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Gegen die Univozität des Seins

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Aus diesen Paradoxien der Allgemeinheit ergibt sich der Schluss, dass wir uns hier von der Vorstellung der „Univozität des Seins“ trennen müssen, deren Hauptvertreter in unserer Zeit Deleuze gewesen ist. Die Behauptung der Univozität des Seins hat den Vorteil, dass sie es uns ermöglicht, sämtliche Annahmen einer ontologischen Hierarchie aufzugeben – von der theologischen Vorstellung des Universums als eines hierarchischen Ganzen mit Gott als dem einzigen vollständigen Wesen an der Spitze bis zur gängigen marxistischen Hierarchie sozialer Sphären (mit der ökonomischen Infrastruktur als der einzigen vollständigen Realität und der irgendwie „weniger realen“ Ideologie als Teil eines täuschenden Überbaus). Analog hierzu ließe sich der Film Der Mann mit der Kamera von Dsiga Wertow (Eisensteins großem Kontrahenten) als ein exemplarischer Fall von filmischem Kommunismus interpretieren: als die Bejahung des Lebens in seinen vielen Facetten durch eine Art von filmischer Parataxe, das Nebeneinanderstellen einer Reihe alltäglicher Aktivitäten – seine Haare waschen, Pakete verpacken, Klavier spielen, Telefonkabel verlegen, Ballett tanzen –, die aufgrund sich wiederholender visueller und anderer Muster auf der reinen Formebene ineinander widerhallen. Was diese filmische Praxis zu einer kommunistischen macht, ist die zugrundeliegende Behauptung der radikalen Univozität des Seins: Sämtliche der gezeigten Phänomene sind einander gleichgestellt, sämtliche der üblichen Hierarchien und Gegensätze, einschließlich des offiziellen kommunistischen Gegensatzes zwischen dem Alten und dem Neuen, sind auf magische Weise außer Kraft gesetzt worden. (Es sei daran erinnert, dass Eisensteins zur selben Zeit gedrehter Film Die Generallinie den alternativen Titel Das Alte und das Neue trug.) Der Kommunismus wird hier weniger als der harte Kampf um ein Ziel (die angestrebte neue Gesellschaft) dargestellt – mit all den realpolitischen Paradoxien, die sich damit verbinden (der Kampf für die neue Gesellschaft universeller Freiheit sollte der härtesten Disziplin unterliegen usw.) –, sondern vielmehr als eine Tatsache, eine bestehende kollektive Erfahrung.

Die (gegen die aristotelische Ontologie gerichtete) Auffassung von der Univozität des Seins fand ihren größten Verfechter in Spinoza, der aus ihr die äußerste Konsequenz zog: Er setzte die „deontologische“ Dimension radikal außer Kraft, also das, was wir normalerweise mit dem Ausdruck „ethisch“ bezeichnen (Normen, die uns vorschreiben, wie wir handeln sollen, wenn wir eine Wahl haben) – und dies in einem Buch mit dem Titel Die Ethik, was an sich schon eine ziemliche Leistung ist. In seiner berühmten Auslegung des Sündenfalls behauptet Spinoza, Gott habe das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, deshalb aussprechen müssen, weil wir nur begrenzt dazu fähig seien, den wahren Kausalzusammenhang zu erkennen. Die Eingeweihten sollten gewarnt sein, dass es ungesund ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen. So kam es, dass Adam „jene Offenbarung nicht als ewige und notwendige Wahrheit auffaßte, sondern als Gesetz, d.h. als eine erlassene Anordnung, die Gewinn oder Verlust mit sich bringt, nicht auf Grund der Natur und der Notwendigkeit der vollbrachten Handlung, sondern auf Grund der Willkür und unbedingten Herrschaft eines Fürsten. Deshalb ist jene Offenbarung allein im Hinblick auf Adam und [allein wegen] dessen mangelhafter Erkenntnis ein Gesetz gewesen und Gott so etwas wie ein Gesetzgeber oder Fürst. Aus demselben Grunde, einer mangelhaften Erkenntnis, ist auch der Dekalog nur im Hinblick auf die Hebräer ein Gesetz gewesen.“10

Zwei Ebenen werden hier einander gegenübergestellt: die Ebene der Vorstellungen und Ansichten sowie die Ebene der wahren Erkenntnis. Die Vorstellungsebene ist anthropomorph: Wir haben es mit einer Erzählung über Akteure zu tun, die Anweisungen erteilen, die wir befolgen oder nicht befolgen können; Gott selbst ist hier der höchste Fürst, der Gnade walten lässt. Die wahre Erkenntnis hingegen liefert den nichtanthropomorphen Kausalzusammenhang unpersönlicher Wahrheiten. Man ist versucht zu sagen, dass Spinoza die Juden hier noch jüdisch überbietet, indem er das Bildverbot auf den Menschen selbst ausweitet. Der Mensch soll sich nicht nur von Gott kein Bild nach dem eigenen Bilde machen, sondern auch nicht von sich selbst. Mit anderen Worten: Spinoza geht hier noch einen Schritt über die übliche Warnung hinaus, menschliche Vorstellungen wie Ziel, Gnade, Gut und Böse und so weiter nicht auf die Natur zu projizieren – wir sollten sie nicht einmal auf den Menschen selbst anwenden, um ihn uns verständlich zu machen. Die entscheidenden Worte der zitierten Stelle lauten „allein wegen dessen mangelhafter Erkenntnis“ – der „anthropomorphe“ Bereich der Gesetze, Verfügungen, moralischen Gebote und so weiter basiert insgesamt auf unserer Unkenntnis. Spinoza verwirft demnach die Notwendigkeit dessen, was Lacan als „Herren-Signifikant“ bezeichnet, den reflexiven Signifikanten, der ebenjenen Mangel des Signifikanten auffüllt. Das höchste Exempel, das Spinoza selbst von „Gott“ gibt, ist hier äußerst wichtig: Fasst man ihn als eine mächtige Person auf, verkörpert Gott lediglich unsere Unkenntnis der wahren Zusammenhänge und Kausalitäten. Man sollte hier an Begriffe wie „Phlogiston“ oder Marx’ „asiatische Produktionsweise“ denken oder tatsächlich auch an das heute gern verwendete Wort von der „postindustriellen Gesellschaft“ – mithin an Begriffe, die scheinbar mit Inhalt gefüllt sind, in Wahrheit aber bloß unser Unwissen erkennen lassen. Es ist das unerhörte Bestreben Spinozas, die Ethik außerhalb der „anthropomorphen“ moralischen Kategorien von Absichten, Geboten und dergleichen zu denken. Was er vorschlägt, ist stricto sensu eine ontologische Ethik, eine um die deontische Dimension verkürzte Ethik, eine „sollensfreie“ Ethik des „Ist“. Ganz anders als Spinoza stellt Lacan (in Encore) die „deontische“ Dimension des Seins selbst heraus: Wenn man sagt, etwas „ist“, schließt dies immer dessen „Seinmüssen“ mit ein; dazu sei hier Lacans Äußerung zitiert, wenn er sich auf Aristoteles’ to ti ēn einai bezieht, „was sich produziert hätte, wenn zu sein gekommen wäre“:

[…] was war zu sein. Es scheint, daß da der Stiel sich bewahrt, der uns erlaubt zu situieren, von woher sich dieser Diskurs des Seins produziert – es ist ganz einfach das Sein gestiefelt, das Sein zu Befehl, das, was sein ging, wenn du vernommen hättest, was ich dir befehle. Jede Dimension des Seins produziert sich im Kurrenten des Diskurses des Herren, desjenigen, der, den Signifikanten vortragend, davon erwartet, was einer seiner nicht zu vernachlässigenden Bindungseffekte ist, der an dem hängt, daß der Signifikant kommandiert. Der Signifikant ist zuerst Imperativ.11

In ihrer radikalsten Form verweist die Disparität nicht einfach nur auf die Lücke zwischen Teilen oder Sphären der Realität, sie muss vielmehr auch selbstbezüglich verstanden und so gedacht werden, dass sie die Disparität einer Sache in Bezug auf sich selbst einschließt – oder, um es anders zu sagen, die Disparität zwischen einem Teil einer Sache und nichts. A ist nicht einfach nur nicht-B, es ist auch und vor allem nicht vollkommen A, und B tritt hervor, um diese Lücke zu füllen. Dies ist die Ebene, auf der wir die ontologische Differenz verorten sollten: Die Realität ist unvollständig, lückenhaft, inkonsistent, und das höchste Wesen oder Sein ist die illusorische Vorstellung, die diesen Mangel, diese Leere, welche die Realität zu einem Nicht-Alles macht, auffüllen (verschleiern) soll. Kurz gesagt, die ontologische Differenz – die Differenz zwischen der Nicht-Alles-Realität und der Leere, die sie durchkreuzt – wird durch die Differenz zwischen dem „höchsten“ oder „wahren“ Sein (Gott; das eigentliche Leben) und seinen sekundären Schatten verschleiert.

Disparitäten

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