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Spekulatives Urteil

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Das Paradox des „absoluten Gegenstoßes“ liefert somit die formale Struktur eines Subjekts: (Das X, das) ein Subjekt (gewesen sein wird,) sucht sich in einem Signifikanten zur Darstellung zu bringen, das Vorhaben scheitert, und das Subjekt ist dieses Scheitern (der Darstellung oder Repräsentation von sich). Anders ausgedrückt, sucht ein Subjekt eine bestimmte Realität zu subjektivieren/symbolisieren (in sein Bedeutungsuniversum zu integrieren); immer aber ist da irgendein Rest, der sich der Subjektivierung/Symbolisierung widersetzt, und das Subjekt korreliert genau mit diesem (von Lacan objet petit a genannten) nichtsymbolisierten Rest. Das Subjekt ist somit wiederum das Produkt des Scheiterns der Subjektivierung. Mit der Sprache verhält es sich ähnlich paradox: Das Subjekt ist eine Verzerrung der Sprache, es ist das, was die Sprache an der neutralen Spiegelung der Realität hindert, das, was die Symmetrie eines symbolischen Gedankengebäudes stört und ihm eine pathologische Einseitigkeit einschreibt. (Die Einschreibung durch das Subjekt erfolgt in S1, dem Herren-Signifikanten, der das Subjekt für andere Signifikanten repräsentiert. Deshalb setzt der nach Objektivität strebende Diskurs der Wissenschaft Lacan zufolge auf den Ausschluss des Subjekts.) Ziehen wir aber die subjektive Verzerrung von der Sprache ab, verlieren wir sie selbst: Die Sprache existiert nur als verzerrte, beschränkte, von ihrer eigenen Unmöglichkeit durchkreuzte Sprache.

Von hier aus bekommen wir eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein spekulatives Urteil funktioniert. Das Denken „erwartet ein Prädikat, das einem Subjekt zugewiesen wird, stößt im Prädikat aber auf die Substanz des Prädikats. Dadurch ist das Subjekt nicht mehr das, was es zu sein meinte, und dies gilt genauso für das Prädikat wie für das Verhältnis beider.“ Kommen wir auf „Der Geist ist ein Knochen“ zurück: Nach dem Beginn („Der Geist ist …“) erwartet der Leser ein Prädikat, das dem Geist zugewiesen wird und ihn dadurch bestimmt; das Prädikat ist jedoch derart überwältigend und seltsam, dass es das Subjekt zu vernichten scheint. Der „Knochen“ (der für die träge stoffliche Substanz steht) funktioniert nicht als Prädikat, sondern wird zu einer eigenen Substanz, die für das Subjekt keinen Platz lässt – oder, um es mit Hegel zu sagen:

Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es [das vorstellende Denken], indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbstständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten.22

Welchen Weg gibt es aus dieser Blockierung heraus? Wieso und inwiefern „erscheint das Subjekt wieder im Prädikat“? Dazu formuliert Ruda prägnant: Der Leser „wird in das Subjekt zurückgeworfen, das sich von Grund auf verändert hat. Es hat nämlich ebendie stabile Substanz verloren, die ihm vom vorstellenden Denken zugeschrieben wurde, und genau dieser Verlust der Substanz (das heißt ein leeres Subjekt) erscheint wieder im Prädikat.“ Kurz gesagt, erscheint das Subjekt wieder in Gestalt eines völligen „Widerspruchs“, einer äußersten Negativität. Und das bedeutet, dass der Leser die Vorstellung des Geistes als eine „stabile Substanz“ hinter sich lassen und das Subjekt als dasjenige anerkennen muss, was von der materiellen Substanz (Knochen) als seiner Leere, seinem negativen Kern „zurückprallt“. Der Geist, mit dem wir begonnen haben, war eine volle und beständige geistige Substanz, der wieder hervortretende Geist ist der reine „Geist des Widerspruchs“, der vergängliche Punkt einer selbstbezüglichen Negativität, die Leere (in) der Substanz.

Ein spekulatives Urteil umfasst somit die Erfahrung eines Verlusts – wohlgemerkt verbunden mit einem Dreh. Was aus echt dialektischer Sicht in der Erfahrung eines Verlusts (des Verlusts von etwas Substanziellem) verloren wird, ist letztlich der Verlust selbst, seine eigentliche Selbstbezüglichkeit: Das Objekt, das wir als verloren erfahren, füllt die Lücke des Verlusts auf. Demnach erfolgt in der Verlusterfahrung eine Art Zeitumkehr: Zwar scheint das Verlorene dem Verlust vorauszugehen, tatsächlich aber kommt zunächst der Verlust und jedes Objekt, das als verloren erfahren wird, ist eine rückwirkende Bildung, welche die durch den Verlust entstandene Lücke auffüllt. Anders gesagt, besteht das, was in der Erfahrung eines Verlusts verschleiert wird, in dem Umstand, dass ein Verlust immer der Verlust eines Verlusts ist: Um zur radikalsten Verlustdimension zu kommen, gilt es, das verlorene Objekt selbst zu verlieren.

Ein perfektes Beispiel eines solchen Verlusts ist der Kampf für die Emanzipation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, und dabei vor allem die von Malcom X 1964 vollzogene Haltungsänderung, die eine herausragende ethisch-politische Leistung darstellt. Während er im Gefängnis saß, schloss sich Malcom X der Nation of Islam an, und nachdem er 1952 auf Bewährung freigekommen war, engagierte er sich im Kampf der Organisation, vertrat die Ideologie der black supremacy und befürwortete die Trennung von Afroamerikanern und Weißen – die „Integration“ war für ihn ein künstlicher Versuch der Schwarzen, den Weißen gleich zu werden. 1964 allerdings lehnte er die Nation of Islam ab, und während er sich weiter für die Selbstbestimmung der Schwarzen und ihr Recht auf Selbstverteidigung einsetzte, distanzierte er sich von jeder Form von Rassismus und vertrat einen emanzipatorischen Universalismus; als Konsequenz seines „Betrugs“ wurde er im Februar 1965 von drei Mitgliedern der Nation of Islam ermordet. Als Malcolm das „X“ als seinen Familiennamen annahm, brachte er damit zum Ausdruck, dass die Sklavenhändler seine Vorfahren durch die Verschleppung aus der Heimat auf brutale Weise ihrer Familie und ihrer ethnischen Wurzeln und damit verbunden auch ihrer ganzen kulturellen Lebenswelt beraubt hatten. Es ging ihm mit dieser Geste aber nicht darum, die Schwarzen zum Kampf für eine Rückkehr zu ihren afrikanischen Urwurzeln zu mobilisieren. Vielmehr wollte er die durch das X gebotene Chance auf einen neuen Anfang ergreifen, wollte eine unbekannte neue (fehlende) Identität erobern, die gerade von dem Prozess der Sklaverei ausging, der dafür gesorgt hatte, das die afrikanischen Wurzeln für immer verloren sind. Die Idee ist, dass dieses X den Schwarzen zwar ihre partikularen Traditionen nimmt, dafür aber eine einmalige Gelegenheit gibt, sich neu zu definieren (neu zu erfinden), eine neue und frei gewählte Identität auszubilden, die viel universeller ist als die vorgebliche Universalität der Weißen. Obwohl Malcolm X diese neue Identität im Universalismus des Islam fand, wurde er von muslimischen Fundamentalisten getötet.

Hierin zeigt sich die schwere Entscheidung, die es zu treffen gilt: Ja, die Schwarzen werden im alltäglichen Zusammenleben marginalisiert und ausgebeutet, gedemütigt und verspottet und auch gefürchtet; ja, sie erleben täglich die Heuchelei der liberalen Freiheit und des Menschenrechts; im gleichen Zug aber erfahren sie das Versprechen wahrer Freiheit, der gegenüber die bestehende Freiheit eine falsche ist – diese Freiheit ist es, vor der Fundamentalisten fliehen. Der wahre Verlust ist folglich nicht der Verlust der authentischen afrikanischen Wurzeln, sondern der Verlust dieses Verlusts selbst: Wenn ein Schwarzafrikaner versklavt und seiner Wurzeln beraubt wird, verliert er in gewisser Hinsicht nicht nur diese Wurzeln, sondern erkennt rückwirkend, dass er über diese Wurzeln nie wirklich ganz verfügte. Was er nach diesem Verlust als seine Wurzeln erfährt, ist eine rückwirkende Einbildung, eine Projektion, die die Leere ausfüllt. Und das Gleiche trifft auf die Menschenrechte zu: Ja, man kann den partikularen Inhalt, der dem Menschenrechtsbegriff den spezifischen ideologischen Dreh gibt, schlüssig aufzeigen; ja, die allgemeinen Menschenrechte sind im Endeffekt die Rechte der weißen männlichen Grundbesitzer auf freien Marktaustausch, auf Ausbeutung von Arbeitern und Frauen sowie auf Ausübung politischer Herrschaft. Das ist jedoch nur die eine Hälfte der Geschichte: Wenn wir die Diskrepanz zwischen der falschen Universalität der Menschenrechte und all den einzelnen Ungerechtigkeiten, die diese allgemeine Form rechtfertigt, erfahren, sollten wir uns davon nicht drängen lassen, die Rechte und Freiheiten der Menschen als einen Schwindel abzutun und aufzugeben. Vielmehr sollten wir anfangen für diese Inhalte zu kämpfen. Ist der Kampf für die Menschenrechte nicht insgesamt auch der Kampf für diese Inhalte? Zunächst waren es die Frauen (angefangen bei Mary Wollstonecraft), die gleiche Rechte forderten, dann taten es ihnen die Sklaven von Haiti in dem ersten erfolgreichen Schwarzenaufstand gleich (wofür sie noch heute bestraft werden) und so weiter.

Ein ideologischer Prozess ist seiner Grundform nach also keine allmähliche Verfälschung eines authentischen Anfangs, sondern vielmehr das allmähliche Wahrwerden eines gefälschten Anfangs. Das Argument der „Heuchelei“ greift darum viel zu kurz: Wenn man in dem, was der Westen als Freiheit und Gleichheit verkauft, einen Schwindel erkennt, der die real existierenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse verdeckt, sollte man sie darum nicht als solche zurückweisen und als bloße heuchlerische Herrschaftsmaske abtun. Richtig wäre es vielmehr, sich für das einzusetzen, was Freiheit und Gleichheit bedeuten, und diese Verbindung mit neuem Inhalt füllen. Wenn man einfach die allgemeine Form aufgibt, landet man schließlich beim stalinistischen Kommunismus, der, nachdem er die westliche Freiheit als falsch und „rein formell“ gebrandmarkt hatte, die Freiheit schlechthin abschaffte. Oder man findet sich in der seltsamen Position von Jacques Verges wieder, der, nachdem er bitter erfahren hatte, wie das demokratische Frankreich die Algerier behandelte, schließlich Neonazis und Pol Pot verteidigte. Hegel bezeichnete dieses Paradox im Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein (dem denkenden Subjekt) klar als seiner Form nach böse:

„Bösesein“ heißt abstrakt, mich vereinzeln, die Vereinzelung, die sich abtrennt vom Allgemeinen – dies ist das Vernünftige, die Gesetze, die Bestimmungen des Geistes. Aber mit dieser Trennung entsteht das Fürsichsein und erst das Allgemeine, Geistige, Gesetz – das, was sein soll. Es ist also nicht, daß die [vernünftige] Betrachtung zum Bösen ein äußeres Verhältnis hat, sondern das Betrachten selbst ist das Böse.23

Sagt die Bibel nicht genau das Gleiche? Die Schlange verspricht Adam und Eva, dass sie selbst wie Gott werden, wenn sie vom Baum der Erkenntnis essen, und nachdem sie beide von den Früchten gegessen haben, sagt Gott: „Siehe, Adam ist geworden wie unser einer“ (Gen 3,22). Dazu bemerkt Hegel: „Die Schlange hat also nicht gelogen; Gott bestätigt, was sie sagte“. Im Fortgang weist er die Behauptung zurück, Gott meine, was er sage, ironisch. „Die Erkenntnis ist das Prinzip der Geistigkeit, die aber […] auch das Prinzip der Heilung des Schadens der Trennung ist. Es ist in diesem Prinzip des Erkennens in der Tat auch das Prinzip der Göttlichkeit gesetzt“.24 Das subjektive Erkennen ist nicht einfach die Möglichkeit, das Böse oder Gute zu wählen, „es [ist] die Betrachtung oder die Erkenntnis […], die ihn [den Menschen] böse mache, so daß sie das Böse sei, und [dass darum] diese Erkenntnis es sei, die nicht sein soll, die der Quell des Bösen sei“.25 In diesem Sinne sollte man Hegels Diktum aus der Phänomenologie des Geistes verstehen, wonach das Böse der Blick selbst ist, der überall um sich herum Böses erkennt. Der Blick, der überall Böses sieht, schließt sich selbst aus dem gesellschaftlichen Ganzen, das er kritisiert, aus, und dieser Ausschluss ist das formale Kennzeichen des Bösen. Hegel zufolge aber entsteht das Gute als Möglichkeit und Pflicht nur aufgrund dieser ursprünglichen oder konstitutiven Wahl des Bösen. Wir erfahren das Gute, wenn uns nach der Wahl des Bösen die völlige Unzulänglichkeit unserer Lage bewusst wird. Auch hier erschafft der Sündenfall die Vorstellung des Zustands, von dem er ein sündiger Abfall ist.

Es gilt daher, die gnostische Auffassung zurückzuweisen, nach der das Böse zur Materie gehört; aus gnostischer Sicht ist der Sündenfall in seiner grundlegendsten Form der „Übergang des Unstofflichen zum Stofflichen“, wie es Thomas Mann in der berühmten Passage im Zauberberg ausdrückt:

Und das Leben für sein Teil? War es vielleicht nur eine infektiöse Erkrankung der Materie – wie das, was man die Urzeugung der Materie nennen durfte, vielleicht nur eine Krankheit, eine Reizwucherung des Immateriellen war? Der anfänglichste Schritt zum Bösen, zur Lust und zum Tode war zweifellos da anzusetzen, wo, hervorgerufen durch den Kitzel einer unbekannten Filtration, jene erste Dichtigkeitszunahme des Geistigen, jene pathologisch üppige Wucherung seines Gewebes sich vollzog, die, halb Vergnügen, halb Abwehr, die früheste Vorstufe des Substantiellen, den Übergang des Unstofflichen zum Stofflichen bildete. Das war der Sündenfall.26

Man sollte hier genauer sein: Die Materie als solche ist nicht böse, sie ist lediglich dumm – als bedeutungslose stumme Persistenz dort draußen im Raum ist auch das Leben als solches nicht böse, wenngleich es mehr und mehr (je mehr es zu den höheren Formen der Selbstorganisation aufsteigt) einen Kreislauf aus brutalem Kampf, Leid und Schmerz bildet. Das Böse entsteht, wenn der Geist sich von der in positiver Trägheit verharrenden Materie zurückzieht und sich in der Singularität der Selbstbewusstheit als eine selbstbezügliche Negativität für sich selbst setzt (als reines Selbstbewusstsein bin ich bloß ein Cogito, die leere, von allem positiven Inhalt entfernte Form der Selbstbezüglichkeit). Das Böse ist rein geistig: In der Natur drängt sich das Sein in der dichten Trägheit der Materie zusammen; der Geist tritt ins Dasein, indem er sich, von der Natur entfernt, in die Punktualität eines Selbst zusammenzieht, und als solcher stellt er das genaue Gegenteil des „Übergangs des Unstofflichen zum Stofflichen“ dar – er ist die unstoffliche Leere mitten in der stofflichen Natur.

Und das bringt uns schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück, der Beziehung zwischen Subjekt und Substanz. Das Subjekt ist keine Substanz, die sich zurückzieht/die erscheint; das Subjekt ist Erscheinung (Sich-selbst-Erscheinen), die sich selbst autonomisiert und zu einem Akteur gegen ihre eigene Substanzialität wird. Der Selbstentzug oder die Spaltung des Subjekts ist demnach viel radikaler als der Selbstentzug jedes Objekts, das in seine Erscheinung (in der Wechselwirkung mit anderen Objekten) und seinen substanziellen Inhalt, sein entzogenes Ansich gespalten ist: Das Subjekt ist nicht wie jedes Objekt einfach in seine Erscheinungseigenschaften (Verwirklichungen) und sein unverfügbares virtuelles Ansich gespalten; das Subjekt ist gespalten in seine Erscheinung und die Leere im Kern seines Seins, nicht in Erscheinung und seinen verborgenen substanziellen Grund. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, in welchem Sinne das Subjekt effektiv ein Objekt „ist“ – die Lacan’sche Antwort auf die objektorientierte Ontologie lautet mithin: Ja, das Subjekt ist auch ein Objekt; die Frage ist allerdings, was für eines. Bei dem Objekt, welches das Subjekt „ist“, handelt es sich um das, was Lacan als objet a bezeichnet, um ein seltsames Objekt, dem nicht nur etwas mangelt, das niemals vollständig da ist, sich dem Subjekt stets entzieht, sondern das an sich nichts als die Verkörperung eines Mangels ist. Das heißt: Weil das Subjekt das Selbsterscheinen von nichts ist, kann sein „gegenständliches Korrelat“ nur ein seltsames Objekt sein, dessen Natur in der Verkörperung von nichts besteht, ein „unmögliches“ Objekt, ein Objekt, das in seinem ganzen Sein eine Verkörperung seiner eigenen Unmöglichkeit darstellt, das Objekt, das Lacan objet a nannte, ein Objekt, dessen Status der einer Anamorphose ist: eines Bildteils, der als nichtssagender Fleck erscheint, wenn man direkt von vorn auf das Bild schaut, der jedoch die Konturen eines bekannten Gegenstands annimmt, sobald man seine Position ändert und das Bild von der Seite betrachtet. Lacan geht sogar noch weiter: Die Objektursache des Begehrens ist etwas, das von vorn gesehen überhaupt nichts darstellt, bloß eine Leere – nur von der Seite gesehen nimmt sie die Konturen von etwas an. Das vielleicht schönste literarische Beispiel dafür findet sich in Shakespeares Richard II., wenn der Diener Bushy der Königin, die sich um den auf einem Feldzug befindlichen unglückseligen König sorgt, Trost zuzusprechen sucht:

Das Wesen jedes Leids hat zwanzig Schatten,

Die aussehn wie das Leid, doch es nicht sind;

Das Aug’ des Kummers, überglast von Tränen,

Zerteilt ein Ding in viele Gegenstände.

Wie ein gefurchtes Bild, grad’ angesehn,

Nichts als Verwirrung zeigt, doch, schräg betrachtet,

Gestalt läßt unterscheiden: so entdeckt Eu’r holde Majestät, da sie die Trennung Von dem Gemahl schräg ansieht, auch Gestalten Des Grams, mehr zu bejammern als er selbst, Die, grade angesehn, nichts sind als Schatten Des, was er nicht ist!27

Das ist das objet a: ein über keine substanzielle Konsistenz verfügendes Etwas, das in sich selbst „nichts als Verwirrung“ ist und das nur dann deutliche Gestalt annimmt, wenn es von einem durch die Wünsche und Ängste des Subjekts verzerrten Standpunkt aus betrachtet wird – als solches ist es ein bloßer „Schatten des, was es nicht ist“. Insofern stellt das objet a jenes seltsame Objekt dar, das nichts anderes ist als die Einschreibung des Subjekts selbst ins Feld der Objekte in Gestalt eines Flecks, der nur dann Konturen annimmt, wenn dieses Feld durch das Begehren des Subjekts in einem Teil anamorphisch verzerrt wird. Die außerordentlich moderne Definition der Dichtung aus dem Sommernachtstraum (5. Aufzug, 1. Szene) weist in dieselbe Richtung:

Wahnwitzige, Poeten und Verliebte

Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht

Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt:

Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht

Nicht minder irr, die Schönheit Helenas

Auf einer äthiopisch braunen Stirn.

Des Dichters Aug’ ‚ in schönem Wahnsinn rollend,

Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd‘ hinab,

Und wie die schwang’re Phantasie Gebilde

Von unbekannten Dingen ausgebiert,

Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt

Das luft’ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.28

Tatsächlich spricht die Dichtung, wie Mallarmé es drei Jahrhunderte später ausdrückte, über „ce seul objet dont le Néant s’honore“. Shakespeare gestaltet hier eine Triade aus einem tollen Menschen, der überall Teufel sieht (einen Busch fälschlicherweise für einen Bären hält), einem Verliebten, der in einem gewöhnlichen Gesicht vollkommene Schönheit erblickt, und einem Dichter, der „das luft’ge Nichts benennt und ihm festen Wohnsitz gibt“. In allen drei Fällen besteht die Lücke zwischen der gewöhnlichen Realität und einer transzendenten ätherischen Dimension, wird jedoch schrittweise verkleinert: Der Tolle nimmt einfach etwas fälschlicherweise als etwas anderes wahr (einen Busch als einen bedrohlichen Bären) und sieht es nicht als das, was es ist; ein Verliebter bleibt bei der Realität des geliebten Objekts, die nicht entwertet, sondern bloß in die Erscheinung einer erhabenen Dimension „verwandelt“ wird (das geliebte gewöhnliche Gesicht wird so wahrgenommen, wie es ist, als solches aber überhöht – ich sehe die Schönheit in ihm, so wie es ist); von einem Dichter wird die Transzendenz auf null reduziert, das heißt, er „verwandelt“ die empirische Realität (nicht in einen Ausdruck/eine Materialisation irgendeiner höheren Realität, sondern) in eine Materialisation von nichts. Ein Toller sieht Gott unmittelbar, er hält eine Person für Gott (oder den Teufel); ein Verliebter sieht Gott (die göttliche Schönheit) in einer Person; ein Dichter sieht lediglich eine Person vor dem Hintergrund des Nichts.

Wie ist eine solche Entität, die als Sich-selbst-Erscheinen von nichts funktioniert, möglich? Die Antwort ist klar: Eine solche nichtsubstanzielle Entität muss rein relational, ohne positive Unterstützung durch sich selbst sein. Was beim Übergang von der Substanz zum Subjekt geschieht, ist somit eine Art reflexiver Umkehr: Wir gehen von dem geheimen Kern eines Objekts, der für andere Objekte unzugänglich ist, zur Unzugänglichkeit an sich über – $ ist nichts als seine eigene Unzugänglichkeit, sein Scheitern, Substanz zu sein. Darin liegt Lacans Leistung: Die psychoanalytische Standardtheorie fasst das Unbewusste als psychische Substanz der Subjektivität (den altbekannten verborgenen Teil des Eisbergs) auf – als die ganze Tiefe der Wünsche, Fantasien, Traumata und so weiter –, während Lacan das Unbewusste entsubstanziiert (für ihn ist das kartesische Cogito das Freud’sche Subjekt) und die Psychoanalyse so auf die Höhe der modernen Subjektivität bringt. (An dieser Stelle gilt es den Unterschied zwischen dem Feud’schen Unbewussten und dem „Unbewussten“ der neurobiologischen Hirnforschung zu beachten: Letzteres bildet die natürliche „Substanz“ des Subjekts, das heißt, das Subjekt existiert nur insofern, als es durch seine biologische Substanz aufrechterhalten wird; diese Substanz ist jedoch nicht das Subjekt.)

Das Subjekt ist nicht irgendwie eher Aktant, als es Objekte sind, ein die ganze Welt fundamental passiver Objekte aktiv setzender Mega-Aktant, sodass man gegen diese Hybris die aktive Rolle aller Objekte geltend machen müsste. Das Subjekt ist in seiner grundlegendsten Form eine gewisse Geste der Passivierung, des Nichttuns, des Rückzugs, der passiven Erfahrung. Das Subjekt ist „ce qui du réel pâtit du signifiant“ (Lacan); seine Aktivität stellt eine Reaktion auf dieses Grundmerkmal dar. Darum ist es nicht so, dass die OOO der Subjektivität Rechnung trägt und sie lediglich auf eine Eigenschaft oder Qualität eines Objekts unter anderen Objekten reduziert. Was sie als Subjekt darstellt, erfüllt einfach nicht die Subjektkriterien – das Subjekt hat in ihr keinen Platz.

Das Subjekt steht nicht für aktives Eingreifen, es ist kein Akteur, der Objekte gestaltet, sich zunutze macht und beherrscht. Die Aufrufe, einzugreifen, aktiv zu werden oder die Dinge zu verändern, setzen in all ihren unterschiedlichen Varianten bereits einen Rückzug voraus, so als wäre ich irgendwie von der Realität entfernt, weshalb ich nachdrücklich gebeten werden muss, auf sie zuzugehen und in ihr tätig zu werden; und diese vorausgesetzte Entfernung ist das Subjekt in seiner reinsten Form – die Nullpunkthaltung eines Subjekts ist Bartlebys I would prefer not to. In dieser Richtung argumentierte Aaron Schuster, dass es „das tiefe Verlangen des Es“ sei „zu schlafen“ und dass vielmehr „das Über-Ich das ständig Drängende und fieberhafte Aktivität Fordernde“ darstelle: „Das Seelenleben ist keine sich von selbst ereignende energeia, sondern beruht auf normativem Druck. Leben ist eine Pflicht, es ist der grundlegendste Imperativ von allen, inbegriffen und übertragen in die Kette der Signifikanten, die ihrer Natur nach imperativisch sind.“29 Kurz gesagt, ist es nicht „natürlich“, dass der Mensch seine Existenz fortführt und weiterlebt: Leben ist eine Gewohnheit, die gelernt werden muss, zur Fortsetzung des Lebens braucht es den lästigen Druck durch das Über-Ich. Das Subjekt gleicht der lethargischen Frau in den Filmen von David Lynch: Sie muss durch brutale Schocks von außen aus ihrer unbeweglichen Trägheit erweckt werden. Todestrieb ist hier nicht mehr eine andere Bezeichnung für Unsterblichkeit, den jenseits von Leben und Tod insistierenden Wiederholungszwang, sondern er stellt buchstäblich die spontane Neigung des Subjekts zu endgültiger Unbeweglichkeit dar.

Der gängigen These der sogenannten Praxisphilosophie zufolge sind wir immer schon tief und konstitutiv in einer Lebensform verankert, ist unser Denken immer schon „praktisch“, in der sozialen Praxis verwurzelt, rührt noch das kontemplativste Denken von irgendeiner Blockierung unserer Lebensform her – und doch werden wir ständig nachdrücklich gebeten, uns einzubringen und tätig zu werden. Wir haben es hier mit einer Umkehrung des üblichen Paradoxons vom Verbot des Unmöglichen zu tun, nämlich mit der Aufforderung, das zu tun, was an sich schon geboten und unerlässlich ist. Dieses Paradox beruht auf der Voraussetzung, dass im Innersten des tätigen In-der-Welt-Seins ein Abstand da ist, eine Ausnahme besteht; Rowan Williams bezeichnete diese Ausnahme als die eigentliche Dislokation unserer Existenz, ihr grundlegendes Aus-den-Fugen-Sein.

Wir stoßen hier auf den von Althusser und anderen begangenen Fehler, das Subjekt auf die imaginäre Illusion der Selbsterkenntnis zu reduzieren – danach ist das „Subjekt“ der Effekt einer imaginären Falscherkennung, eines Kurzschlusses, der zu der täuschenden Erfahrung führt, man sei ein freier, selbstbestimmter Akteur, und den komplexen präsubjektiven (neuronalen oder diskursiven) Prozess verschleiert, der diese Täuschung hervorruft. Aufgabe der Subjektivitätstheorie ist es dann, diese Prozesse zu beschreiben und auch darzulegen, wie man aus diesem imaginären Subjektivitätszirkel ausbrechen und dem präsubjektiven Subjektivierungsprozess ins Auge sehen kann. Das Hegel’sche (und Lacan’sche) Gegenargument lautet hier, dass die „Subjektivierung“ (die Herausbildung des subjektiven Bedeutungsraums) in einer Schließung des Kreislaufs der Selbsterkennung gründet, das heißt in einer imaginären Verschleierung des traumatischen Realen, der Wunde des Antagonismus. Dagegen stellt diese „Wunde“, dieses Trauma, dieser Schnitt im Realen das Subjekt selbst an seinem Nullpunkt dar, sodass – um die bekannte Zeile aus Wagners Parsifal zu paraphrasieren – das Subjekt selbst die Wunde ist, die es zu heilen sucht (beachten wir, dass Hegel das Gleiche vom Geist sagt). Dieser „absolute Widerspruch“, dieses radikale Zusammenfallen der Gegensätze – die „Wunde der Natur“, der Verlust der „organischen Einheit“ und gleichzeitig das aktive Bemühen, diese Wunde durch den Aufbau eines Bedeutungsuniversums zu heilen, das Erzeugen von Sinn mit einem traumatischen Kern von Unsinn, der Punkt absoluter Singularität (des „Ich“ unter Ausschluss allen substanziellen Inhalts), in dem die Allgemeinheit zu sich selbst gelangt, als solche „gesetzt“ wird – ist das, was die Subjektivität definiert und konstituiert. Eine von Hegels Bezeichnungen für diesen Abgrund der Subjektivität, die er der mystischen Tradition entnimmt, ist die „Nacht der Welt“, der Rückzug des Selbst aus der Dingwelt in die Leere, die der Kern des Selbst „ist“. Dabei gilt es unbedingt zu beachten, wie sich in dieser Rückzugsgeste (klinisch ausgedrückt, der Auflösung des Ganzen der „Welt“, des ganzen Bedeutungsuniversums) äußerste Abschottung und äußerste Offenheit, äußerste Passivität und äußerste Aktivität überlagern. In der „Nacht der Welt“ überlagert sich der äußerste Selbstrückzug, das Kappen der Verbindungen zur umgebenden Realität, mit der äußersten Offenheit der Realität gegenüber: Neben und mit allen Symbolrastern, die unseren Zugang zur Realität filtern, lassen wir auch sämtliche Schutzschilde fallen und riskieren so, dass wir dem Realen in gewisser Weise in seiner Widerwärtigkeit vollkommen ausgesetzt sind. Inhaltlich gesehen handelt es sich um eine Position radikaler Passivität (um die eines Kant’schen transzendentalen Subjekts, das seine Realitätsverfassung außer Kraft setzt), was jedoch ihre Form betrifft, ist es eine Haltung der radikalen Aktivität, des gewaltsamen Herausreißens aus der Verankerung in der Realität: Ich bin vollkommen passiv, meine passive Haltung liegt jedoch in meinem – in einer Geste äußerster Negativität vollzogenen – Rückzug aus der Realität begründet.

In diesem Sinne verschleiert die „Demokratie der Objekte“, in der Subjekte unter die Objekt-Aktanten zählen, das Reale der Subjekte, den Schnitt, der das Reale ist. Der entscheidende Punkt ist hier, dass jeder unmittelbare Zugang zu „subjektlosen Objekten“, der diesen Schnitt oder diese Wunde, die das Subjekt „ist“, übergeht oder umgeht, bereits auf die transzendentale Konstitution angewiesen ist und sich entsprechend auf sie stützen muss: Was als Multiversum von Aktanten bezeichnet wird, entspricht seiner Form nach einer bestimmten transzendentalen Realitätsauffassung. Anders gesagt, liegt die Schwierigkeit in Bezug auf subjektlose Objekte nicht darin, dass sie zu objektiv sind, die Funktion des Subjekts vernachlässigen, sondern darin, dass die von ihnen beschriebene subjektlose Objektwelt zu subjektiv ist und sich bereits innerhalb eines unproblematisierten transzendentalen Horizonts ansiedelt. Das Ansich lässt sich nicht dadurch erreichen, dass man die subjektiven Erscheinungen fortreißt und die „objektive Realität“, wie sie unabhängig vom Subjekt „da draußen“ besteht, abzugrenzen versucht; das Ansich nämlich schreibt sich selbst gerade in den subjektiven Überschuss, die subjektive Lücke oder Inkonsistenz ein, durch die sich in der Realität ein Loch auftut. Diese Lücke wird sowohl von der OOO als auch vom Transzendentalismus in all seinen heutigen Versionen von Heidegger bis Habermas verfehlt: Obwohl die beiden große Widersacher sind, halten sie jeweils am transzendentalen Horizont als dem ultimativen Horizont unseres Denkens fest (Heidegger an der geschichtlichen Entbergung des Seins, Habermas am Apriori der symbolischen Kommunikation).

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