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Posthuman, transhuman, inhuman
ОглавлениеAus der Perspektive Heideggers stellt die globale wissenschaftlich-technische Zivilisation von heute eine Bedrohung für die ontologische Differenz dar – er spricht von einer „Gefahr“, die in unserer Daseinsform liegt. Ihren Ausdruck findet diese Bedrohung in der mehr oder weniger allgemein geteilten Vorahnung, dass wir (die Menschheit) heute vor einschneidenden Veränderungen stehen, vor dem Eintritt in eine „posthumane“ Daseinsweise. Diese Veränderungen werden manchmal als Bedrohung für den ureigenen Kern des Menschseins dargestellt, manchmal feiert man sie als Übergang in eine neue Singularität (ein Kollektivbewusstsein, eine neue Cyborg-Existenz oder eine andere Version von Nietzsches Übermensch). Empfunden aber werden diese Veränderungen in theoretischer wie praktischer Hinsicht von uns allen – wer vermag die Implikationen und Konsequenzen zu ermessen, die sich mit der Biogenetik verbinden, mit neuen Prothesenimplantaten, die mit unserem biologischen Körper verschmelzen werden, den neuen Möglichkeiten, nicht allein unsere Körperfunktionen, sondern auch unsere Denkvorgänge zu kontrollieren und zu regulieren?
Innerhalb dieser auf die „Überwindung des Humanen“ gerichteten Denkhaltung bestehen mit dem Posthumanismus und dem Transhumanismus zwei Tendenzen nebeneinander, die vagen Bezug zur Dualität von Kultur und Wissenschaft haben. Bei den „Posthumanisten“ (Donna Haraway und anderen) handelt es sich um Kulturtheoretiker, die beobachten, wie der heutige gesellschaftliche und technologische Fortschritt unsere Ausnahmestellung als Menschen immer weiter aushöhlt: Die Ökologie lehrt, dass wir letztlich eine der Tierarten auf der Erde sind, dass das Tierhafte zu unserer innersten Natur gehört, dass es keine eindeutige ontologische Kluft gibt, die uns vom Tierreich trennt. Gleichzeitig zeigt die heutige Wissenschaft und Technik immer deutlicher, wie sehr wir in unserer innersten Identität auf technische Gerätschaften und Krücken angewiesen sind – was wir sind, sind wir durch technologische Vermittlung. Während der „Mensch“ für die Posthumanisten eine bizarre Spezies tierhafter Cyborgs ist, berufen sich die „Transhumanisten“ (Raymond Kurzweil und andere) auf die jüngsten wissenschaftlichen und technologischen Innovationen (Künstliche Intelligenz, Digitalisierung), die auf die Entstehung einer Singularität, einer neuen Form der kollektiven Intelligenz hindeuten.
Diese transhumanistische Richtung bildet eine vierte Stufe in der Entwicklung des Antihumanismus: Sie entspricht weder dem theozentrischen Antihumanismus (aufgrund dessen die religiösen Fundamentalisten in den USA unter „Humanismus“ die säkulare Kultur verstehen) noch dem „theoretischen Antihumanismus“ französischer Prägung, der die strukturalistische Revolution in den 1960er-Jahren begleitete (Althusser, Foucault, Lacan), aber auch nicht der „tiefenökologisch“-antihumanistischen Reduktion des Menschen auf nur eine Tierart unter anderen, die allerdings durch ihre Hybris das Gleichgewicht des Lebens auf der Erde durcheinandergebracht hat und nun mit der berechtigten Rache von Mutter Erde konfrontiert ist. Allerdings ist auch die vierte Stufe nicht ohne geschichtlichen Hintergrund. Im ersten Jahrzehnt der Sowjetunion genoss der sogenannte Kosmismus außerordentliche Popularität: Diese ziemlich merkwürdige Verbindung aus Vulgärmaterialismus und gnostischer Spiritualität bildete eine okkulte Schattenideologie, die obszöne Geheimlehre des sowjetischen Marxismus.
Heute, so wirkt es, tritt dieser „Kosmismus“ in einer neuen Welle des „posthumanen“ Denkens abermals in Erscheinung. Die spektakuläre Entwicklung der Biogenetik (Klonen, unmittelbare Eingriffe in die DNA) löst die Grenzen zwischen Mensch und Tier einerseits sowie zwischen Mensch und Maschine andererseits allmählich auf und lässt die Vorstellung aufkommen, dass wir uns an der Schwelle zu einer neuen Form von Intelligenz befinden, einer „mehr als menschlichen“ Singularität, für die es keine körperlichen Beschränkungen mehr geben wird, auch nicht die der geschlechtlichen Fortpflanzung. Diese Aussicht löste eine seltsame Scham aus: eine Scham über unsere biologischen Grenzen, unsere Sterblichkeit, die lächerliche Art und Weise, wie wir uns fortpflanzen – Letztere nannte Günther Anders die „prometheische Scham“, bei der es sich ganz einfach um die Scham darüber handelt, dass wir „geboren und nicht hergestellt werden“.12 Nietzsches Vorstellung, dass wir als die „letzten Menschen“ die Grundlage für unsere eigene Auslöschung und die Ankunft des neuen Übermenschen schaffen, bekommt damit eine wissenschaftlich-technische Wendung. Dennoch sollten wir diese „posthumane“ Haltung nicht auf den paradigmatisch modernen Glauben an die totale technische Beherrschung der Natur reduzieren – was wir gegenwärtig erleben, ist vielmehr eine beispielhafte dialektische Umkehrung: Das Schlagwort der heutigen „posthumanen“ Wissenschaften lautet nicht mehr Beherrschung, sondern überraschende (kontingente, nicht geplante) Emergenz. Jean-Pierre Dupuy registriert eine merkwürdige Umkehrung der cartesianisch-anthropozentrischen Überheblichkeit, der sich die menschliche Technik verdankte, eine Umkehrung, die in der heutigen Robotik und Genetik, der Nanotechnologie und der aktuellen Forschung zu Künstlichem Leben und Künstlicher Intelligenz deutlich zu erkennen sei:
Womit lässt sich erklären, dass aus der Naturwissenschaft ein derart „riskantes“ Unternehmen wurde, dass sie führenden Wissenschaftlern zufolge heute die Hauptbedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt? Manche Philosophen antworten auf diese Frage, dass sich Descartes’ Traum vom Menschen – als künftigem „Beherrscher und Besitzer der Natur“ – zum Schlechten gewendet habe und wir uns dringend wieder auf die „Beherrschung der Beherrschung“ besinnen sollten. Sie haben nichts verstanden. Sie sehen nicht, dass die Technologie, die sich durch die „gegenseitige Annäherung“ aller Fachgebiete an unserem Horizont abzeichnet, gerade auf die Nichtbeherrschung hinarbeitet. Der Ingenieur von morgen wird ein Zauberlehrling sein, aber nicht aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit, sondern weil er sich dafür entschieden hat. Er wird sich mit komplexen Strukturen oder Ordnungen „versorgen“ und durch die Erforschung ihrer funktionellen Eigenschaften herauszufinden versuchen, was sie zu leisten vermögen – und damit einen aufsteigenden, von unten nach oben verlaufenden Ansatz verfolgen. Er wird mindestens ebenso sehr Forscher und Experimentierender wie Ausführender sein. Sein Erfolg wird sich eher an dem Grad der Überraschung bemessen, die ihm seine eigenen Schöpfungen bereiten, wie an dem Grad der Übereinstimmung seiner Umsetzungen mit der Liste vorgefertigter Aufgaben.13
Der Motor dieser Selbstaufhebung des Menschen ist der anhaltende wissenschaftliche Fortschritt, der sich in der Evolutionsbiologie, der Neurologie und kognitivistischen Hirnforschung verzeichnen lässt und der sich mit dem Versprechen der vollständigen wissenschaftlichen Selbstobjektivierung des Menschen verbindet: Die Evolutionstheorie kann erklären, wie der Mensch allmählich aus dem Tierreich hervorging, und in diesem Sinne hat sie auch eine Erklärung für sich selbst (für das Aufkommen kognitiver Mechanismen, die es dem Menschen ermöglicht haben, die wissenschaftliche Weltsicht zu entwickeln). Dennoch bleibt die Frage: Stellt diese Operation, die Schleife zu schließen (also die Selbsterklärung), wirklich einen Erfolg dar? Man muss hier absolut deutlich sein und sagen, dass diese wissenschaftlichen Befunde trotz ihrer Mängel in gewisser Hinsicht einfach wahr sind und ganz offensichtlich zutreffen. Und darum sollte man sich auch auf keine der obskurantistischen und spiritualistischen Bezüge auf irgendeine geheimnisvolle Dimension einlassen, die sich der Wissenschaft angeblich entzieht. Sollten wir uns dann einfach über diese Aussicht freuen und sie begrüßen? Die philosophieinterne Hauptformation des Widerstands gegen eine völlige wissenschaftliche Selbstobjektivierung des Menschen, die dennoch die wissenschaftlichen Leistungen anerkennt, ist die neukantianischtranszendentale Staatsphilosophie (die heute exemplarisch von Jürgen Habermas vertreten wird). Nach ihr ist unsere Selbstwahrnehmung als frei und verantwortlich Handelnde nicht einfach eine notwendige Illusion, sondern vielmehr das transzendentale Apriori aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Habermas zufolge verwickelt sich ein Wissenschaftler in dem Versuch, die subjektive Erfahrung der ersten Person aus der objektivierenden Perspektive der dritten Person zu untersuchen, in einen performativen Widerspruch, weil die Objektivierung die Teilhabe an einem intersubjektiv begründeten System von Sprachpraktiken voraussetzt, dessen normative Valenz den Wissenschaftler in seiner kognitiven Aktivität bestimmt.
Habermas charakterisiert diesen intersubjektiven Bereich rationaler Geltung als die Dimension des „objektiven Geistes“, die nicht von den phänomenologischen Profilen der Gemeinschaft der von ihm umfassten Einzelbewusstseine her verstanden werden kann: Der wesentlich intersubjektive Status des normativen Bereichs schließt jeden Versuch aus, seine Wirkung oder Entstehung anhand von Entitäten oder Prozessen zu erklären, die einfacher sind als das System selbst. (Lacans Bezeichnung für diesen „objektiven Geist“, der sich weder auf das Reale der rohen Realität noch auf das Imaginäre unserer Selbsterfahrung zurückführen lässt, ist natürlich der große Andere.) Weder die phänomenologische (imaginäre) noch die neurobiologische (reale) Profilbildung der Teilhaber des Systems kann als Konstitutionsbedingung für diesen gesellschaftlichen „objektiven Geist“ herangezogen werden.
Ins gleiche Horn wie Habermas stößt auch Robert Pippin: Selbst wenn es Wissenschaftlern eines Tages gelingen sollte, den Menschen vollständig zu naturalisieren, und sie erklären könnten, wie das Selbstbewusstsein aus der natürlichen Evolution hervorgegangen ist, so wird dies für die Philosophie folgenlos bleiben:
Es ist selbstverständlich möglich und wichtig, dass Forscher eines Tages entdecken werden, weshalb Tiere mit menschlichen Gehirnen jene Dinge tun können und Tiere ohne menschliche Gehirne nicht, und durch irgendeine Verbindung von Astrophysik und Evolutionstheorie wird man erklären können, weshalb menschliche Wesen die Gehirne haben, die sie haben. Aber das sind keine philosophischen Probleme und es ergeben sich daraus auch keine.14
Es ist natürlich die grundlegende transzendentale Wende, die Pippin hier vollzieht: Es geht hier nicht darum, dass das Selbstbewusstsein ein Phänomen darstellt, welches zu komplex ist, um wissenschaftlich erklärt werden zu können. Vielmehr geht es darum, dass jede psychoneuronale Analyse in diesem Fall schlicht irrelevant ist, da sie sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt als das reine Selbstbewusstsein, bei dem es sich nicht um eine psychische Tatsache handelt, sondern um ein Apriori, das all unserem Tun und damit auch der neurobiologischen Forschung tragend zugrunde liegt. Wir stoßen hier an eine gewisse Grenze. Es stellt sich die Frage, wie wir den Wahrheitsbereich der Wissenschaft relativieren. Genügt der transzendentale Ansatz oder muss dieser durch eine Beschränkung auf der Inhaltsebene gestützt werden? Oder, etwas vereinfacht gefragt: Genügt es, festzustellen, dass die positive Wissenschaft sich von ihrer eigenen Möglichkeit keine Rechenschaft geben kann, dass sie das unabhängige Verfahren des Argumentierens, welches sie kennzeichnet, voraussetzen muss? Oder sollte dieser transzendentale Punkt durch irgendeinen Nachweis ergänzt werden, dass wissenschaftliche Erklärungen an Grenzen stoßen („Die Hirnforschung kann nicht wirklich erklären, wie der menschliche Geist funktioniert“)?
Man muss zugeben, dass manche wissenschaftlichen Experimente Ergebnisse liefern, die sich nicht einfach als irrelevant abtun lassen. Bei einem kürzlich vom schwedischen Karolinska-Institut durchgeführten Experiment stellte sich heraus, dass die Erfahrung, sich in seinem eigenen Körper zu befinden, nicht so selbstverständlich ist, wie man meinen könnte: Neurowissenschaftler „haben bei den Teilnehmern, die in einem Hirnscanner lagen, die Illusion hervorgerufen, sie befänden sich außerhalb ihres Körpers. Dann nutzten sie diese Illusion, um die Probanden nach deren Empfindung an unterschiedliche Stellen in einem Raum zu ‚teleportieren‘ und den Nachweis zu führen, dass der empfundene Ort des Körperselbst sich aus Aktivitätsmustern in bestimmten Hirnregionen herauslesen lässt.“ Das Gefühl, „seinen Körper zu besitzen“, sollte darum nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden: Es ist „eine überaus vielschichtige Aufgabe, bei der es auf die ständige Integration von Informationen aus unseren verschiedenen Sinnen ankommt, damit die Empfindung, wo sich der Körper in Bezug auf die Außenwelt befindet, ihre Genauigkeit bewahrt“.15
Experimenten dieser Art kommt eine doppelte Bedeutung zu. Erstens liefern sie ein klares Argument gegen die spiritualistische Deutung der außerkörperlichen Erfahrung als Beweis dafür, dass unsere Seele nicht irreduzibel in unserem Körper angesiedelt sei, da sie außerhalb von ihm frei flottieren könne: Wenn sich die außerkörperliche Erfahrung durch technologische Manipulation unseres Körpers hervorrufen lässt, dann ist die Erfahrung unseres „inneren“ Selbst unserem Körper strikt immanent. Zweitens problematisieren solche Experimente zumindest auch die für die Philosophie der Endlichkeit äußerst wichtige Vorstellung, dass wir irreduzibel „eingebettet“ sind, dass unsere – auf die Perspektive unseres (sterblichen) Körpers beschränkte – Selbsterfahrung den ultimativen Horizont unserer gesamten Erfahrung darstellt: Das Experiment deutet darauf hin, dass unsere „verkörperte“ Selbsterfahrung das Ergebnis komplexer neuronaler Prozesse ist, die auch fehlschlagen können.
Daher braucht es einen nuancierteren Ansatz, mit dem wir die von Habermas und Pippin vertretene transzendental-idealistische Position hinter unter uns lassen können. Wilfrid Sellars gibt der Dualität von (materialistischem) Inhalt und (transzendentaler) Form eine entscheidende materialistische Wendung: Er akzeptiert die Kluft zwischen Methodologie (Vorrang des transzendentalen Horizonts) und Ontologie (vollständige Naturalisierung) – und erkennt damit an, dass die unmittelbare Naturalisierung strikt vorhegelianisch ist –, um dann auf eindeutig materialistische Weise, „den Vorrang des naturwissenschaftlichen Bildes zu verteidigen.“
Bekanntlich insistiert er darauf, dass „die Wissenschaft in der Dimension der Weltbeschreibung und Welterklärung das Maß aller Dinge darstellt, der seienden, dass sie sind, und der nichtseienden, dass sie nicht sind“. […] Dennoch ist das manifeste Bild als ursprüngliches Medium für das Normative weiter unentbehrlich. Sofern dieser normative Rahmen nicht fortbesteht, so warnte Sellars, „wird der Mensch selbst nicht fortbestehen“. […] Die Wissenschaft kann uns nicht dazu bewegen, unser manifestes Selbstverständnis als rational-verantwortliche Akteure aufzugeben. Dies nämlich würde bedeuten, dass wir auf die Quelle des Imperativs verzichten müssten, um sie der Revision zu überlassen. Es ist unser manifestes Selbstverständnis als Personen, das uns qua Gemeinschaft rationaler Akteure mit dem ultimativen Horizont rationaler Zweckhaftigkeit ausstattet, vor dessen Hintergrund wir uns dem Versuch verschreiben, die Welt zu verstehen. Gäbe es diesen Horizont nicht mehr, würde jede kognitive Tätigkeit und mit ihr die wissenschaftliche Erforschung der Realität gegenstandslos werden.16
Entsprechend definiert Ray Brassier den Materialismus anhand des marxistisch klingenden Begriffs der „Determinierung in letzter Instanz“, den es dem ähnlichen Begriff der Überdeterminierung entgegenzusetzen gilt: „Determinierung in letzter Instanz“ ist die Kausalität, die es jedem Objekt X allgemein möglich macht, seine eigene, „wirkliche“ Erkenntnis zu determinieren, doch nur in letzter Instanz.17 Überdeterminierung ist transzendental, denn beim Transzendentalismus geht es darum, dass man sich als Subjekt nie vollständig objektivieren, nie vollständig auf einen Teil der „objektiven“ Realität vor sich zurückführen kann, weil eine solche Realität durch die Subjektivität immer schon transzendental konstituiert ist. Egal, wie weit es mir gelingt, mich als ein Phänomen in der „großen Kette des Seins“ zu begreifen, als das von einem Netz natürlicher (oder übernatürlicher) Ursachen determinierte Resultat, dieses kausale Bild ist durch den transzendentalen Horizont, der meine Annäherung an die Welt strukturiert, immer schon überdeterminiert. Dieser transzendentalen Überdeterminierung stellt Brassier die naturalistische Determinierung in letzter Instanz gegenüber: Ein ernstzunehmender Materialist muss davon ausgehen, dass jeder subjektive Horizont, in dem die Realität erscheint, jede subjektive Konstituierung oder Vermittlung der Realität, letztlich durch ihren Ort innerhalb der objektiven Realität determiniert sein muss und entsprechend als ein Teil des alles umfassenden Naturgeschehens aufzufassen ist.18
Die große Frage verfolgt uns also weiter: Was – wenn es überhaupt so etwas gibt – widersteht der völligen wissenschaftlichen Selbstobjektivierung? Obwohl die Objektorientierte Ontologie (OOO) im Gegensatz zur wissenschaftlichen Selbstobjektivierung auf die Wiederverzauberung der Welt aus ist, stimmt sie mit der wissenschaftlichen Sichtweise darin überein, dass sich der ontologisch-transzendentale Horizont auf eine von vielen ontischen Beziehungen zwischen Gegenstandsobjekten reduzieren lässt. Darum bezeichnet Bryant seine Sicht zu Recht als „Ontikologie“, im Unterschied zur „Ontologie“. Unser Problem betrifft hingegen die Frage, wie man Materialist sein soll, ohne zur ontischen Sichtweise zurückzukehren. Der in dem vorliegenden Buch entfalteten Antwort nach handelt es sich bei der Dimension, die der Selbstobjektivierung widersteht, nicht um die menschliche Selbsterfahrung, sondern um den „unmenschlichen“ Kern dessen, was der Deutsche Idealismus als „Negativität“ bezeichnet, was bei Freud „Todestrieb“ heißt und selbst dessen, was Heidegger „ontologische Differenz“ nannte: um eine Lücke oder Kluft, die die allein ontische Sicht auf den Menschen, nach der er nur ein Objekt unter anderen ist, für immer ausschließt.19 Diese Dimension liegt jenseits jedes transzendentalen Horizonts, sie ist auf das Erreichen des Ansich gerichtet; das Ansich aber ist nicht „da draußen“, wir erreichen es nicht dadurch, dass wir unsere subjektiven Hinzufügungen von der Realität wieder abziehen; das Ansich ist „hier“, in genau dem subjektiven Überschuss über das hinaus, was uns als objektive Realität erscheint.
Um diesen Überschuss zu erkennen, sollte man zwischen Posthumanismus und der Vorstellung von Postsubjektivität unterscheiden: Man kann sich ohne Weiteres einen Humanismus denken, der auf der Ablehnung der cartesianischen Subjektivität basiert (im Sinne von „realen Menschen, die wirklich im Leben stehen“, nicht der toten Abstraktion des Cogito), und andererseits eine antihumanistische Subjektivität (das Subjekt als einen ungeheuerlichen Exzess, der die menschliche Lebenswelt in ihren Begrenzungen destabilisiert). Die vorherrschende Form des Humanismus verbindet sich nichtsdestotrotz mit der Ablehnung beider Begriffe: Weder der Humanismusgedanke noch die Subjektvorstellung sind ein richtiges Allgemeines. Die von ihnen aufrechterhaltene Form des allgemeinen menschlichen Subjekts nämlich stützt sich auf eine versteckte Norm (die Bevorzugung des westlichen weißen Mannes) und schließt damit andere aus, die ihrem unausgesprochenen Einheitsmodell nicht entsprechen (Frauen, Menschen anderer Hautfarbe und so weiter).
Wir setzen hier auf die Hervorhebung des Abstands, der das Subjekt vom Menschen trennt, und auf die Behauptung des antihumanen Subjekts: Das „leere“ cartesianische Subjekt ($) ist keine Abstraktion von der Fülle des wirklichen Lebens, sondern eine leere Urform, die dann mit dem „menschlichen“ Stoff gefüllt wird („dem Reichtum einer Person“). Dieses „leere“ Subjekt ist letztlich nichts anderes als Ausschuss, es ist das, was nach Abzug alles „menschlichen“ Inhalts übrigbleibt. Und als ebensolcher Ausschuss ist dieses Subjekt allgemein: In jeder Struktur von Subjektpositionen ist die Allgemeinheit in deren „Teil ohne Anteil“ verkörpert, in dem Element, für das es keinen richtigen Platz in der Struktur gibt, dem Element, das für immer aus den Fugen ist. Demnach haben wir es mit zwei entgegengesetzten Formen von Allgemeinheit zu tun: der normativen Allgemeinheit eines Modells, einer partikularen Form, bei der eine ideologische Allgemeinheit zu ihrer vollständigen wirklichen Existenz gelangt (der westliche weiße Mann als ein Modell des Humanismus, als ein Wesen, das „vollständig menschlich“ ist), und der Allgemeinheit, die in dem Ausschuss der Struktur verkörpert ist (ein Subjekt ist insofern präzise allgemein, als es von allen gesellschaftlichen Positionen ausgeschlossen ist, sodass nichts übrigbleibt als die leere Form der Allgemeinheit).
Kant, der als Erster die Idee der Spaltung zwischen dem Subjekt (der Leere der reinen Negativität) und der Person (dem jeweiligen Reichtum des emotionalen usw. „pathologischen“ Inhalts) einführte, ist darum der erste philosophische Antihumanist. Der Humanismus ist vormodern, vorcartesianisch und reduziert den Menschen darauf, höchster Punkt der Schöpfung zu sein, statt ihn als ein Subjekt zu begreifen, das außerhalb der Schöpfung steht. (In gewissem Sinne ist auch die moderne Wissenschaft bereits „posthuman“, da sich ihr Universum nicht auf unsere normale menschliche Realität zurückführen lässt. Wie Richard Feynman vor Jahrzehnten sagte, ist niemand imstande, die Quantenphysik wirklich zu „verstehen“, weil „verstehen“ heißt, die Dinge in den Worten unseres Alltagsverständnisses der Realität wiederzugeben – das Quantumuniversum ist und bleibt unserer Lebenswelt für immer fremd, „kontraintuitiv“. [Die Kluft, die die moderne Wissenschaft von unserem normalen Realitätsverständnis trennt, öffnet sich bereits mit Galileo.])
Die Vorstellung, dass die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) eine Bedrohung für unsere Identität als Menschen darstellt, zählt zu den beliebten Themen unserer öffentlichen Debatten. Dabei liege, so heißt es, die eigentliche Gefahr gar nicht so sehr in der Aussicht, dass die Arbeitslosigkeit mit intelligenten Robotern, die uns nach und nach ersetzen, explodieren wird (wäre eine solche Aussicht im Übrigen nicht ein Segen in einer rational geordneten Wirtschaft?). Was aber ist, wenn KI-Maschinen Selbstbewusstsein ausprägen werden (in irgendeinem transhumanen Sinne, der sich uns nicht erschließt) und ihr Bewusstsein weit oberhalb unseres menschlichen Vermögens in einem lebenden Wesen vereinen, wenn sie mit uns spielen, uns als Spielzeuge verwenden oder uns einfach nicht beachten, vielleicht gar vernichten? Welche Beziehung werden wir mit einer solchen höheren Intelligenz eingehen? Werden wir überhaupt eine Beziehung in einem bedeutsamen Sinne mit ihnen eingehen können? Wird unsere Begegnung mit ihnen traumatisch sein und zur Zerstörung führen (dem Ende der Menschheit), wird sie uns eine beschwingende Selbstüberschreitung bescheren (in der wir mit dieser Intelligenz verschmelzen und dann wohlig in ihr baden) oder wird etwas völlig anderes aus ihr folgen?
Wenn davon die Rede ist, dass die moderne Wissenschaft und Technologie eine Bedrohung für unsere menschliche Identität darstellen, sollten wir als Philosophen zunächst einmal die philosophische Grundfrage stellen: Von welchem Begriff des „Humanen“, der spezifisch menschlichen Dimension, lassen wir uns leiten; welche Vorstellung setzen wir als impliziten Maßstab für das Menschsein voraus, wenn wir von derartigen Bedrohungen sprechen? Für Heidegger etwa ist der traditionelle metaphysische Humanismus selbst nicht imstande, das Wesen des Menschseins zu erfassen; daher sind die humanistischen Proteste gegen die Herrschaft der Technik letztlich vergeblich. Von Heidegger sollten wir uns noch in einem anderen Punkt belehren lassen und aus seinem Beharren auf dem Thema der Endlichkeit und des Scheiterns lernen: Das Menschsein kennzeichnet in seinem Kern selbst eine Struktur der immanenten Beschränkung, der nicht „vollständigen“ Übereinstimmung mit dem, was man ist, der grundlegend durchkreuzten eigenen Identität. Paradoxerweise verlieren wir das Humane selbst, wenn wir diese Schranke oder dieses Hindernis entfernen und uns ein „vollständiges“ menschliches Wesen denken, das ohne seinen Zug ins Perverse auskommt. Anders gesagt, ist genau diese immanente Beschränkung, das Scheitern daran, zu sein, was man ist, für das Menschsein konstitutiv. Das ist der Grund, warum Menschen sich in ihrer Fantasie immer einen Zustand ausmalen, in dem sie schließlich „ganz Mensch“ wären – doch ganz oder vollständig Mensch sein heißt so viel wie übermenschlich zu sein. Es ist jedoch so, dass ebendieses Scheitern am vollständigen Menschsein am Ursprung dessen steht, was wir als „kulturelle Kreativität“ bezeichnen, das heißt, dass es uns immer wieder anstachelt, über uns selbst hinauszugehen. Anders gesagt, wandelt sich die Emanzipation des Menschen aus posthumaner Sicht in die Emanzipation vom Menschen selbst, von den Beschränkungen bloßen Menschseins. In diesem Umschwung liegt eine tiefere hegelsche Notwendigkeit: Das Menschsein impliziert seinem Begriff selbst nach eine Unvollständigkeit, eine Lücke, welche den Menschen vom vollständigen Menschsein trennt, sodass – ebenso wie für Hegel ein vollkommener Staat kein Staat mehr ist, sondern eine religiöse Gemeinschaft – ein vollkommener Mensch nicht länger menschlich ist. Diese Ambiguität ist längst nicht nur ein theoretisches Problem, sondern betrifft schon unser Alltagsleben – wie es Franco Berardi prägnant zum Ausdruck bringt, „wird die neuronale Plastizität die nächste Spielwiese sein“. „Das Kartieren der Abläufe im Gehirn wird in den nächsten Jahrzehnten die Hauptaufgabe der Wissenschaft sein, während es für die Technologie in der Hauptsache darum gehen wird, die Abläufe im Kollektivhirn zu verdrahten.“20 Berardi ist ebenfalls zuzustimmen, wenn er betont, dass eine solche „Verdrahtung“ sich traumatisch auswirken wird: „Die Störung erfasst nicht nur die psychische Dimension des Unbewussten, sondern genauso das Nervensystem, das in seiner ganzen Struktur traumatischen Beeinträchtigungen, Überlastungen und Abbrüchen unterliegt. Die Anpassung des Gehirns an die neue Umgebung bringt sehr großes Leiden mit sich, sie entfesselt einen Sturm an Gewalt und Irrsinn.“21
Obwohl Berardi in seiner Diagnose zuzustimmen ist, sollte man sich gleichwohl gegen seine Neigung aussprechen, das fortlaufende „Verdrahten der Abläufe im Kollektivhirn“ vom Kampf zwischen der Selbstorganisation sensibler Singularitäten und dem Neurototalitarismus („der autonomen Organisation geistiger Arbeiter oder der Matrix des Biofinanzkapitalismus“22) her zu verstehen. Eine solche Konzentration auf den Antagonismus birgt die Gefahr, sämtliche „schlechte“ Aspekte dieser „Verdrahtung“ – das Leiden und den Orientierungsverlust, die sie bewirkt – allzu schnell ihrer kapitalistisch-totalitären Kooptation zuzuschreiben, während man ihre „befreienden“ Potenziale rühmt, die freigesetzt würden, wenn die „Verdrahtung“ der Kontrolle durch die Selbstorganisation geistiger Arbeiter unterliegt. Bei einem solchen Ansatz bleibt die ungemein gewaltsame und traumatische Wirkung der „Verdrahtung“ unserer geistigen Tätigkeit unberücksichtigt: Dies ist ein Prozess, der den eigentlichen Kern dessen, was es heißt, Mensch zu sein, buchstäblich aushöhlt.