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Ein Bericht aus den Schützengräben des dialektischen Materialismus
ОглавлениеSofern Hegels Dialektik in ihrer grundlegendsten Form eine Theorie der Moderne darstellt, eine Theorie des Bruchs zwischen Tradition und Moderne, ist der eigentlich dialektische Moment eines historischen Prozesses genau der Moment, in dem der Krake erwacht und die glatte Oberfläche zerreißt, der Moment, in dem dessen zerreißende Macht der Negativität in ihrer ganzen zerstörerischen Wirkung spürbar wird. Was sind die Ausbrüche unerwarteter wirtschaftlicher Krisen, die Explosionen „irrationaler“ gesellschaftlicher Gewalt, wenn nicht Echos von Tentakelschlägen? Es gibt bis heute keinen Denker, der eher oder besser imstande wäre, diese Echos aufzufangen, als Hegel.
Nietzsches Ablehnung von Hegel ist lediglich der Extremfall einer Haltung, die im Titel von Benedetto Croces Buch über diesen ihren klarsten Ausdruck fand: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie. Wenn Hegel nicht ohne Umschweife für tot erklärt wird, behandelt man ihn als eine Art lebendigen Toten, der uns nur deshalb weiter verfolgt, weil er vergessen hat, dass er bereits tot ist. Doch vielleicht ist die Zeit gekommen, dass wir Adornos über ein halbes Jahrhundert alten Vorschlag aufgreifen und umgekehrt fragen: Was ist, wenn nicht Hegel tot ist, sondern wir aus hegelscher Perspektive tot sind? In einem der Filme der Marx-Brothers fühlt Groucho den Puls eines Patienten, indem er seine Finger an dessen Handgelenk hält, um den Takt mit dem Ticken seiner Armbanduhr zu vergleichen, und ruft aus: „Entweder geht meine Uhr nicht mehr oder Sie sind tot!“ Das vorliegende Buch ist der Versuch, unsere Gegenwart einer Art hegelianischer Analyse zu unterziehen. Ausgehend vom Begriff der Disparität, wird es darum gehen, Figuren der Disparität im Sinne der figurae veneris in der Erotik zu entfalten, mithin also unterschiedliche Stellungen oder Figurationen des Disparaten.
Disparität ist ein Begriff, der das bezeichnet, was sich auch als (zer-) störende Wirkungen des erwachenden Kraken beschreiben ließe. Das vorliegende Buch geht diesen Wirkungen der Krakententakel in drei Hauptbereichen nach: dem ontologischen, dem ästhetischen und dem theologisch-politischen. Auf der ontologischen Ebene stellt sich die Disparität in ihrer radikalsten ontologischen Differenz dar; darum handelt der erste Teil des Buches vom Fortbestehen der ontologischen Differenz in unserer immer eindimensionaler werdenden kapitalistisch-technologischen Welt. Auf der ästhetischen Ebene besteht das disparate Element in dem abstoßenden X, auf das eine Reihe sich teilweise überschneidender Begriffe abzielt: dem Hässlichen, Ekelerregenden, dem Abjekt und so weiter. Die theologische Bezeichnung für „das disparat Verschiedene“ ist natürlich Gott als das radikal Andere in Bezug auf die Seinsordnung, während es sich bei dem Disparaten in der Politik um die millenaristische Erwartung eines radikalen Neuanfangs handelt, der auf der Auslöschung der Vergangenheit basiert. Man kann sich leicht das explosive Potenzial vorstellen, das in der Kombination beider liegt.
Die triadische Struktur dieses Buchs wiederholt demnach die klassische Triade des Wahren, Schönen und Guten, wobei der Fokus auf der zerreißenden Kraft des Kraken auf jeder der drei Ebenen liegt. Teil I widmet sich dem Thema der ontologischen Differenz im Zeitalter der Wissenschaft: Nach einer kurzen Darlegung verschiedener Aspekte des Disparitätsbegriffs werden (im Dialog mit Wark, Morton und Johnston) die Antinomien einer universalisierten wissenschaftlichen Vernunft aufgezeigt. Anschließend wird es um zwei philosophische Reaktionen auf die Vorherrschaft der wissenschaftlichen Vernunft gehen: den Versuch der Objektorientierten Ontologie, der Welt ihren Zauber zurückzugeben (Bryant), und den transzendentalen Versuch zu zeigen, inwiefern wissenschaftliche Untersuchungen sich auf die diskursive Normativität gegenseitiger Anerkennung stützen müssen, die sich selbst nicht wissenschaftlich begründen lässt (Pippin, Brandom). Teil II gilt der Analyse der Rolle von Hässlichkeit und Ekel in der modernen Subjektivität: Zunächst soll es darum gehen, den Hegel’schen Weg hin zur modernen nichtgegenständlichen Kunst zu rekonstruieren (Pippin); anschließend darum, das Abjekt in seinen Varianten zu entfalten, vom Grusel bis zum Ekel (Kristeva, Kotsko); schließlich wird die „subjektive Destitution“ in der Kunst (Shakespeare, Beckett) in ihren Umrissen nachgezeichnet. Teil III bildet eine Auseinandersetzung mit der bestehenden theologisch-politischen Unordnung: Zunächst werden die Verschiebungen in der Dreiecksbeziehung von Autorität, Kostümierung und Freundschaft dargelegt, von Schillers Stücken bis in die Gegenwart (Zupančič); dann werden die komplizierten Feinheiten der Inexistenz Gottes erörtert (Dupuy); schließlich wird der Übergang vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma entfaltet (Schuster, Malabou). In einem kurzen Schlussteil werden einige politische Folgerungen aus dem Disparitätsbegriff gezogen.
In jedem der genannten drei Bereiche wird eine brutale Auseinandersetzung geführt, ein Kampf gegen die verschiedenen Arten, die Disparität zu verschleiern. Dieser Kampf ist die Philosophie, oder, wie Louis Althusser dies vor einigen Jahrzehnten ausdrückte und damit die Lehren der Klassiker auf eine bündige Formel brachte: Die Philosophie ist in letzter Konsequenz Klassenkampf auf dem Feld der Theorie. „Die marxistisch-leninistische Philosophie beziehungsweise der dialektische Materialismus stellen den proletarischen Klassenkampf in der Theorie dar“.13 Dies ist, ungeachtet der schweren theoretischen Irrtümer, das wirklich Neue an Lenins Materialismus und Empiriokritizismus: Es markiert eine neue Praxis der Philosophie, die in der unumstößlichen Gewissheit gründet, dass die Philosophie eine Form des (Klassen-)Kampfs darstellt. Und Althusser machte sich keine Illusionen über die Brutalität dieses Kampfes: „Im Kampf der Philosophie sind alle Techniken des Krieges zulässig, einschließlich Diebstahl und Täuschung.“14 Für Gilbert Keith Chesterton „gibt es keinen Kampf auf der Gewinnerseite; man kämpft, um herauszufinden, welches die Gewinnerseite ist“.15 Dieses Paradox gilt voll und ganz für die philosophische Kriegsführung, bei der man nicht nur kämpft, um eine vorgegebene Position zu verteidigen: Der Kampf besteht vielmehr darin, zu erkennen, um welche Position es sich handelt.
Deshalb ist die Haltung eines Philosophen, der sich mit einem anderen Philosophen auseinandersetzt, keine des Dialogs, sondern eine der Abgrenzung, bei der es darum geht, die Trennlinie zwischen Wahrheit und Irrtum zu ziehen – angefangen bei Platon, dem es um die Trennlinie zwischen Wahrheit und bloßer Meinung ging, bis zu Lenin, der von der Trennlinie zwischen Materialismus und Idealismus besessen war. Wie Alain Badiou sagte, ist eine wahre Idee eine Idee, die trennt. Das vorliegende Buch ist eine Übung in dieser Kunst der Abgrenzung: Es will den dialektisch-materialistischen Begriff der Disparität näher bestimmen, indem es ihn von anderen, täuschend ähnlichen Denkgestalten trennt, von Julia Kristevas Abjektion bis zu Robert Pippins und Robert Brandoms Version des Selbstbewusstseins, von der Objektorientierten Ontologie bis zum Thema des Posthumanismus, vom Gott der negativen Theologie bis zur millenaristischen Politik. Die Methode einer solchen Vorgehensweise eignet man sich nicht im Voraus an, sie ergibt sich rückwirkend – hier sei an Pascal Quignards Definition erinnert: „Die Methode ist der Weg, nachdem wir ihn durchlaufen haben.“16 Eine Methode eignet man sich nicht im Voraus an: Sie stellt sich rückwirkend heraus.