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2 Objekte, Objekte … und das Subjekt Wiederverzauberung der Natur? Nein, danke!

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Die von Levi Bryant1 entwickelte Objektorientierte Ontologie (OOO) lässt sich im Kern auf die Formel „Vom Subjekt zurück zur Substanz“ bringen. Und insofern das Subjekt die Entsprechung zur Moderne ist (denken wir an Lacans These über das kartesische Subjekt als das Subjekt der modernen Wissenschaft), können wir auch sagen, dass die OOO der Prämisse folgt, die sich im Titel des bekannten Buchs von Bruno Latour Wir sind nie modern gewesen ausdrückt: Sie will die vormoderne Verzauberung der Welt zurückbringen. Von Lacan her sollte man hierauf mit einer Abwandlung der von ihm vorgenommenen Korrektur der Formel „Gott ist tot“ (Gott war immer schon tot, er wusste es nur nicht) antworten: Wir waren immer schon modern, wir wussten es nur nicht. Demnach hat die OOO es also nicht hauptsächlich auf die transzendentale Philosophie mit ihrem Subjekt- Objekt-Dualismus abgesehen, sondern auch auf die moderne Wissenschaft mit ihrer Vision einer „grauen“, auf die mathematische Formalisierung reduzierten Realität: Die OOO sucht die moderne Wissenschaft durch eine vormoderne, das „Innenleben“ der Dinge beschreibende Ontologie zu ersetzen.

Bryant (der vor seiner Beschäftigung mit der OOO lacanianischer Psychoanalytiker war) greift auf Lacans „Formeln der Sexuierung“ zurück, um den Grundunterschied zwischen der traditionellen (oder modernen) Metaphysik und der OOO auszuarbeiten. Danach folgt die Metaphysik der männlichen Linie, der in einer transzendenten Ausnahme (Gott oder das Subjekt, welches die objektive Realität begründet oder konstituiert) gründenden Allgemeinheit, wohingegen die OOO der weiblichen Linie des ausnahmelosen Nicht-Alles folgt (es gibt keine transzendente Ausnahme, die Realität setzt sich aus Gegenständen zusammen, die alle auf der gleichen ontologischen Ebene angesiedelt sind, und es besteht keine Möglichkeit, dieses Multiversum von Gegenständen zu totalisieren, weil sie sich gegenseitig entzogen sind, weil es keinen überragenden Gegenstand zu ihrer Totalisierung gibt).2 Deshalb ordnet Bryant, wenn er über „den Unterschied zwischen den Ontologien der Präsenz und der Transzendenz sowie den Ontologien der Immanenz und des Entzugs“ spricht (S. 269), die vier Konzepte in unerwarteter Weise einander zu: Unserer spontanen Intuition käme es viel näher, Immanenz und Präsenz sowie Transzendenz und Entzug paarweise zu verbinden: Ist die Präsenz nicht definitionsgemäß immanent, ist die Transzendenz nicht unserem Einflussbereich entzogen? Stattdessen paart Bryant Präsenz mit Transzendenz (der transzendente Seinsgrund ist sich selbst vollkommen präsent) und Immanenz mit Entzug (es gibt keinen transzendenten Grund; alles, was es gibt, ist das immanente Multiversum von Gegenständen, die sich gegenseitig entzogen sind).

Bryant beginnt seine Aufstellung der Ontologie der Immanenz/des Entzugs damit, dass er das Primat der Ontologie vor der Epistemologie behauptet und die moderne subjektivistische Vorstellung zurückweist, nach der wir uns zunächst kritisch mit unserem Denkapparat befassen sollten (Wie ist unser Denken überhaupt möglich? Wie weit reicht es und worin besteht seine Begrenzung?), bevor wir uns an die Analyse der Realitätsstruktur machen. Im Anschluss an Roy Bhaskar dreht Bryant die transzendentale Fragestellung um und fragt danach, wie die Realität strukturiert sein muss, damit wir sie denken können. Die Grundprämisse der OOO liefert hierauf die Antwort: „Es ist erforderlich, dass die Autonomie der Objekte oder Substanzen standhaft verteidigt und jede Reduktion von Gegenständen auf ihre Beziehungen zurückgewiesen wird – unabhängig davon, ob es sich bei diesen Beziehungen um solche zu Menschen oder zu anderen Objekten handelt“ (S. 26). Aus diesem Grund ist für das Subjekt kein Platz in Bryants Denkgebäude: Das Subjekt nämlich ist gerade eine nichtsubstanzielle Entität, die sich vollständig auf ihre Beziehungen zu anderen Entitäten reduzieren lässt.

Vom hegelianisch-lacanianischen Standpunkt aus wird die Spannung zwischen der epistemologischen und der ontologischen Dimension auf völlig andere Weise gelöst: Das Objekt ist unerreichbar; jeder Versuch, es zu ergreifen, endet in Antinomien und so weiter. Wir erreichen die Sache selbst nicht dadurch, dass wir durch diese Verzerrungen irgendwie hindurchsehen, sondern indem wir die Erkenntnishindernisse in die Sache selbst übertragen. Genauso verfährt Quentin Meillassoux bezüglich der Erfahrung der Faktizität und/oder der absoluten Kontingenz: Was den Transzendentalisten der Endlichkeit als Grenze unserer Erkenntnis erscheint (die Einsicht, dass wir uns hinsichtlich unserer Erkenntnis vollkommen irren können und dass die Realität an sich ganz anders sein kann, als wir sie uns vorstellen), überführt er in die grundlegendste positive ontologische Eigenschaft der Realität selbst – das Absolute ist einfach „das Anders-sein-Können selber […], so wie es der Agnostiker theoretisch fasst. Das Absolute ist der mögliche Übergang, ohne Grund, von meinem Zustand zu irgendeinem anderen Zustand.3 Aber das Mögliche ist nicht mehr ein ‚Mögliches der Unwissenheit‘, ein Mögliches, das nur aus meiner Unfähigkeit zu wissen, welche Option die zutreffende ist, resultiert: Es ist das Wissen, dass all diese Optionen und darüber hinaus noch ganz andere tatsächlich möglich sind“4 – im Innersten des Ansich:

Wir müssen […] zeigen, dass die Faktizität, weit davon entfernt, die Erfahrung zu sein, die das Denken von seiner notwendigen Begrenzung macht, im Gegenteil die Erfahrung ist, die das Denken von seinem Wissen des Absoluten macht. Wir müssen die Faktizität nicht als die Unerreichbarkeit des Absoluten begreifen, sondern als Enthüllung des Ansich: die immerwährende Beschaffenheit dessen, was ist, und nicht die fortwährende Unzulänglichkeit des Denkens dessen, was ist.5

Auf diese Weise wird „die Faktizität […] sich als ein Wissen vom Absoluten herausstellen, weil wir endlich wieder dasjenige in das Ding setzen, was wir illusorischerweise für eine Unfähigkeit des Denkens hielten. Anders gesagt, anstatt aus der einem jeden Ding innewohnenden Abwesenheit des Grundes eine Grenze zu machen, die dem Denken auf der Suche nach dem letztmöglichen Grund begegnet, müssen wir verstehen, dass eine solche Abwesenheit des Grundes die letztmögliche Beschaffenheit des Seienden ist und nur sein kann.“6 Das Paradoxe an dieser gleichsam magischen Umkehrung eines epistemologischen Hindernisses in eine ontologische Prämisse ist, dass wir uns „durch die Faktizität, und durch sie alleine, […] einen Weg zum Absoluten bahnen“ können. Die radikale Kontingenz der Realität, dieses „offene Mögliche – dieses ‚alles ist gleichermaßen möglich‘ – ist ein Absolutes, das man nicht entabsolutieren kann, ohne es wiederum als Absolutes zu denken“.7

Es gilt hier auch eine Verbindung zu der großen Auseinandersetzung um die Interpretation der Unbestimmtheit innerhalb der Quantenphysik zu ziehen: Für die „orthodoxen“ Vertreter des Fachs stellt die epistemologische Unbestimmtheit gleichzeitig eine ontologische Eigenschaft dar, ein Merkmal der „Realität“ selbst, die demnach „an sich“ unbestimmt ist. Für die Vertreter des klassischen „Realismus der Notwendigkeit“, bei Einstein angefangen, kann die epistemologische Unbestimmtheit hingegen nur bedeuten, dass die Quantenphysik keine vollständige Beschreibung der Realität liefert, das heißt, dass es irgendwelche verborgene Unbekannte gibt, die sie nicht berücksichtigt. Mit einer etwas problematischen und übertriebenen Formulierung könnte man sagen, dass die an Einstein anschließenden Kritiker um eine Rekantianisierung der Quantenphysik bemüht sind und die „Realität-an-sich“ aus ihrem Zugriffsbereich ausschließen.

Meillassoux ist durchaus bewusst, dass die Quantenphysik – aufgrund ihrer Unschärferelation und weil sie die Rolle des Beobachters beim Zusammenbruch der Wellenfunktion herausstreicht – die Vorstellung einer von einem Beobachter unabhängig existierenden Realität zu untergraben scheint und dem Kant’schen Transzendentalismus dadurch einen unerwarteten Vorschub gibt. Doch deren Ähnlichkeit trügt, wie er ausführt, und verschleiert einen grundlegenden Unterschied: „Gewiss, die Gegenwart eines Beobachters kann sich möglicherweise, wie es bei gewissen Gesetzen der Quantenphysik der Fall ist, auf das Beobachtete auswirken: Aber sogar dieser Fall, dass ein Beobachter ein Gesetz beeinflussen kann, ist eine Beschaffenheit des Gesetzes, von der nicht anzunehmen ist, dass sie von der Existenz des Beobachters abhängt.“8 Kurz gesagt: Während bei Kants Transzendentalismus das „Beobachter“-Selbst konstituiert, was es beobachtet, wird in der Quantenphysik die aktive Beobachterrolle selbst wieder in die physikalische Realität eingeschrieben.

Es mag scheinen, als habe Bryant diesen Schritt ebenfalls vollzogen: Behauptet er nicht wiederholt, dass der Entzug des Objekts für das Subjekt (das heißt das erkennende oder wahrnehmende Objekt) zugleich Selbstentzug ist, die Selbstspaltung des Objekts, die Entzogenheit des Objekts in Bezug auf sich selbst? „Entzogenheit ist kein nebensächliches Merkmal von Objekten. Sie rührt von unserem Mangel an einem unmittelbaren Zugang zu ihnen her, ist jedoch ein Konstitutionsmerkmal aller Gegenstände, unabhängig davon, ob sie mit anderen Gegenständen in Beziehung stehen“ (S. 32). Bryant zieht hier eine Parallele zwischen der ontologischen Allgemeinstruktur des „gespaltenen Objekts“ und dem Lacan’schen gespaltenen/ausgestrichenen Subjekt, und er kommt zu dem Schluss, dass „alle Objekte den gespaltenen Subjekten Lacans, den $, ähneln“:

Kein Objekt verwirklicht je den unterirdischen vulkanischen Kern, von dem sein virtuelles eigenes Sein heimgesucht wird. Dieser virtuelle Bereich gleicht einer Reserve oder einem Überschuss, der nie zur Präsenz gelangt. Es ist nicht einfach so, dass Objekte in sich vollständig wirklich und nur anderen, sich auf sie beziehenden Objekten entzogen sind, sondern sie sind sich vielmehr in sich selbst entzogen. (S. 281f.)

Bryant regt dementsprechend eine Art verallgemeinerter Transzendentalstruktur an, wonach jedes Objekt erstens andere Objekte nicht auf diejenige Weise wahrnimmt, wie sie in sich selbst sind, sondern als durch seinen eigenen Rahmen interpretierte Gegenstände, und zweitens dieser Rahmen als solcher ebenfalls unzugänglich ist, sodass das Objekt nicht sieht, was es nicht sieht (das heißt, was es nicht sieht, gleicht Rumsfelds „unbekannten Unbekannten“). Dieser Pantranszendentalismus berechtigt Bryant, zum Erfassen der Art, wie Objekte miteinander in Beziehung stehen, den Kant’schen Ausdruck „transzendentaler Schein“ zu verwenden:

Der durch die Art, wie Objekte miteinander in Beziehung stehen, erzeugte transzendentale Schein ist eine Täuschung, bei der die durch ein System „erfahrenen“ Zustände selber als andere Objekte betrachtet werden, statt als systemspezifische Entitäten, die durch die Organisation des Objekts selbst hervorgebracht werden. Anders gesagt, betrachtet das Objekt die Welt, die es „erfährt“, als die schlechthinnige Realität und nicht als die durch seine eigene Organisation hervorgebrachten Systemzustände. (S. 160)

Bryant wendet diesen Begriff der Undurchdringlichkeit von Objekten auf das Lacan’sche Thema der Undurchdringlichkeit des Begehrens des Anderen an, auf das Rätsel des Che vuoi?, also dessen, was der Andere im Subtext von all dem, was er zu mir sagt, von mir will:

Das Begehren, so könnte man sagen, verkörpert unser Nichtwissen in Bezug auf das Begehren des Anderen. In allen intersubjektiven Beziehungen verkörpert sich das Gefühl, dass wir, obwohl der Andere sich an uns wendet, gleichwohl nicht wissen, warum er das tut. Anders ausgedrückt, wissen wir nicht, welches das Begehren des Anderen ist, das seine Beziehung zu uns antreibt. In dieser Hinsicht stellt das Begehren des Anderen eine genaue Widerspiegelung des Phänomens der operativen Schließung bei Systemen dar. Der Andere stört uns in vielerlei Hinsicht, doch wir können nicht einschätzen, mit welchen verborgenen Absichten er mit uns interagiert. (S. 187)9

In einer weiteren Radikalisierung schließt Bryan Gott selbst (so es ihn gibt) in diese Abfolge mit ein:

Jedes Seiende, bis hin zu Gott, falls es ihn gibt, gleicht einem lacanschen gespaltenen oder ausgestrichenen Subjekt $in der Weise, dass es, unabhängig davon, ob es mit einem anderen Seienden in Beziehung steht, sich hinsichtlich seiner selbst entzogen ist. Anders ausgedrückt, ist kein Seiendes sich selbst präsent, vielmehr ist es so, dass jedes Seiende notwendigerweise blinde Flecken umfasst oder sich selber undurchsichtig ist. Das Entzogensein stellt hier die eigentliche Struktur der seienden Dinge dar und ist kein nebensächliches Verhältnis ihrer Beziehungen untereinander. (S. 265)

Ein solcher Begriff eines sich selbst undurchsichtigen Gottes wurde bereits von Schelling entwickelt. Schellings Thema war der undurchdringliche Grund Gottes, das, was in Gott mehr ist als er selbst. Die OOO unternimmt es jedoch nicht, den nächsten Schritt aus Schellings Folgerung zu vollziehen und der Frage nachzugehen, wie der Logos aus diesem Multiversum hervorgeht, in dem „Objekte sich nicht gegenseitig unmittelbar zugänglich sind und […] jedes Objekt andere Objekte, mit denen es in nichtrelationale Beziehung tritt, übersetzt“ (S. 27).

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