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Die Epigenese des Subjekts

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Catherine Malabou wirft in ihrem Buch Avant demain die Frage auf, wie wir das transzendentale Apriori und die Genese zusammendenken sollen. Stellt das transzendentale Apriori einfach den zeitlosen Rahmen dar, der jedes (zeitliche, empirische) Werden bedingt, oder hat es seine eigene Entstehungsgeschichte? Können wir das Werden des transzendentalen Apriori denken, ohne dass wir die eigentliche Dimension des Transzendentalen verlieren? An diesem sensibelsten Punkt seines Theoriegebäudes greift Kant auf den Ausdruck „Epigenese“ (nicht „Genese“) zurück, der die phänotypische Verwirklichung eines zugrundeliegenden genotypischen Musters bezeichnet – etwa das Lebendigwerden eines genetischen Codes in einem konkreten Einzelnen oder, für Kant, die Verwirklichung des transzendentalen Rahmens in einer konkreten Bewusstseinserfahrung der Realität. Malabou zieht hier die Parallele zur Unterscheidung zwischen dem Hypozentrum und dem Epizentrum eines Erdbebens: Bei dessen Epizentrum handelt es sich um den Punkt, an dem das unterirdische Hypozentrum die Oberfläche berührt, sich verwirklicht, an der Oberfläche erscheint. Auf entsprechende Weise bildet die Epigenese das Ereignis, das Zusammentreffen kontingenter Objekte in der Erfahrung, bei dem sich das transzendentale Netzwerk verwirklicht. Heißt das jedoch, dass es sich dabei bloß um ein Sekundärphänomen handelt, um den Prozess der empirischen Umsetzung eines vorgegebenen Codes oder einer entsprechenden Formel? Wie die Biologie betont, sorgen die kontingenten Umstände der Verwirklichung eines genetischen Codes nicht nur für dessen selektive Auslese, indem sie bloß manche seiner Bestandteile aktivieren, sondern sie können diesen Code selbst auch verändern, indem sie ihn zur Übernahme einiger der kontingenten Abweichungen veranlassen. Malabou geht hier einen Schritt weiter und betont, dass sich die Epigenese nicht auf ein blindes Zusammenspiel von genetischem Code und Umwelt reduzieren lässt: Sie ist vielmehr ein aktiver Selektionsprozess, der dem Hören einer Partitur durch ihren Interpreten oder dem interpretierenden Lesen eines literarischen Textes gleicht – kurz gesagt, handelt es sich um eine hermeneutische Tätigkeit, bei der der „Sinn die biologische Notwendigkeit berührt“. Dieser Aspekt wird von der Biogenetik in aller Regel vernachlässigt, weshalb sie die eigentliche Subjektivitätsdimension verfehlt. Folgt man dieser Argumentation jedoch konsequent, muss man genau diese Vorstellung des transzendentalen Apriori als festen formalen Rahmen, der seiner Verwirklichung vorausgeht, problematisieren. Das heißt: Wenn wir das transzendentale Apriori als eine Art genetischen Codes unseres Geistes auffassen, der der Aktivität unseres Geistes in seiner Auseinandersetzung mit der äußeren Realität vorausgeht, fetischisieren wir es zu einer Art von unzugänglichem Ansich, das uns nur durch partielle (selektive, verdrehte) Deutungen gegeben ist. Das transzendentale Apriori aber ist nicht nur immer interpretiert, historisch geprägt, nie „als solches“ gegeben; sondern „transzendental“ ist das Raster unserer Interpretation selbst, der Rahmen unserer – des Subjekts – lückenhaften, einseitig verzerrten Realitätsdeutung.

Das Subjekt entsteht in/aus der Epigenese, es ist der Punkt/Akteur der epigenetischen Interpretation/Verwirklichung seiner gegebenen Natur: Durch epigenetische Aktivität ergreift es – empfängt, verwirklicht, bezieht es sich auf – seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und bemächtigt sich seiner Spontaneität. Es gibt zwar das Hypozentrum der Selbstbestimmung, den angeborenen unzugänglichen Hintergrund des Selbst, dieses Ansich aber muss in der (Selbst-)Erfahrung erscheinen, und diese Erfahrung ist immer schon einseitig, interpretiert, historisch geprägt. Und der entscheidende Punkt ist wiederum, dass dieses Ansich noch nicht transzendental ist: Es gibt keinen apriorischen transzendentalen Rahmen, der dann interpretativ angeeignet wird – das „Transzendentale“ ist immer vom Ansich entfernt; „transzendental“ ist genau der Rahmen oder das Raster dieser Entfernung. Anders ausgedrückt, ist es gerade die Unzugänglichkeit des wahren noumenalen Selbst, die die Subjektwerdung ermöglicht, das heißt den Raum der Freiheit der autonomen Selbsterfindung des Subjekts eröffnet – „transzendental“ ist Kants Bezeichnung für diese Entzogenheit des noumenalen Ursprungs der Subjektivität. Die Lücke, die den Ursprung von seiner subjektiven Aneignung trennt, besteht nicht nur in epistemologischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht; sie ist der Raum der Freiheit, die Beschränkung, die das Subjekt zur autonomen Selbsterfindung hindrängt.30 Demnach kommt es also darauf an, eben diese Beschränkung der Subjektivität als die letzte Instanz ihrer freien, autonomen Kreativität zu begreifen.

Worin besteht daher diese neue Dimension, die in der Lücke selbst hervortritt? Es ist die Dimension des transzendentalen Ich selber, die Dimension seiner „Spontaneität“: der dritte Ort zwischen den Phänomenen und dem Noumenon selbst, die Freiheit/Spontaneität des Subjekts, die – obwohl sie natürlich nicht die Eigenschaft eines Erscheinungsdings ist, sodass sie sich nicht als trügerischer Schein abtun lässt, der die noumenale Tatsache verbirgt, dass wir vollständig in einer unverfügbaren Notwendigkeit gefangen sind – auch nicht einfach noumenal ist. In einem geheimnisvollen Unterkapitel seiner Kritik der praktischen Vernunft mit dem Titel „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ versucht sich Kant an einer Antwort auf die Frage nach den Folgen, die es für uns hätte, wenn wir Zugang zum Feld der Noumena bekommen und Kenntnis vom Ding an sich erlangen würden. Danach würde uns die unmittelbare Einsicht in den noumenalen Bereich gerade der Spontaneität berauben, die den Kern der transzendentalen Freiheit bildet; sie würde leblose Automaten aus uns machen oder, zeitgemäß ausgedrückt, „denkende Maschinen“. Die Folgerungen aus dieser Passage sind viel radikaler und paradoxer, als es vielleicht scheint. Wenn wir ihre Widersprüchlichkeit einmal beiseitelassen (wie könnten Furcht und leblose Gestik nebeneinander bestehen?), lautet der Schluss, den sie nahelegt, dass wir – wir Menschen – auf der phänomenalen und auch auf der noumenalen Ebene ein „reiner Mechanismus“ ohne Autonomie und Freiheit sind: Als Erscheinungen sind wir nicht frei, sind wir Teil der Natur, ein „reiner Mechanismus“, gänzlich Kausalzusammenhängen unterworfen, Teil des Ursache-Wirkungs-Gefüges; und auch als Noumena sind wir nicht frei, sondern auf einen „reinen Mechanismus“ reduziert. (Bildet die von Kant beschriebene Person mit ihrem unmittelbaren Wissen vom noumenalen Bereich nicht eine genaue Entsprechung zum utilitaristischen Subjekt, dessen Handeln vollständig vom Lust-Unlust-Kalkül determiniert ist?) Unsere Freiheit besteht lediglich in einem Raum zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen. Daher ist es nicht so, dass Kant die Kausalität einfach auf den Phänomenbereich beschränkt, um behaupten zu können, dass wir auf der noumenalen Ebene freie und selbstbestimmte Akteure sind: Frei sind wir nur insofern, als unser Horizont der Horizont der Erscheinungen ist und uns das Feld des Noumenalen unzugänglich bleibt. Kants eigene Darlegungen sind hier irreführend, da er das transzendentale Subjekt häufig mit dem noumenalen Ich gleichsetzt, dessen phänomenale Erscheinung die empirische „Person“ ist, und so vor seiner eigenen Einsicht zurückweicht, dass und inwiefern das transzendentale Subjekt eine rein formal-strukturelle Funktion des Gegensatzes von Noumenalem und Phänomenalem darstellt.31

* Hier und im Folgenden im Original deutsch.

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