eine solche Dialektik im Stillstand in der globalen kapitalistischen Gesellschaft von heute, deren monotone Dynamik nur durch irgendeine Art unnachgiebiger Stauung unterbrochen werden kann?
Dies bringt uns zu Hegel zurück. Ist sein Beispiel eines solchen „Feststeckens“ nicht das Judentum? Statt sich mit dem Zeitgeist zu verändern, statt am geschichtlichen Fortschritt teilzunehmen, verharrten die Juden hartnäckig in einem partikularen Entwicklungsstadium der Geschichte, haben sich lächerlicherweise an ihren willkürlichen Ritualen und Regeln festgeklammert und die mit dem Christentum kommende Freiheit zurückgewiesen. Doch liegen die Dinge wirklich so einfach? Spielt Hegel einfach nur die alte antisemitische Karte aus? Ist das jüdische „Feststecken“ für ihn nicht vielmehr eine Bedingung des christlichen Ereignisses? Und handelt es sich bei dem christlichen Ereignis nicht um den Fall eines sogar noch gründlicheren Feststeckens – der Fixierung auf eine einzelne Person als lebendigen Gott?
Einen anderen Aspekt dieser Ambiguität der Stauung stellt die Parallele zwischen den beiden Extremen dar, die für die psychoanalytische Deutung ebenso kennzeichnend sind wie für die dialektische Analyse. Das dialektische Denken pendelt zwischen den beiden Extremen der mechanischen Anwendung triadischer Formeln (es gibt keine Überraschung, das Ergebnis steht im Vorhinein fest) und der chaotischen Improvisation (der Ablauf gerät durcheinander, es ist nicht klar, in welcher Form sich Hegel aus einer Sackgasse hinausimprovisieren wird). Auch die Deutung nach Freud pendelt zwischen den beiden Extremen der mechanischen Auferlegung der üblichen Freud’schen Klischees (Ödipuskomplex et cetera), die im Vorhinein über den Verlauf der Deutung entscheidet, und der „unendlichen Analyse“ als dem endlosen Prozess der Entdeckung immer neuer unbewusster Verbindungen; dadurch ist die Deutung immer zugleich schon beendet (wir kennen ihren Endpunkt bereits im Vorhinein) und für immer gefangen im unendlichen Gewirr willkürlicher Verbindungen:
Es besteht keine Möglichkeit zu einem Abbruch: Entweder man gelangt nie dorthin oder man ist immer schon dorthin gelangt, und es wird sich in jedem Fall herausstellen, dass es genau das Phantasma des „Dort“ war, das letztlich verhinderte, dass man es erreichte. Dies bringt uns zu dem zentralen Paradox der Psychoanalyse, das auch das wesentliche Paradox der Dialektik darstellt und einen Teil ihrer andauernden Provokation ausmacht. Andererseits bildet der Widerstand das Grundhindernis der Analyse. Mit ihren dauernden Abschweifungen, Ablenkungen und Ausflüchten sind die Widerstände gegenüber der Analyse jedes Mal nahe daran, sie für immer scheitern zu lassen. Andererseits gäbe es ohne Widerstand, ohne Verzögerung, nichts als „wilde Analyse“ – was bedeutet, dass es überhaupt keine Analyse gäbe, sondern bloß den Schatten, der von der allwissenden Instanz des Analytikers oder auch nur der Analyse als personifiziertes Subjekt-das-wissen-soll ausgeht. Jede Wahrheit, die sich unmittelbar und ohne Hemmnis darbietet, ist selbst ein Hemmnis – eine leere Abstraktion, ein Fetisch reiner und von der Geschichte abgeschnittener Bedeutung, ein Stück blinder Theorie, das dem Analysanden aufgedrängt wird, ohne dass damit etwas in ihm oder ihr ausgelöst beziehungsweise bewegt werden könnte. Damit sich die Bedeutung formulieren lässt, muss damit gewartet werden: Das Urteil muss aufgeschoben werden; jede die Wahrheit, den Wert oder den Sinn betreffende Entscheidung muss ausgesetzt werden.15
Die Regel in der Psychoanalyse wie auch im dialektischen Prozess lautet somit, dass es keinen „normalen“ Fortschritt gibt, kein richtiges Maß zwischen den beiden Extremen der hastigen Herbeiführung eines vorzeitigen Abschlusses und des endlosen Umherwanderns in einem labyrinthischen Gewirr von Wegen und Irrwegen. Hemmnis, Beharrung, blinde Wiederholungen, sinnlose Fixierungen und so weiter sind überflüssig und notwendig zugleich. Nach einem der ewigen gegen sein Denken erhobenen Einwände hat Hegel jeden Antagonismus immer automatisch radikalisiert und dadurch aufgelöst – doch was, wenn die Dinge einfach steckenbleiben und in Unbeweglichkeit verharren? Darauf ist zu erwidern, dass dies im dialektischen Prozess ständig vorkommt, was deswegen aber noch lange nicht dessen peinliches Scheitern bedeutet – in Hegels Logik sehen wir dieses Stocken von Anfang an. Damit stellt sich die Frage, wie man nun vom Sein zum Nichts gelangt („übergeht“). Das Sein bleibt in sich selbst stecken, es kommt zu keinem Übergang zur Pluralität von Entitäten, und genau dieses Feststecken des reinen Seins macht aus ihm eine Gestalt des Nichts. Das Gleiche gilt für die Phrenologie (die in einem toten Knochen steckengebliebene Entwicklung), den revolutionären Terror (den in einem Strudel der Selbstzerstörung gefangenen Prozess) und anderes. Die Lösung besteht, kurz gesagt, nicht in einem Pendeln zwischen den Extremen, sondern in der Isolierung des Punkts, an dem die Gegensätze zusammenfallen: des Punkts, an dem eine plötzliche radikale Schließung die einzige Möglichkeit darstellt, um den Horizont, anders als bei der falschen evolutionären Offenheit, wirklich offenzuhalten (eben darauf zielt Hegel mit seinem absoluten Wissen ab), sowie des Punkts, an dem die plötzliche Schließung sich als „Wahrheit“ der endlosen Offenheit selbst herausstellt. Dies bringt uns zu dem „eigentümlichen spekulativen Wiederholungszwang“16 zurück, der eine Schlüsselrolle im spekulativen Urteil spielt. Es sind nicht direkt die objektiven Eigenschaften eines Urteils, die aus ihm ein spekulatives Urteil machen, sondern es ist die Art, wie es gelesen wird: Wie üblich versucht man, den entsprechenden Passus zu durchdringen und sich seiner Bedeutung anzunähern, dann aber bleibt man stecken, weil die Dinge nicht zusammenhalten. Die Textstelle widersetzt sich dem Verständnis und so ist man gezwungen, an den Anfang zurückzugehen und den Satz auf andere Weise noch einmal zu lesen. Es gibt keine Möglichkeit, ein solches Urteil gleich richtig zu lesen, weil la vérité surgit de la méprise, weil die eigentliche Bedeutung nur durch die Reaktion – des Lesers – auf die erste Lesart hervortritt. Darin besteht das Paradox eines spekulativen Urteils: Die subtilste Bedeutung kann nur durch eine Unterbrechung oder eine Hemmung hervortreten, dadurch, dass man erfährt, dass „etwas nicht funktioniert“:
Es ist die Unterbrechung, die eine Wiederholung bewirkt; sie ist deren Ursache, sie sorgt dafür, dass man wieder zu dem Satz selbst zurückgeht. Deshalb spricht Hegel [in seinen Heidelberger Logikvorlesungen 1817] auch von „Erfahrung“, denn Erfahrung ist offensichtlich mit Unterbrechung verbunden, mit Widerstand sozusagen. Erfahrung ist immer Erfahrung von etwas, das nicht funktioniert, von etwas, das den normalen Lauf der Dinge hemmt, und also von Widerstand. […] Der spekulative Satz leistet Widerstand. Er widersteht den üblichen Denkmustern, und dieses Widerstehen ist sein erstes wesentliches Kennzeichen. Widerstand ist notwendig und unmöglich zugleich (denken wir daran, dass es sich hierbei um das bestimmende Merkmal dessen handelt, was bei Lacan das Reale heißt).
Worin besteht dieser Fehlschlag näher betrachtet? In seiner grundlegendsten Form betrifft er die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des spekulativen Urteils. Nehmen wir etwa „Der Geist ist ein Knochen“, Hegels „unendliches Urteil“ aus dem Unterkapitel über die Phrenologie in seiner Phänomenologie des Geistes – wie sollte es als ein spekulatives Urteil gelesen werden? Die erste, unmittelbare Lesart reduziert es auf die vulgärste Version des materialistischen Reduktionismus: Unser edelster Teil, unser geistiges Wesen, ist durch die Form unseres Schädels bestimmt – eines Knochens, der den mechanischsten und „am meisten toten“ Teil unseres Körpers darstellt. (Die heute beliebtere Version eines reduktionistischen „unendlichen Urteils“ dieser Art lautet: „Der Geist ist ein Genom“.)17 Eine solche Behauptung hält den Fluss auf, führt uns in eine Sackgasse, ergibt überhaupt keinen Sinn – besteht zwischen dem Geist (der subtilsten Bedeutungsdynamik) und einem Knochen (dem unbeweglichen Stück toter Materie) nicht ein radikaler Gegensatz, ein Widerspruch gar? Was der Leser sich beim zweiten Lesen klarmachen muss, ist, dass dieser Widerspruch, diese unerträgliche Spannung, das Subjekt ist, die Disparität oder Negativität, die den Kern eines Subjekts bildet. Das Subjekt tritt als der Punkt des Widerstands gegen seine Objektivierung hervor. In diesem Sinne sollte die idealistische Grundaussage „das Subjekt ist ein Objekt“ als spekulatives Urteil gelesen werden: Ihre Wahrheit besteht nicht darin, dass das Subjekt eine Art absoluter Substanz darstellt, die jede Objektivität begründet/konstituiert, sondern darin, dass das „Subjekt“ genau der Zusammenstoß/die Disparität zwischen Subjekt und Objekt ist, was sich an ihrer Identifikation nachvollziehen lässt – oder, genauer noch, es gibt nur Objekte, und das „Subjekt“ ist nichts als die äußerste Nichtübereinstimmung des Objekts mit sich selbst. Was gewinnen wir daher, wenn wir die Aussage auf diese gewundene Weise formulieren, statt direkt zu sagen, dass „das Subjekt kein Objekt ist“? Wenn wir es direkt sagen, setzen wir das Subjekt als eine weitere Entität neben den „gewöhnlichen“ Dingen, und dabei geht eben verloren, dass das „Subjekt“ nichts als die Nichtübereinstimmung eines Objekts mit sich selbst ist. Auf diese Weise gilt es Hegels Behauptung zu verstehen, dass „die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält“.18
Dieses Paradox des absoluten Gegenstoßes – des Gegenstoßes, der rückwirkend das erzeugt, wovon er abprallt – erklärt das Schlüsselelement von Freuds Theorie, der „Theorie der Arbeit des Unbewussten“,19 die parallel zur „Arbeitswerttheorie“ konzipiert werden sollte: Der unbewusste „Wert“ eines Traums ist ausschließlich das Ergebnis der „Traumarbeit“, nicht der Traumgedanken, die genauso der transformierenden Regie der Traumarbeit unterliegen, wie der Wert einer Ware von der für sie aufgewendeten Arbeit bestimmt wird. Das Paradoxe ist hier, dass die Verschlüsselung/Verschleierung des Traumgedankens, seine Übertragung in das Traumgewebe, den eigentlich unbewussten Trauminhalt erzeugt. Wie Freud hervorhebt, ist das wirkliche Geheimnis eines Traums nicht sein Inhalt (die „Traumgedanken“), sondern die Form selbst:
Die latenten Traumgedanken sind der Stoff, den die Traumarbeit zum manifesten Traum umbildet. […] Das einzig Wesentliche am Traum ist die Traumarbeit, die auf den Gedankenstoff eingewirkt hat. […] Die analytische Beobachtung zeigt denn auch, daß die Traumarbeit sich nie darauf beschränkt, diese Gedanken in die Ihnen bekannte archaische oder regressive Ausdrucksweise zu übersetzen. Sondern sie nimmt regelmäßig etwas hinzu, was nicht zu den latenten Gedanken des Tages gehört, was aber der eigentliche Motor der Traumbildung ist. Diese unentbehrliche Zutat ist der gleichfalls unbewußte Wunsch, zu dessen Erfüllung der Trauminhalt umgebildet wird. Der Traum mag also alles mögliche sein, insoweit Sie nur die durch ihn vertretenen Gedanken berücksichtigen, Warnung, Vorsatz, Vorbereitung usw.; er ist immer auch die Erfüllung eines unbewussten Wunsches, und er ist nur dies, wenn Sie ihn als Ergebnis der Traumarbeit betrachten. Ein Traum ist also auch nie ein Vorsatz, eine Warnung schlechtweg, sondern stets ein Vorsatz u. dgl., mit Hilfe eines unbewußten Wunsches in die archaische Ausdrucksweise übersetzt und zur Erfüllung dieser Wünsche umgestaltet. Der eine Charakter, die Wunscherfüllung, ist der konstante; der andere mag variieren; er kann seinerseits auch ein Wunsch sein, so daß der Traum einen latenten Wunsch vom Tage mit Hilfe eines unbewußten Wunsches als erfüllt darstellt.20
Die Schlüsselerkenntnis ist natürlich die „Triangulation“ aus latentem Traumgedanken, manifestem Trauminhalt und dem unbewussten Wunsch, die den Geltungsbereich des hermeneutischen Modells der Traumdeutung (den Weg vom manifesten Trauminhalt zu dessen verborgener Bedeutung, dem latenten Traumgedanken), welche sich entgegengesetzt zum Weg der Traumbildung bewegt (die Umsetzung des latenten Traumgedankens in den manifesten Trauminhalt durch die Traumarbeit), begrenzt oder vielmehr direkt unterminiert. Das Paradoxe daran ist, dass diese Traumarbeit nicht bloß einen Prozess der Maskierung der „wahren Bedeutung“ des Traumes darstellt: Der wahre Kern des Traums, sein unbewusster Wunsch, schreibt sich selbst nur durch diesen Maskierungsprozess ein, sodass wir in dem Moment, da wir den Trauminhalt in den in ihm ausgedrückten Traumgedanken zurückübersetzen, die „wahre Motivation“ und eigentlich bewegende Kraft verlieren – kurz gesagt, ist es der Maskierungsprozess selbst, der in den Traum dessen wahre Bedeutung einschreibt. Darum sollte man die übliche Vorstellung, wonach wir immer tiefer in den Traumkern eindringen, umkehren: Es ist nicht so, dass wir uns zuerst vom manifesten Trauminhalt zu dem eine Ebene darunter liegenden Geheimnis, dem latenten Traumgedanken, bewegen und dann noch einen Schritt tiefer zum unbewussten Kern des Traums, dem unbewussten Wunsch, gehen. Der „tiefere“ Wunsch siedelt sich genau in der Lücke zwischen dem latenten Traumgedanken und dem manifesten Trauminhalt an. Nur durch die „Theorie der Arbeit des Unbewussten“ ist es uns möglich, Freuds Vergleich der Traumarbeit mit dem kapitalistischen Produktionsprozess richtig zu verstehen. Um die Unterscheidung zwischen dem in einem Traum verschlüsselten (bewussten) Wunsch und dem unbewussten Begehren des Traums zu erläutern, vergleicht Freud den Wunsch mit einem Unternehmer und das unbewusste Begehren mit dem Kapital, das die Übertragung dieses Wunsches in einen Traum finanziert (die libidinösen Kosten dafür trägt):
Um es in einem Gleichnisse zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, daß ein Tagesgedanke die Rolle des Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und den Drang, sie in die Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und dieser Kapitalist, der den psychischen Aufwand für den Traum beistellt, ist alle Male und unweigerlich, was immer auch der Tagesgedanke sein mag, ein Wunsch aus dem Unbewussten.21
Bei oberflächlichem Lesen wirkt es vielleicht so, als sei die eigentliche Arbeit (die Traumarbeit) lediglich ein Mittler zwischen bewusstem Wunsch und unbewusstem Kapital: Der Unternehmer (der bewusste Wunsch) leiht sich vom Unbewussten das Kapital, um damit seine Übertragung in die Traumsprache zu finanzieren. Wir müssen hier allerdings den Nachdruck berücksichtigen, mit dem Freud darauf beharrte, dass das unbewusste Begehren den Traum nur durch die Traumarbeit „infiziert“: Die alleinige Quelle des unbewussten Begehrens ist die Arbeit der Verschlüsselung beziehungsweise der Maskierung der Traumgedanken; außerhalb dieser Arbeit verfügt es über kein substanzielles Sein.