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Ein Exkurs: Ideologie im Multiversum

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Bryants Vision von einem Multiversum ohne irgendeinen totalisierenden Akteur, der sich selbst vollkommen präsent wäre, beschränkt sich nicht auf abstrakte ontologische Betrachtungen. Vielmehr zieht er eine Reihe sachdienlicher politischer Erkenntnisse daraus. Eine der interessanten Folgerungen aus dem Gedanken der „Demokratie der Objekte“, der Realität als Multiversum von Aktanten, dient ihm dazu, die gängige Auffassung von „entmystifizierender Kritik“ zu problematisieren:

Eine aktivistische politische Theorie, die sich nur mit Inhaltsfragen aufhält, ist insofern zur Enttäuschung verurteilt, als sie sich ständig fragen wird, warum es ihren Ideologiekritikern nicht gelingt, den von ihnen gewünschten und beabsichtigten gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Zudem ist es in einer Zeit, in der wir mit der heraufziehenden Bedrohung durch den Klimawandel mit seinen monumentalen Ausmaßen konfrontiert sind, unverantwortlich, wenn wir Unterscheidungen treffen, mit denen wir nichtmenschliche Akteure ausschließen. (S. 24)

Bryant liefert in diesem Zusammenhang ein überzeugendes und prägnantes Beispiel für Ökologie in unseren kapitalistischen Gesellschaften: Warum scheitern all die ideologiekritischen Mobilisierungsaufrufe, warum ist die große Mehrheit nicht bereit, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen? Wenn wir bloß die ideologischen Diskursmechanismen betrachten, wird dieses Scheitern unerklärlich, und wir sind gezwungen, irgendwelche dunklen „ideologischen Täuschungsprozesse“ anzuführen. Wenn wir unseren Fokus jedoch erweitern und andere Aktanten einbeziehen, andere Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit, die unsere Entscheidungen beeinflussen – wie tendenziöse Medienberichte, ökonomischen Druck auf Arbeiter (drohenden Arbeitsplatzverlust), materielle Einschränkungen und so weiter –, wird die fehlende Bereitschaft viel begreiflicher. Denken wir an Jane Bennetts Darstellung des Zusammenspiels diverser Aktanten auf einem belasteten Müllgelände: dort spielen nicht nur Menschen, sondern auch verrottender Abfall, Würmer, Insekten, stillgelegte Maschinen oder chemische Giftstoffe jeweils eine (nie rein passive) Rolle.10 In einem solchen Ansatz steckt eine glaubwürdige theoretische und ethische politische Einsicht.

Die herrschende Ideologie hat noch einen Dreh gefunden, um ihr Überleben zu sichern: Ihre eigentliche Genialität offenbart sich darin, wie ihre obszöne Unterseite funktioniert. Wir haben es hier mit etwas zu tun, was man die Logik der inhärenten Überschreitung nennen könnte: Das betroffene Subjekt nimmt die ideologischen Verfügungen nicht ernst; es macht sich über sie lustig, setzt sich zynisch über sie hinweg, doch genau dieser „Widerstand“ ist von vornherein mit eingeplant und dient der Reproduktion des ideologischen Gedankengebäudes. Es soll an dieser Stelle genügen, zwei Beispielfälle aus kommunistischen Regimen anzuführen. Politische Witze stellten in jedem Fall eine Art „Widerstand“ gegenüber der herrschenden Ideologie dar. Allerdings produzierte dieser „Widerstand“ ein obszönes Genießen, der die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse sehr erleichterte. Ähnlich verhält es sich mit dem kläglichen Scheitern der kommunistischen Erziehung; statt Subjekte hervorzubringen, die sich dem Aufbau des Sozialismus widmeten, brachte es Zyniker hervor, die der Politik misstrauten und sich lieber ins Private zurückzogen – und dadurch waren sie ideale Subjekte des kommunistischen Systems.

Dies Beispiel der zwiespältigen Rolle von politischen Witzen verdeutlicht, dass der unechte „Widerstand“ nicht nur seitens der Individuen besteht, sondern auch seitens der Machtinstitutionen selbst (vielleicht sollte man einen bürokratischen Apparat auch als eine Maschine zur Erzeugung/Produktion von Genießen auffassen). Wie hängt das zusammen? Wenden wir uns zunächst der Thematik des Fetischismus zu. Eric Santner hat dargelegt, wie in einer posttraditionellen kapitalistischen Gesellschaft die beiden Körper des Königs (sein gewöhnlicher sterblicher Körper und sein erhabener Körper, der dem Staat selbst eine materielle Gestalt gibt) auf die beiden Körper der Ware übertragen werden (ihre materiellen Eigenschaften, die ihren Gebrauchswert ausmachen, und ihren „anderen, erhabenen Körper“, der ihrem abstrakten Tauschwert eine materielle Gestalt gibt).11 Santner folgt hier entsprechenden Hinweisen bei Marx, der in seinem Kapital Parallelen zwischen dem Warenfetischismus und dem Fetischismus in zwischenmenschlichen Beziehungen zieht. (In einer traditionellen Gesellschaft erscheinen die auratischen Eigenschaften eines Königs oder einer anderen Herrschergestalt als seine unmittelbaren Eigenschaften, obwohl sie tatsächlich bloß der Effekt des Verhaltens anderer Menschen ihnen gegenüber sind.) In beiden Fällen muss sich der ideelle Pol (der symbolische Königstitel, der Tauschwert) in einem Körper materialisieren, der seiner Materialität nach ätherisch ist, geisterhaft wie die Körper von Gespenstern und Vampiren – kein Geist ohne Geister, wie Schelling das vor zwei Jahrhunderten ausdrückte. Stellt diese Verdopplung eines Körpers, dieses Erscheinen eines geisterhaften Körpers, der den gewöhnlichen materiellen Körper ergänzt, eine Notwendigkeit dar, oder lässt sich die ideelle Dimension ohne die Ergänzung durch eine geisterhafte Materialität erreichen beziehungsweise wirksam machen?

Doch vielleicht ist diese Frage so nicht auf die richtige Weise gestellt. Damit meine ich: Ein wahrer dialektischer Materialist muss gegenüber dem vulgären Materialismus darauf bestehen, dass die gewöhnlichen materiellen Objekte nicht den Ausgangspunkt bilden, von dem aus durch einen Prozess der Idealisierung das Geisterhafte eines anderen, erhabenen Körpers erzeugt wird; es muss im Gegenteil etwas – ein Überschuss – vom Realen abgezogen werden, um bei der gewöhnlichen materiellen Realität anzukommen, und bei diesem Realen handelt es sich weder um die gewöhnliche Realität noch um die erhabene geisterhafte Realität. Genauso wird das Heilige nicht einfach aus der gewöhnlichen weltlichen Realität heraus erzeugt: Damit die gewöhnliche weltliche Realität entstehen kann, muss etwas von ihr abgezogen werden, und dieser subtrahierte Überschuss kehrt dann in der Gestalt des Heiligen wieder.

In diesem Sinne gibt Santner der Arbeitswerttheorie von Marx eine neue Wendung. Danach behandelt diese in ihrer grundlegendsten Form nicht den abstrakten Wert, um den herum die Objektpreise schwanken, es geht in ihr vielmehr um die Pracht und die Herrlichkeit und damit um den rituellen Wert von Objekten. (Vor vielen Jahren schon hat Lacan an Marx moniert, dass er über den Gebrauchs- und den Tauschwert hinaus nicht auch dem rituellen Wert Rechnung getragen habe.) Der „Wert“, den der Mensch durch Arbeit über den Gebrauchswert seiner Erzeugnisse hinaus produziert, ist all das, was aus einem Produkt mehr als einen bloßen Gebrauchsgegenstand macht: sein Glanz, sein ästhetischer Wert, sein heiliger Wert, sein symbolisches Gewicht insgesamt. Insofern ist der symbolische Wert eines Objekts auch keine unmittelbare Eigenschaft dieses Gegenstands, sondern resultiert aus der Behandlung, die wir ihm angedeihen lassen.

Dementsprechend ist die Arbeit, die den rituellen Wert hervorbringt, mehr als die zielgerichtete Tätigkeit – diese Arbeit ist selbst eine ritualisierte Tätigkeit, die ein eigenes Genießen erzeugt. Nehmen wir ein Extrembeispiel: die staatliche Bürokratie. Kafkas Genialität bestand darin, dass er die Bürokratie, und damit die nichterotische Sache schlechthin, erotisierte. Wenn sich in Chile ein Bürger gegenüber den Behörden legitimieren möchte, „verlangt der diensttuende Beamte von dem armen Antragsteller einen Nachweis darüber, dass er geboren wurde, dass er kein Krimineller ist, dass er seine Steuern bezahlt hat, dass er ins Wahlverzeichnis eingetragen ist und darüber, dass er noch am Leben ist.“

Denn selbst wenn er einen Wutanfall bekommt, um zu beweisen, dass er noch nicht gestorben ist, ist er verpflichtet, eine „Überlebensbescheinigung“ vorzulegen. Das Problem hat solche Ausmaße erreicht, dass die Regierung von sich aus eine Dienststelle zur Bekämpfung der Bürokratie eingerichtet hat. Bürger können sich nun darüber beschweren, dass sie schäbig behandelt wurden, und gegen inkompetente Angestellte des öffentlichen Dienstes Anzeige erstatten […] natürlich auf einem Formblatt, das abgestempelt und in dreifacher Ausfertigung vorgelegt werden muss.12

Das ist staatliche Bürokratie in ihrer verrücktesten Form. Sind wir uns dessen bewusst, dass dies unser einziger wirklicher Kontakt mit dem Göttlichen in unseren säkularen Zeiten ist? Was könnte „göttlicher“ sein als die traumatische Begegnung mit der Bürokratie in ihrer verrücktesten Form – wenn uns etwa durch den Mitarbeiter einer Behörde mitteilt wird, dass es uns rechtlich gesehen nicht gibt? Es sind Begegnungen dieser Art, in denen wir einen flüchtigen Einblick in eine andere Ordnung jenseits der irdischen Alltagswirklichkeit erhalten. Genau wie Gott ist auch die Bürokratie gleichzeitig allmächtig und undurchdringlich, unberechenbar, allgegenwärtig und unsichtbar. Kafka wusste um den tiefen Zusammenhang zwischen Bürokratie und dem Göttlichen: Es scheint so, als würde Hegels These über den Staat als irdische Existenz Gottes in Kafkas Werk „von hinten genommen“, als würde ihr darin eine wirklich obszöne Wendung gegeben. Nur in diesem Sinne stellen Kafkas Romane und Erzählungen eine Suche nach dem Göttlichen in unserer verlassenen säkularen Welt dar – genauer gesagt suchen sie nicht nur nach dem Göttlichen, sie finden es in der staatlichen Bürokratie.

In Terry Gilliams Film Brazil gibt es zwei denkwürdige Szenen, die eine perfekte Darstellung des verrückten Exzesses der bürokratischen jouissance liefern, die sich in ihrem Um-sich-selbst-Kreisen von selbst aufrechterhält. Nachdem der Held – dessen Heizung mit einem Schaden am Rohrleitungssystem ausgefallen war – dem amtlichen Reparaturservice eine Nachricht mit der Bitte um schnelle Hilfe hinterlassen hat, dringt ein Mann in dessen Wohnung ein. Dabei handelt es sich um einen (von Robert de Niro gespielten) sagenumwobenen, geheimnisvollen Verbrecher, der subversiv handelt, indem er die Notrufe abhört und dann umgehend die Kunden aufsucht, die Rohrleitungen umsonst repariert und so den ineffizienten Papierkram des staatlichen Reparaturservices umgeht. In einer im Teufelskreis ihrer jouissance gefangenen Bürokratie nämlich ist es das ultimative Verbrechen, wenn man einfach und unverzüglich die Arbeit tut, die man tun soll – wenn ein staatlicher Reparaturservice tatsächlich seine Arbeit tut, wird dies (auf der Ebene ihrer unbewussten libidinösen Ökonomie) als ein bedauerlicher Nebeneffekt angesehen, weil die Energie in einer Bürokratie zum Großteil in die Erfindung komplizierter Verwaltungsverfahren fließt, die es ihr ermöglichen, immer neue Hindernisse zu erfinden und die Arbeit auf diese Weise unendlich hinauszuschieben. In einer zweiten Szene begegnen wir auf den Fluren einer riesigen Regierungsbehörde einer Gruppe ständig umherlaufender Menschen – einem leitenden Beamten (einem hohen Tier in der Verwaltung), gefolgt von einem Haufen Angestellter, die die ganze Zeit auf ihn einschreien und ihn hier nach einer Meinung, dort nach einer Entscheidung fragen, während er nervös schnelle, „effiziente“ Antworten herauspresst („Das muss bis spätestens morgen erledigt sein!“, „Überprüfen Sie den Bericht!“, „Nein, sagen Sie den Termin ab!“ …). Die nervöse Hyperaktivität ist natürlich inszenierter Schein, eine zügellose und unsinnige Vorspiegelung „effizienter Verwaltung“. Warum rennen die Menschen die ganze Zeit herum? Der leitende Beamte, dem sie folgen, eilt offenkundig nicht von einer Besprechung zur anderen – er rennt nur sinnlos auf den Fluren herum, das ist alles. Hin und wieder stößt der Held auf die Gruppe, und natürlich lautet die Antwort mit Kafka, dass diese ganze Aufführung nur dessen Blick auf sich ziehen soll und allein für dessen Augen inszeniert ist. Diese Menschen tun so, als seien sie beschäftigt, als kümmerte sie der Held nicht, doch ihr ganzes Treiben soll ihn dazu provozieren, dass er sich mit einer Nachfrage an den Leiter der Gruppe wendet, der dann nervös zurückschnappt: „Sehen Sie nicht, wie beschäftigt ich bin?“ Ein paarmal tut er auch das Umgekehrte und begrüßt den Helden, als habe er schon lange auf ihn gewartet und erwarte seine Bitte geheimnisvollerweise.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es das letztliche Versagen des bürokratischen Räderwerks selbst ist, welches die Bürokratie am Laufen hält und ihre Wirksamkeit ausmacht. Dieses Versagen nämlich eröffnet den Raum für das Mehrgenießen. Auf der Nutzenebene arbeitet ein bürokratischer Apparat, um Dinge zu regulieren und Probleme zu lösen: Gerichte sprechen Recht, die Polizei untersucht Verbrechen und so weiter. Es gibt jedoch immer einen Überschuss über diese pragmatische Funktion hinaus. Eine bürokratische Maschine gerät immer in den Teufelskreis, ihre eigene Bewegung zu reproduzieren und Probleme zu schaffen, um sie bearbeiten zu können, und diese Zirkelstruktur erzeugt ein Mehrgenießen. Vom reinen Nützlichkeitsstandpunkt aus muss das Hängenbleiben in dieser Kreisbewegung als Versagen erscheinen, als Scheitern daran, die Arbeit richtig und effizient auszuführen. Es ist jedoch gerade dieses Versagen, das den Überschuss an Genuss erzeugt. Ein richtiger Bürokrat ist die ganze Zeit über beschäftigt, erreicht nichts, dreht sich hektisch im Kreis und überhört die Aufrufe, er solle bloß irgendetwas Einfaches machen, das den Menschen tatsächlich helfen würde.

Das Gleiche lässt sich auch hinsichtlich der Besetzung von Stellen behaupten: Die richtige Arbeit eines Bürokraten besteht unter anderem darin, einzelnen Personen eine berufliche Position zuzuweisen und dafür zu sorgen, dass sie einen Posten besetzen, für den sie tatsächlich geeignet sind; dennoch ist es das Scheitern solcher Zuweisungen, die Tatsache, dass Menschen sich auf ihrer Stelle fehl am Platze fühlen, dass sie Schwierigkeiten mit ihrer Besetzung haben, die den Raum für das obszöne Mehrgenießen eröffnet. Wenn ich einen Richterposten besetze, besteht das Mehrgenießen, das ich daraus ziehe, genau darin, dass ich die Dinge gewissenhaft vermassle, während ich mich eng an die Vorschriften halte, das heißt dadurch, dass ich eine übergroße Arbeitsleistung erbringe und übermäßigen Einsatz zeige.

Auf diese Ebene gehört auch das Phänomen der Misinterpellation, das von James Martel ausgearbeitet wurde.13 Eine Misinterpellation ist in zwei Richtungen möglich: Zum einen kann ein Subjekt sich in einer Anrufung erkennen, die nicht einmal ausgesprochen wurde, sondern die sich der oder die Betreffende bloß einbildete, so wie der Fundamentalist, der sich in einem Ruf Gottes erkennt. (Man kann allerdings argumentieren, dass dieser Fall allgemein gilt – trifft es nicht generell zu, dass sich das angerufene Subjekt den großen Anderen [Gott, das Land …] vorstellt und glaubt, dieser würde sich an ihn oder sie wenden?) Zum anderen kann ein Subjekt sich in einer Anrufung erkennen, die nicht an seine Person gerichtet war, wie in der bekannten Anekdote darüber, wie Che Guevara Wirtschaftsminister wurde: Bei einem Treffen des inneren Kreises unmittelbar nach dem Sieg der Revolution fragte Fidel: „Ist hier ein Ökonom unter euch?“, worauf Che schnell „Ja!“ antwortete, weil er „Ökonom“ (economista) mit „Kommunist“ (comunista) verwechselte. Ein passenderes Beispiel in dieser Richtung stellt die Anrufung der Individuen als Subjekte von Menschenrechten dar: Als die schwarzen Sklaven in Haiti sich als Subjekte der von der Französischen Revolution erklärten Menschenrechte erkannten, haben sie natürlich in gewisser Weise den „Punkt verfehlt“ – die Tatsache, dass die Menschenrechte, obwohl sie ihrer Form nach allgemein sind („alle Menschen“), effektiv die weißen Grundbesitzer privilegierten; dennoch hatte gerade diese „Missdeutung“ explosive emanzipatorische Folgen. Genau darum geht es bei Hegels List der Vernunft: Die Menschenrechte „sollten eigentlich“ nur von den weißen Grundbesitzern anerkannt werden, ihre Wahrheit lag aber gerade in ihrer allgemeinen Form. Demnach war die erste Anrufung falsch, doch die wahre Anrufung konnte sich selbst nur durch die falsche verwirklichen, als deren nachgeordnete Missdeutung.

Diese Ineffizienz stößt natürlich manchmal an ihre Grenze und lässt sich nicht mehr durch das Einbinden inhärenter Überschreitungen in das System beherrschen. Wir können uns die Ideologie praktisch als ein autopoetisches System vorstellen, das ein Problem bekommt, wenn die Störungen von außen so groß werden, dass sie sich nicht mehr innerhalb seines Rahmens deuten lassen – so kennzeichnete es etwa die Lage in Russland zu Beginn des Jahres 1917, dass es der herrschenden Ideologie nicht länger möglich war, die (nichtdiskursiven) Störungen „von außen“ (die Kosten eines Krieges, der zunehmend als sinnlos empfunden wurde; die Unzufriedenheit der landlosen Bauern) zu integrieren (beziehungsweise mit ihren Begriffen zu erfassen). Die Bolschewiki gaben einen ganz anderen ideologischen Rahmen vor, der es ermöglichte, diese prädiskursiven Störungen zu integrieren und ihnen erklärend Rechnung zu tragen. Auf ähnliche Weise gelang es Hitler in den 193oer-Jahren, einen neuen Rahmen vorzugeben, der für die nichtideologischen Störungen, von denen Deutschland zu dieser Zeit betroffen war (Wirtschaftskrise, moralischer Verfall und so weiter), eine Erklärung bot. Zu lernen ist aus diesen Beispielen, dass man (transideologische) Störungen von außen zwar einbeziehen und in einer Analyse berücksichtigen sollte, dass der entscheidende Faktor aber die Frage ist, welche Erklärungen (Symbolisierungen) diese Störungen in einem ideologischen Denkgebäude finden. Den politischen Kampf in Deutschland entschied Hitler gegen die Kommunisten und ihre alternative Krisendeutung für sich; natürlich war sein Sieg auch ein Ergebnis außerideologischer Faktoren (Hitler hatte zumeist die Unterstützung durch die rohe Staatsgewalt, verfügte über einen besseren Zugang zu finanziellen Ressourcen und so weiter), der entscheidende Moment war jedoch mit dem Erreichen der ideologischen Vorherrschaft gekommen.

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