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Hyperobjekte im Zeitalter des Anthropozäns

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Die Tatsache, dass die explodierende neuronale Plastizität nur ein Aspekt eines globalen Prozesses ist, dessen Gegenstück die Heraufkunft des sogenannten „Anthropozäns“ bildet, verdient unbedingte Beachtung. Die Ökologie ist heute eines der am meisten umkämpften ideologischen Schlachtfelder und hält eine Reihe von Strategien bereit, um die wahren Ausmaße der ökologischen Bedrohung zu verschleiern: Erstens: Einfach ignorieren – es handelt sich lediglich um eine Randerscheinung, mit der man sich nicht befassen muss, das Leben (des Kapitals) geht weiter, die Natur wird auf sich selbst aufpassen. Zweitens: Wissenschaft und Technologie können uns Rettung bringen. Drittens: Die Lösung dem Markt überlassen (durch höhere Besteuerung der Verschmutzer und so weiter). Viertens: Druck vonseiten des Über-Ichs auf den Einzelnen in seiner Verantwortung ausüben statt umfangreiche systematische Maßnahmen durchzuführen. Jeder von uns sollte das ihm oder ihr Mögliche tun – recyceln, seinen Konsum einschränken und so weiter. Fünftens: Die vielleicht schlechteste Strategie von allen ist das Eintreten für eine Rückbesinnung auf das natürliche Gleichgewicht, auf ein anspruchsloseres Leben nach traditioneller Art, wodurch wir uns von der menschlichen Hybris lossagen und wieder verantwortungsvolle Kinder unserer Mutter Natur werden könnten – dieses ganze Paradigma von Mutter Natur, die durch unsere Hybris aus dem Gleis geriet, ist falsch.23 Warum?

Den Kern der ökologischen Krise bildet ein bereits von Marx registriertes Phänomen, der durch die Steigerung der kapitalistischen Produktivität verursachte sogenannte metabolische Riss: „Mit Arbeit traktieren wir Gesteine und Böden, Pflanzen und Tiere und entlocken ihnen so die Molekularströme, aus denen unser gemeinsames Leben immer wieder aufs Neue gemacht wird. Diese Molekularströme kehren jedoch nicht wieder dahin zurück, von wo sie gekommen sind“ (S. xiii). Wenn ein von der Menschenindustrie verursachter Riss dieser Art eine Bedrohung für die eigentliche Reproduktion auf der Erde darzustellen beginnt, sodass der Mensch buchstäblich zu einem geologischen Faktor wird, treten wir in ein neues Zeitalter ein, in das Anthropozän: „Das Anthropozän bildet eine Reihe von metabolischen Rissen, in denen durch Arbeit und Technik ein Molekül nach dem anderen entnommen wird, um damit Dinge für die Menschen herzustellen. Die verschwendeten Produkte aber kommen nicht wieder zurück, damit der Kreislauf sich erneuern kann“ (S. xiv). Die treibende Kraft hinter diesem wachsenden Riss bezeichnet Wark mit dem ironischen Ausdruck „Kohlenstoffbefreiungsfront“: „Die Kohlenstoffbefreiungsfront macht alles ausfindig, was in vergangenen Zeiten die Form fossilierten Kohlenstoffs angenommen hat, fördert es zutage und verbrennt es, um die darin enthaltene Energie freizusetzen. Das Anthropozän wird mit Kohlenstoff betrieben“ (S. xv). Dieser Begriff des Anthropozäns enthält in seinem Kern selbst ein Paradox: Der Mensch wurde sich seiner Grenzen als Spezies genau dann bewusst, als er so stark geworden war, dass er auf das Gleichgewicht des ganzen Erdenlebens Einfluss zu nehmen vermochte. Er konnte davon träumen, Subjekt zu sein, solange sein Einfluss auf die Natur begrenzt war, also vor dem Hintergrund einer stabilen Natur.

Begriffe wie „Riss“ und „gestörter Kreislauf “ sind offenbar auf ihren Gegensatz angewiesen, mithin auf die Vorstellung von einem „normalen“ Zustand, in dem der Kreislauf geschlossen und das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, als ob das Anthropozän (in dem der Mensch durch sein Tun ein Ungleichgewicht erzeugt und dafür sorgt, dass sich der metabolische Riss bildet) überwunden werden könnte, wenn die menschliche Spezies wieder in eine im Gleichgewicht befindliche Ordnung der Natur eingesetzt würde. Es ist Warks zentrale Leistung, dass er sich diesem Weg gründlich verweigert: Es gab nie ein solches Gleichgewicht; die Natur ist an sich bereits aus der Balance, die Vorstellung von ihr als eine große Mutter ist bloß ein weiteres Bild des göttlichen großen Anderen. Auch wenn mich Wark für einen der großen Bösewichte hält, weil ich für ihn „all die alten Laster“ (S. 17) des von der Praxis losgelösten kontemplativen Materialismus verkörpere, teile ich doch seinen Ansatz, wonach wir uns von der Natur als der letzten Gestalt des großen Anderen verabschieden sollten:

Der Gott, der sich noch immer in der Weltsicht von einer Ökologie verbirgt, die sich selbst zu korrigieren, auszubalancieren und zu heilen vermochte – ist tot […]. Der Mensch ist nicht mehr jene Gestalt im Vordergrund, die ihre eigenen Interessen vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, organischen Kreislaufs verfolgt, den sie vielleicht stört, mit dem sie jedoch letztlich ein ausgewogenes und harmonisches Verhältnis bewahren kann, indem sie einfach mit gewissen Auswüchsen Schluss macht. (S. xii)

Nach dem Tod des Gottvaters und damit der männlichen Vernunft sollten wir folgerichtig auch den Tod der Göttin Natur befürworten. „Auf die unsichtbare Hand und auf eine homöostatische Ökologie als Leitbild zu verzichten heißt, einmal mehr nach dem Tod Gottes zu leben“ (S. 209). Es ist nicht nur so, dass wir nie auf die Natur an sich stoßen – das heißt, dass die Natur, mit der wir in Berührung kommen, immer schon in antagonistischer Wechselwirkung mit der kollektiven menschlichen Arbeit begriffen ist –, die Kluft, die unser (menschliches) Vermögen zur totalen Ausweitung der Vermittlung (durch Arbeit) von der Natur in ihrer Widerspenstigkeit trennt (Natur als das, was unserem Zugriff Widerstand entgegensetzt), ist auch und vor allem irreduzibel. Die Natur ist kein abstraktes Ansich, sondern in erster Linie das, was uns bei unserer Arbeit als widerstrebende Gegenkraft begegnet. Wir müssen hier allerdings einen Schritt weitergehen: Die Fiktion einer durch die Eingriffe des Menschen zwar gestörten, gleichwohl aber beständigen Natur ist selbst als ein unerreichbares Ideal, dem wir uns nähern könnten, wenn wir uns so weit als möglich aus unseren Aktivitäten zurückziehen, falsch und unhaltbar – die Natur ist an sich bereits nachhaltig beeinträchtigt, sie ist an sich schon aus den Fugen: „Wir hängen tendenziell noch immer der Vorstellung an, dass eine Ökologie sich selbst wiederherstellen und zur Homöostase zurückkehren wird, wenn wir mit bestimmten Dingen aufhören. Vielleicht aber stimmt das gar nicht […] Was, wenn es nur eine unbeständige Natur gibt?“ (S. 200)

Der Riss zwischen Arbeit und widerspenstiger Natur sollte nicht nur um einen Riss innerhalb der Natur ergänzt werden, der sie für immer unbeständig macht, sondern auch um einen Riss, der den Menschen selbst von innen spaltet. Dieser Riss, der sich in der Moderne auftut, markiert die „Scheidung zwischen der Empfindung der Welt und der Vorstellung von ihr“ (S. 105). Wir sollten diesen Riss allerdings nicht im herkömmlichen humanistisch-marxistischen Sinne der „Entfremdung“ der „höheren“ theoretischen Tätigkeit von der lebendigen gemeinsamen Praxis auffassen: Die lebendige praktische Erfahrung der Realität kann unmöglich zur letzten Zuflucht erhoben werden – darin besteht die Lektion moderner Wissenschaft und Technik. Der Bereich des „Inhumanen“ (exemplarisch das Feld der Quantenschwankungen) liegt unterhalb unserer unmittelbaren Erfahrung und wird nur durch wissenschaftliche Theorien zugänglich: Diese wunderliche Welt der Teilchenphysik „liegt so weit unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle, dass wir uns abmühen, eine Sprache zu ihrer Beschreibung zu finden“ (S. 165) – wobei uns weniger eine angemessene Sprache fehlt (die lässt sich ohne größere Schwierigkeiten entwickeln) als vielmehr ein angemessenes Empfinden für diese seltsame Welt, wodurch wir sie als Teil unserer Realität erfahren könnten. Gleiches gilt für die Kohlenstoffbefreiungsfront: Unser einschlägiges Wissen „ist Wissen, das sich nur durch einen wissenschaftlich-technischen Apparat hervorbringen lässt, der sich mittlerweile zu einer den ganzen Planeten umspannenden Infrastruktur ausgewachsen hat“ (S. 180). Auch hier trifft der Satz von Wagner zu: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“

Letzter Bezugspunkt und unüberschreitbarer Horizont bleibt für Wark, was er das „gemeinsame Leben“ nennt, und jede Autonomisierung eines seiner Elemente kommt ihm zufolge einer fetischisierenden Entfremdung gleich: „Wenn wir aus einer speziellen Idee, einer speziellen Liebe oder einer speziellen Arbeit einen Fetisch machen, geht dem gemeinsamen Leben unser Gattungswesen verloren“ (S. 107). An diesem Punkt sollten wir jedoch eine doppelte Frage stellen. Erstens: Entspricht eine solche Unterbrechung des Stroms gemeinsamen Lebens, eine solche Konzentration auf eine Idee, einen geliebten Menschen oder eine Aufgabe nicht genau dem, was Badiou als Ereignis bezeichnet? Sollten wir also solche Schnitte, statt sie als Fälle von Entfremdung abzutun, nicht vielmehr als höchsten Ausdruck der Macht der Negativität feiern? Und zweitens: Setzt unser Zugang zur unmenschlichen Molekularebene etwa des Quantenuniversums nicht genau solch einen trennenden Schnitt von unserem gemeinsamen Alltagsleben voraus? Wir haben es hier mit einem echt hegelianischen Paradox zu tun: Hegel lobt den „molaren“ Akt der Abstraktion – die Reduktion der Komplexität einer Situation auf das „Wesentliche“, auf ihr Hauptmerkmal – als die unendliche Macht des Verstandes. Die eigentliche Schwierigkeit besteht nicht darin, die Situation in ihrer Komplexität zu erfassen, sondern darin, sie schonungslos zu vereinfachen: Der Blick richtet sich auf die wesentliche Form, nicht auf die Einzelheiten. Das Schwierige dabei ist es, Klassen zu sehen, nicht Kleinstgruppen, die sich gegenseitig bekämpfen, das Subjekt zu sehen, nicht den humeschen Strom von Geisteszuständen. Wir reden hier nicht einfach von idealen Formen oder Mustern: Die Leere der Subjektivität ist das Reale, das durch den Reichtum des „Innenlebens“ verschleiert wird; der Klassenantagonismus ist das Reale, das durch die Vielzahl unterschiedlicher sozialer Kämpfe verschleiert wird. (Die mögliche Gegenfrage lautet hier: Kann Hegel auch einen Geschichtsverlauf denken, in dem ein auf niedrigerer Ebene angesiedelter kontingenter und bedeutungsloser Fakt einen entscheidenden Faktor des Wandels im molaren Raum darstellt [wie etwa, dass der Fall Roms dem Blei in den Töpferwaren jener Zeit geschuldet war]?)

Wir sollten daher über die Deleuze’sche Entgegensetzung von Molekularem und Molarem hinausgehen, welche die molare Ebene auf ein Schattentheater von Repräsentationen reduziert und der molekularen Ebene die eigentliche Produktivität und Lebendigkeit vorbehält. Richtig ist, dass der metabolische Riss als Phänomen besteht und dass er sich nur auf „niedrigerer“, molekularer Ebene bilden kann. Diese liegt jedoch so niedrig, dass sie nicht nur für die große Politik oder die „molaren“ gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht wahrnehmbar ist, sondern auch für die elementarste Erfahrung von Leben und das grundlegendste Engagement. Sie ist nur durch „hohe“ Theorie zugänglich – in einer Art in sich verkehrter Drehung ist es nur durch das Höchste möglich, zum Tiefsten zu gelangen.24

Natürlich verfügt die Naturwissenschaft mit den wissenschaftlichen Messgeräten über ihre eigene „molekulare“ materielle Basis. Obwohl diese Apparaturen von Menschen entwickelt werden und Teil unserer Alltagsrealität sind, ermöglichen sie uns den Zugang zu seltsamen Bereichen, die nicht Teil der erfahrbaren menschlichen Realität sind, von den Quantenschwankungen bis hin zum Genom:

Der Wissenschaft haftet etwas Unmenschliches an. Ihre Wahrnehmungs-, Modellbildungs- und Prüfverfahren sprengen den Rahmen des menschlichen Sensoriums, auch wenn sie von einer Apparatur abhängen, die selbst das Produkt menschlicher Arbeit ist. Die Gegenstände der Wissenschaft hängen nicht vom menschlichen Bewusstsein ab. Und doch spielt sich die Wissenschaft in der Geschichte ab, in den Schranken sozialer Organisationsformen eines bestimmten Typus und einer bestimmten Zeit. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind an sich eine Fessel für die Wissenschaft in ihrem Streben nach den unmenschlichen Sensationen des nichtmenschlichen Realen. (S. 208)

Entsprechend ist Karen Barad zuzustimmen, wenn sie die Begrenztheit von Bohrs Auffassung einer Apparatur herausstellt: Apparaturen haben ihre eigene Geschichte, sie sind das Ergebnis gesellschaftlicher Praktiken und als solche wirken sich in ihnen auch die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse aus. Sehr wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen nichtmenschlich und unmenschlich: Nichtmenschliches ist auf der gleichen Ebene angesiedelt wie Menschliches, es ist Teil der Alltagswelt, in der Menschen es mit nichtmenschlichen Dingen und Vorgängen zu tun haben. Bei Apparaturen handelt es sich um etwas anderes, sie sind weder menschlich noch nichtmenschlich, sondern vielmehr unmenschlich: „Das Inhumane vermittelt dem Humanen das Nichthumane. Dadurch bleibt die seltsame Beschaffenheit, die Fremdartigkeit dessen gewahrt, was sich durch eine Apparatur hervorbringen lässt – die Teilchenphysik beispielsweise –, ohne dass damit schon zu viel über das Nichtmenschliche gesagt wäre“ (S. 164). Kurzum, obwohl Apparaturen und Messvorrichtungen dem Menschlichen immanent sind, insofern sie ein Produkt der fruchtbaren und wissenschaftlichen Beschäftigung des Menschen mit der Realität darstellen, sind sie gleichzeitig doch in dem Sinne unmenschlich, dass sie es uns ermöglichen, die Umrisse eines Realen zu erkennen, das nicht Teil unserer Realität ist. Das wirklich merkwürdige Element in der Triade aus dem Menschen, der Realität, mit der er es zu tun hat, und den Apparaturen, die er einsetzt, um sie zu durchdringen, ist folglich nicht die widerspenstige äußere Realität, sondern dies sind die Apparaturen, die zwischen den beiden Extremen vermitteln: dem Menschen und der nichtmenschlichen Realität. Apparaturen ermöglichen es Menschen nicht nur, das Reale zu erkunden, das außerhalb des Bereichs ihrer Erfahrungswirklichkeit liegt (wie die Quantenwellen); sie ermöglichen ihnen auch die gedankliche Konstruktion neuer, „unnatürlicher“ (unmenschlicher) Objekte, die ihnen in ihrer Erfahrung eigentlich nur als Launen der Natur erscheinen können (Gadgets, genetisch veränderte Organismen, Cyborgs und so weiter).25 Die Stärke der menschlichen Kultur besteht nicht allein in der Fähigkeit, ein autonomes symbolisches Universums jenseits des von uns als Natur Erfahrenen zu errichten, sondern auch in ihrem Vermögen, neue, „unnatürliche“ Objekte hervorzubringen, in denen sich die menschliche Erkenntnis materialisiert. Wir „symbolisieren die Natur“ nicht nur, wir denaturalisieren sie gleichsam von innen.26

Für ein angemessenes Verständnis dieser bevorstehenden Transformationen müssen wir die „spontane“ Begrifflichkeit ändern, mit der wir unsere Umgebungen denken. Dieser Notwendigkeit folgend hat Timothy Morton27 die Vorstellung von Hyperobjekten eingebracht: Objekte wie die globale Erwärmung (oder radioaktives Plutonium oder sogar die menschliche Sprache), die in Raum und Zeit so äußerst stark verteilt sind, dass sie die raumzeitliche Bestimmtheit transzendieren. Hyperobjekte sind durch eine Reihe von miteinander verbundenen Merkmalen gekennzeichnet, die unsere normale Realität in ihren Grundkoordinaten erschüttert. Sie sind schmierig: Sie haften jedem Objekt an, mit dem sie in Berührung kommen, unabhängig davon, wie sehr es sich dagegen zu wehren sucht – je mehr Widerstand ein Objekt einem Hyperobjekt leistet, desto fester verklebt es mit ihm. Sie sind nichtlokal: Sie sind in einem solchen Maße in Raum und Zeit verteilt, dass sie sich in keiner bestimmten lokalen Manifestation vollumfänglich erfassen lassen, und in diesem Sinne werden sie substanzieller als die lokalen Manifestationen, die sie zeitigen. Sie sind gestaffelt (Staffelung „ist wie Nichtlokalität, bloß mit hinzugefügter Rhythmusgruppe“, wie Stephen Muecke sich in seiner Besprechung von Mortons Buch ausdrückte): Sie siedeln sich in einem höherdimensionalen Raum an als die Dinge, die wir normalerweise wahrnehmen können. Darum scheint es, als würden Hyperobjekte im dreidimensionalen Raum kommen und gehen, während sie sich einem Beobachter mit einer höherdimensionalen Sichtweise anders darstellen würden. Sie sind interobjektiv: Sie bilden sich über Beziehungen zwischen mehr als einem Objekt aus, sodass wir lediglich den Abdruck oder die „Fußspur“ eines Hyperobjekts auf anderen Objekten wahrnehmen können.

So ist etwa die globale Erwärmung ein Hyperobjekt, das sich durch Wechselwirkungen zwischen der Sonne, fossilen Brennstoffen und Kohlendioxid (sowie weiteren Objekten) herausbildet; erkennbar gemacht wird es anhand von Emissionsniveaus, Temperaturveränderungen und Meeresspiegelhöhen, wodurch der Eindruck entsteht, dass es sich bei ihm um ein Ergebnis wissenschaftlicher Modelle handelt, und nicht um ein Objekt, das seiner messtechnischen Ermittlung vorausgeht. Es betrifft und verändert meteorologische Bedingungen wie etwa das Entstehen von Wirbelstürmen: Objekte spüren nicht die globale Erwärmung an sich als vielmehr deren Auswirkungen, wenn Wirbelstürme an bestimmten Stellen der Erde Schäden verursachen. Die globale Erwärmung ist gestaffelt, was bedeutet, dass sie innerhalb unserer erfahrbaren Realität nicht durchgängig besteht: Wir sehen hier einen Wirbelsturm, dort eine Dürre und woanders eine Überschwemmung. Um aber die globale Erwärmung selbst sehen zu können, bräuchten wir eine andere Sichtweise, die uns Einblick in eine andere Dimension gewähren würde. Hyperobjekte werden nur im Laufe ökologischer Krisen sichtbar, und das heißt, dass sie in der Regel als eine Drohung gegenüber der organischen Materie wahrgenommen werden, was Morton eine „dämonische Verkehrung der sakralen Gehalte der Religion“ nennt. Es ist leicht ersichtlich, wie solch ein unsichtbares Hyperobjekt, das vielleicht unser Überleben selbst beeinflusst, eine spirituelle Qualität annehmen kann – Morton zieht sogar ironisch in Erwägung, dass Hyperobjekte in kommender Zeit zu sakralen Objekten erhoben werden könnten, denen man mit Ehrfurcht begegnet. Im Grunde sind Hyperobjekte Vorboten dessen, was Franco Berardi treffend als Zustand „nach der Zukunft“ bezeichnete: Sie zwingen uns „zur Aufgabe der modernen Angewohnheit, sich der erlösenden Vorstellung von einer besseren Zukunft zu überlassen. Vorerst müssen wir in Ungewissheit vor dem verharren, womit Hyperobjekte uns unmittelbar konfrontieren: dass wir nicht mehr über die Zukunft bestimmen, weil sie durchaus ohne uns stattfinden könnte.“28

Statt uns selbst als geschichtliche Akteure zu begreifen, die den Fortschritt ins Werk setzen, müssen wir akzeptieren, dass „ringsum Dunkelheit und undurchdringliche Düsternis herrscht“, wie Boris Godunow in seinem großen Monolog in Mussorgskis Oper singt; das Paradoxe daran ist allerdings, dass diese schreckliche Aussicht die menschlichen Akteure nicht darauf reduziert, sich als hilflose Rädchen im Getriebe der Welt wahrzunehmen. Die Realität ist nicht bloß deshalb undurchdringlich, weil sie den beschränkten Horizont des endlichen Menschen übersteigt, sondern auch, weil wir Menschen nicht imstande sind, die Auswirkungen unseres Tuns auf unsere natürlichen Umgebungen zu beherrschen und vorauszuberechnen. Dies ist das Paradoxe am Anthropozän: Der Mensch wurde sich seiner Grenzen als Spezies genau dann bewusst, als er so stark geworden war, dass er auf das Gleichgewicht des ganzen Erdenlebens Einfluss zu nehmen vermochte. Er konnte davon träumen, Subjekt zu sein, solange er nur begrenzten Einfluss auf die Natur (die Erde) hatte, das heißt, vor dem Hintergrund einer beständigen Natur. Das Paradoxe ist folglich, dass der Mensch, je stärker er vermittelnd in die Reproduktion der Natur eingreift, umso mehr zu einem „dezentrierten“ Akteur wird, der den Prozess seines Austauschs mit der nichtmenschlichen Natur nicht zu steuern vermag. Deshalb reicht es nicht aus, auf der Intransparenz der Objekte zu beharren und zu betonen, dass sie über einen verborgenen Kern verfügen, der dem menschlichen Einflussbereich entzogen ist: Das Entzogene ist nicht einfach die verborgene Seite der Objekte, sondern die eigentliche Dimension der Aktivität des Subjekts. Der eigentliche Überschuss ist nicht der Überschuss der Gegenständlichkeit, der sich dem Zugriff des Subjekts entzieht, sondern der Überschuss des Subjekts selbst. Das heißt, was sich dem Subjekt entzieht, ist der „blinde Fleck“, der Punkt, an dem es selbst in die Realität eingeschrieben ist.

Ist das allgegenwärtige Hyperobjekt von heute nicht der Markt? Obwohl uns allen rein rational klar ist, dass er durch die hochkomplexen Aktivitäten der Millionen von Teilnehmern am Leben erhalten wird und dass alles „wirklich Existente“ die Individuen und Dinge sind, die mit den Vorgängen im Markt zu tun haben, erfahren wir ihn als ein unabhängiges und allmächtiges Wesen, als ein Ungetüm, das uns in unserem Tun kontrolliert und steuert. Kein Wunder, dass die ideologische Personifikation mit den Märkten auf ihren Höhepunkt gelangt: Heute, in unseren zynischen und rationalen Zeiten, werden wir alle zu Animisten, wenn wir es mit Märkten zu tun haben; Märkte sprechen wie lebende Personen und bringen ihre „Zufriedenheit“ oder „Besorgnis“ über politische Maßnahmen zum Ausdruck. Und ist es nicht so – um noch weiterzugehen –, dass das ultimative Hyperobjekt die Sprache selbst ist? Dies alles sind Fälle sogenannter Selbsttranszendenz, eines Vorgangs, der von Jean-Pierre Dupuy in seinem Buch The Mark of the Sacred29 ausführlich analysiert wurde und dem entspricht, was bei Lacan der „große Andere“ heißt, was Hegel „Entäußerung“ nannte und was von Marx als „Entfremdung“ bezeichnet wurde (der Ausdruck „Selbsttranszendenz“ wurde von Friedrich von Hayek geprägt): Wie kann aus der Interaktion von Individuen heraus eine „objektive Ordnung“ in Erscheinung treten, die sich nicht auf diese Interaktion reduzieren lässt, sondern von den beteiligten Individuen als substanzielle Instanz erfahren wird, die ihr Leben bestimmt? Es ist nur allzu leicht, eine solche „Substanz“ zu „entlarven“ und anhand einer phänomenologischen Genese aufzuzeigen, wie sie allmählich „verdinglicht“ wird und sich ablagert; das Problem dabei ist nur, dass das Voraussetzen einer solchen geisterhaften oder virtuellen Substanz gewissermaßen zum Menschsein gehört – Menschen, die nicht in der Lage sind, sich zu ihr als solche in Beziehung zu setzen, die sie unmittelbar subjektivieren, nennt man Psychotiker.30

Unsere Aufgabe besteht hier darin, die „subjektivistische“ Standardlesart der Hegel’schen „Versöhnung“ hinter sich zu lassen, deren deutlichstes Beispiel Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein31 ist, die aber auch Marx’ Bezug auf Hegel zugrunde liegt. Nach dieser Lesart erkennt das Subjekt bei der „Versöhnung“ sich selbst in der entfremdeten Substanz (im substanziellen Inhalt), das heißt, es erkennt darin das verdinglichte Produkt seiner eigenen Arbeit, kann es sich dadurch wieder aneignen und in ein transparentes Medium seines Selbstausdrucks verwandeln. Wesentlich an dieser Darstellung ist, dass das Subjekt, der Akteur der Wiederaneignung, im Singular steht (selbst wenn es als Kollektivsubjekt aufgefasst wird); damit entfällt die Dimension des von Lacan sogenannten „großen Anderen“, die minimal „objektivierte“ symbolische Ordnung, die minimale Selbsttranszendenz, die allein die Dimension der Intersubjektivität trägt und erhält – Intersubjektivität lässt sich nie in die unmittelbare Interaktion von Individuen auflösen.

Der Schlüssel zur Vorstellung der Entfremdung liegt in einer ihrem Kern selbst eingeschriebenen Spannung. Erstens gibt es Entfremdung im Sinne von „Verdinglichung“: Ein Inhalt, bei dem es sich faktisch um das Produkt der (kollektiven) Aktivität des Subjekts handelt, wird fälschlicherweise als ein eigenständiges Seiendes erfahren, welches das Subjekt unter Kontrolle hält, sodass es sich im Akt der Befreiung seine entfremdete Substanz wiederaneignen, in ihr sein eigenes Produkt wiedererkennen würde. Dann gibt es Entfremdung im Sinne des von seiner sozialen Substanz entfremdeten einzelnen Subjekts, das sich einer fremden Welt gegenüber als Singularität erfährt. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Kapitalismus und primitiven „organischen“ Gesellschaften: In diesen ist das Subjekt vollständig in seine soziale Substanz eingebunden; es verfügt nicht über individuelle Selbstbestimmung und hat keine Freiheit, doch aus genau diesem Grund ist es auch nicht entfremdet. Im Kapitalismus ist das Subjekt aus seinen substanziellen Bindungen befreit, gerade diese Freiheit aber macht es zu einem entfremdeten Einzelnen, dem seine konkrete soziale Substanz entzogen wurde. In Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie sucht Marx beide Dimensionen zusammenzudenken. Danach ist der Mensch im Kapitalismus in zweierlei Hinsicht entfremdet: Er ist ein seiner sozialen Substanz beraubter abstrakter Einzelner und findet sich darum einer fremden Welt gegenüber, in der er das von ihm selbst Geschaffene nicht erkennt. Dementsprechend geht es bei der proletarischen Revolution darum, dem sozialen Subjekt die Wiederaneignung der entfremdeten sozialen Substanz zu ermöglichen, damit es seine eigene Arbeit in ihr wiedererkennen kann. Doch ist diese Vorstellung einer Ent-Entfremdung als Wiederaneignung der entfremdeten sozialen Substanz so selbstverständlich, wie es scheint? Problematisch an ihr ist die ihr zugrundeliegende Vorstellung einer Selbst-Entfremdung: Es gibt kein Selbst, das der Entfremdung bereits zugrundeliegt. Das Selbst entsteht erst durch seine Entfremdung, die Entfremdung ist sein Konstitutionsmerkmal (oder, um es mit Lacan zu sagen, das Subjekt ist konstitutiv „gebarrt/ausgestrichen“). Die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Entfremdung – die einzig mögliche „Ent-Entfremdung“ – besteht demnach in der Übertragung der „Barre“ auf den substanziellen Anderen selbst (von dem das Subjekt entfremdet ist), im Akzeptieren, dass es (lacanianisch ausgedrückt) „keinen großen Anderen gibt“, dass im Anderen selbst ein Mangel besteht, dass der Andere inkonsistent, von Antagonismen durchzogen, um Unmöglichkeiten herum aufgebaut ist.

Daher sollte man nicht nur die berühmt-berüchtigte, dumme „dialektisch-materialistische“ Ersetzung der „Idee“ durch die Materie als das Absolute (die aus der Dialektik eine Reihe von dialektischen „Gesetzen“ der Materiebewegung macht) zurückweisen, sondern auch Lukács’ differenziertere „materialistische Umkehrung Hegels“, seine Ersetzung von Hegels „idealistischem“ Subjekt-Objekt (der absoluten Idee) durch das Proletariat als das „eigentliche“ historische Subjekt-Objekt. Lukács’ „Umkehrung“ beinhaltet zudem eine formalistische und nichthegelianische Trennung der dialektischen Methode von ihrem Anwendungsmaterial: Hegel beschreibe ganz richtig den Prozess der Entfremdung und Wiederaneignung des „fetischisierten“ oder verdinglichten substanziellen Inhalts durch das Subjekt; nur sehe er nicht, dass es sich bei dem, was er als Selbstbewegung der Idee beschreibt, in Wahrheit um eine historische Entwicklung handelt, die in der Entstehung der substanzlosen Subjektivität des Proletariats und seiner Wiederaneignung der entfremdeten Substanz durch einen revolutionären Akt gipfelt. Wir sollten diese „materialistische Umkehrung“ zurückweisen, da sie noch zu idealistisch bleibt: Indem sie Hegels Idealismus im „Subjekt“ des Prozesses (der „absoluten Idee“) verortet, entgeht ihr der subjektivistische „Idealismus“, der zur eigentlichen Matrix des dialektischen Prozesses gehört (das selbstentfremdete Subjekt eignet sich seinen „verdinglichten“ substanziellen Inhalt wieder an und setzt sich als das absolute Subjekt-Objekt).

Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man diesem „Idealismus“ entkommen kann: Entweder man lehnt Hegels Dialektik als solche ab, verwirft die Vorstellung der subjektiven „Vermittlung“ allen substanziellen Inhalts als irreduzibel „idealistisch“ und schlägt an ihrer Stelle eine völlig andere Matrix vor (Althusser: strukturelle (Über-)Determination; Deleuze: Differenz und Wiederholung; Derrida: differánce; Adorno: negative Dialektik mit ihrem „Vorrang des Objektiven“); oder man lehnt ein solches Hegelverständnis (das auf die Idee der „Versöhnung“ als subjektive Aneignung des entfremdeten substanziellen Inhalts abstellt) als „idealistische“ Missdeutung ab, die gegenüber dem wahren subversiven Kern der Hegel’schen Dialektik blind bleibt. Dies ist die hier vertretene Position: Der Hegel des allen objektiven Inhalt verschlingenden absoluten Subjekts ist eine rückwirkende Einbildung seiner Kritiker, beginnend mit dem späten Schelling und seiner Wende hin zur „positiven Philosophie“. Diese „Positivität“ findet sich in aristotelischer Gestalt auch beim jungen Marx, der im Anschluss an den griechischen Denker wieder positive Kräfte oder Potenziale des Seins geltend machte, die der logischen oder begrifflichen Vermittlung angeblich vorausgehen. Es gilt demnach das von Hegels Kritikern vorausgesetzte Bild von ihm als dem absoluten Idealisten infrage zu stellen – sie greifen den falschen Hegel an, einen Strohmann. Was diese Kritiker nicht denken können, ist die reine Prozesshaftigkeit des „als sein eigenes Resultat“ entstehenden Subjekts. Die Rede vom sich selbst entfremdeten Subjekt ist insofern irreführend, als sie den Anschein erweckt, das Subjekt gehe seiner Entfremdung auf irgendeine Art voraus; dabei wird übersehen, dass es durch die „Selbstentfremdung“ der Substanz – nicht durch die Entfremdung von sich selbst – entsteht.

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