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Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot? Wenn der Krake erwacht
ОглавлениеIch glaube, daß es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure, bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen, gefährlicher geworden ist.
Dieses Buch geht von einer einfachen Prämisse aus: Ja, Nietzsche hat (mit dieser Äußerung aus „Vom Nutzen und Nachteil der Historie“1) recht – wenn auch nicht in dem vernichtenden Sinne, in dem sie gemeint war. Hegels Denken ist geradezu eine Art philosophischer Riesentintenfisch: ein gefährliches und monströses Geschöpf, dessen lange Begriffstentakel es ihm ermöglichen, Einfluss zu nehmen, und das oft aus unsichtbaren Tiefen. Eine beliebte Metapher für das subversive Wirken aus dem Untergrund ist der Maulwurf.2 Das beginnt mit Shakespeares Hamlet, der dem Geist seines Vaters zu der Hartnäckigkeit gratuliert, mit der er von unterhalb der Bühne weiterspricht: „Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort“ (Hamlet, 1. Akt, 5. Szene3). Am Schluss seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bezieht sich Hegel auf diese Szene, um das unterirdische Wirken zu charakterisieren – allerdings nicht als das Wirken eines Gespenstes, sondern das des Weltgeistes, der einem neuen Zeitalter den Boden bereitet:
Oft scheint er [der Geist] sich vergessen, verloren zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist er ein innerliches Fortarbeiten – wie Hamlet vom Geiste seines Vaters sagt, „Brav gearbeitet, wackerer Maulwurf “ – bis er, in sich erstarkt, jetzt die Erdrinde, die ihn von seiner Sonne, seinem Begriffe schied, aufstößt, daß sie zusammenfällt.4
In Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte übernimmt Marx das Bild vom Maulwurf: Wenn es schlussendlich zum Ausbruch einer Revolution kommt, „wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!“5 Diese Geschichte von Wiederholungen gelangt in Michael Hardts und Toni Negris Empire: Die neue Weltordnung zu ihrer Selbstaufhebung, und ihre Formel dazu lautet: „Marx’ alter Maulwurf ist tot!“6 Der Grund dafür liegt nahe: Der Maulwurf nämlich verbindet sich allzu eng mit der Vorstellung von einer real bestehenden Vernunft, die durch ihre List im Geheimen die Fäden der Geschichte zieht. Hegel drückt diesen Aspekt manchmal auf noch direktere und vulgärere Weise aus, wie zum Beispiel in einem Brief an Niethammer von 1816:
Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick und dünne. Unzählbare leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren drum herum, die meisten wissen von gar nichts, um was es [sich] handelt, und kriegen nur Stöße auf den Kopf wie von einer unsichtbaren Hand.7
Es lässt sich nur schwer eine Auffassung denken, die dem heutigen Empfinden offensichtlicher zuwiderläuft. Als nicht minder offensichtlicher Ersatz für den „Maulwurf “ scheint sich natürlich das „Rhizom“ anzubieten, ein kompliziertes Geflecht gegenseitiger Verbindungen, das ohne zentrale Kontrollinstanz auskommt. Für meinen stalinistischen Verstand aber ist die Tatsache, dass Deleuze diesen Ausdruck von Jung übernommen hat,8 nicht einfach ein unbedeutender Zufall – sie weist vielmehr auf einen tieferen Zusammenhang hin. (So verwundert es auch nicht, dass sich Deleuze in seinem frühen Text über Sacher-Masoch [1961] für seine Kritik an Freud weitgehend auf Jung stützt.9) Darum bin ich versucht, als Ersatz für den bedauernswerten Maulwurf das weitaus beunruhigendere Bild eines Kraken, eines abscheulichen riesigen Tintenfischs, vorzuschlagen.10
Wasser ist das Element, in dem ein Krake gedeiht, und es ist keineswegs Zufall, dass der für gewöhnlich als „erster Philosoph“ geltende Thales von Milet, ein Vertreter des sogenannten ionischen Materialismus, das Wasser als Substanz aller Dinge postulierte, als erstes Prinzip, aus dem alles hervorgeht.11 Aristoteles hat in seinen Äußerungen das Überraschende an dieser Festlegung herausgestellt: Aus traditioneller mythischer Sicht nämlich ist die (Mutter) Erde die Grundlage von allem, die Ursubstanz, während das Wasser als das trennende/bewegende/zersetzende Element an zweiter Stelle kommt. Diese erste Ersetzung (Wasser anstelle der Erde) eröffnete in der Weiterentwicklung des vorsokratischen Denkens die Möglichkeit zu weiteren Ersetzungen (Feuer anstelle von Wasser und andere mehr). Wenn das Wasser anstelle der Erde als Urelement gesetzt wird, so gestaltet sich die Veränderung im Raum desselben Gegensatzes von Erde und Wasser nicht symmetrisch: Der ganze Raum verändert sich in seiner Struktur, ein fremdes Element siegt über die heimische Stabilität, ein fließender Prozess siegt über die Stabilität einer festen Substanz. Abstrakter formuliert heißt das: Obwohl Wasser und Erde als Elemente eines vorbegrifflichen mythischen Raumes erscheinen mögen, funktioniert das Wasser als Urprinzip bereits als begriffliche Vorstellung im Unterschied zur Erde als mythopoetischer Entität. Oder, wie es bei Hegel heißt, das Wasser ist als Urprinzip nicht mehr das materielle Wasser, sondern eine ideelle Entität. Das Übergehen vom Maulwurf zum Kraken ist in erster Linie der Wechsel des Elements, in dem das Wesen haust – von der Erde zum Wasser.
Der mythische Krake, diese ultimative Gestalt eines Abjekts – ein riesiges Geschöpf, das seit Ewigkeiten auf dem Meeresgrund schläft und in apokalyptischen Zeiten aus seinem Schlummer erweckt werden wird –, wurde von Alfred Tennyson in seinem Gedicht von 1830 gefeiert: „Hier liegt er seit Äonen, wird er liegen,/Wird schlafend schlingen riesiges Seegewürm,/Bis einst der letzte Brand den Abgrund wärmt;/Dann steigt er, unter Mensch- und Engelsblicken,/Brüllend hinauf, um droben zu verenden.“12 Ist nicht unsere Zeit – genauer: das Zeitalter der kapitalistischen Moderne – eine solche Epoche des erwachten Kraken? Ist der Krake nicht ein perfektes Bild für den globalen Kapitalismus, der – allmächtig und stumpfsinnig, gerissen und blind – mit seinen Tentakeln unser Leben steuert?