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Kapitel 4

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Dover, KentJuli 1821

Zur selben Stunde, als sich die Viscountess Panswick wieder einmal bewusst wurde, wie sehr sie es hasste, nach London zu reisen, um sich der strapaziösen und langwierigen Zeremonie einer Krönung auszusetzen, vertrat eine andere Frau, kaum sechzig Meilen weiter westlich von Lancroft Abbey, eine ganz andere Ansicht. Miss Prudence Sanders, ein lediges Fräulein von vierundfünfzig Jahren, hatte ihrem Bruder hinter der Tür zu seinem Schifffahrtskontor aufgelauert und verstellte ihm nun mit ihrem Rollstuhl den Weg ins Innere. Sie war wie immer ganz in Schwarz gekleidet. Eine riesige Haube ohne jeden Zierrat thronte auf ihren dünnen, streng zurückgekämmten und am Hinterkopf zu einem mageren Dutt zusammengefassten Haaren. Die blassen, mit blauen Äderchen durchzogenen Wangen waren leicht gerötet.

„Wir müssen nach London, Bruder! Als gute Royalisten ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, unserem neuen Monarchen zuzujubeln. Schließlich ist er König von Gottes Gnaden und …“

„Vor allem ist er ein elender Verschwender“, unterbrach sie ihr Bruder mürrisch, „und gerade dich als alte Jungfer sollten seine Weibergeschichten abschrecken. Jetzt lass mich durch, ich habe zu arbeiten!“

Prudence dachte gar nicht daran, mit ihrem Rollstuhl zu weichen. „Es steht dir als einfachem Kaufmann nicht zu, über einen König zu urteilen“, erklärte sie großspurig, wobei die Bezeichnung einfacher Kaufmann eine Retourkutsche für seine alte Jungfer gewesen war, wie ihrem Bruder nicht entging. „Es gehört sich, dass wir bei diesem Ereignis dabei sind, wenn wir schon die Gelegenheit dazu haben.“ Sie hob energisch ihre Rechte: „Da lasse ich keinen Widerspruch aufkommen. Das hätten auch unsere Eltern, Gott sei ihrer Seele gnädig, so gewollt.“

John Sanders war ein ernster Mann mit festen Grundsätzen, der es gewöhnt war, dass sein Wort galt und es keinen gab, der sich ihm zu widersetzen wagte. Seine ältere Schwester bildete, zu seinem Leidwesen, eine Ausnahme. Er hatte dereinst von seinem Vater zwei kleine Boote und ein weitläufiges Steinhaus am Hafen geerbt. Längst hatte er dem Fischfang Good Bye gesagt und sich als Kaufmann einen Namen gemacht. Sobald er Anfang des Jahres 1812 Wind davon bekommen hatte, dass die East-India-Company das Privileg verlieren würde, die Einzigen zu sein, die Tee importieren durften, hatte er ein Frachtschiff in Auftrag gegeben. Diese Entscheidung hatte sich als goldrichtig erwiesen, hatte er doch, seit er 1813 mit dem Handel von Tee aus dem fernen Indien begonnen hatte, ein stattliches Vermögen angehäuft. Ein Vermögen, das er mit harter Arbeit in Zukunft noch weiter zu vergrößern trachtete. Für Ausflüge in die Hauptstadt gab es daher in seiner Terminplanung keinen Platz. Schon gar nicht an der Seite seiner Schwester, die ihm wieder einmal über alle Maßen auf die Nerven ging.

„Unsere Eltern sind seit dreißig Jahren tot, Prue“, sagte er daher streng. „Außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Vater einen Mann gutgeheißen hätte, der, wenn man dem Dover Chronicle glauben darf, allein vierundzwanzigtausend Pfund für einen Krönungsmantel auszugeben gedenkt. Nur weil es seiner Eitelkeit dient, diesen mit etwas so Sinnlosem wie einem weißen Hermelinkragen und goldenen Sternen schmücken zu lassen …“

Mr Sanders wurde abermals von einer strikten Geste seiner älteren Schwester unterbrochen. „Ein König ist und bleibt ein König. Allwissend und unantastbar, von Gott dem Herrn ernannt, um über uns zu herrschen.“

Mr Sanders verzog unwillig das Gesicht und klopfte mit dem altmodischen schwarzen Dreispitz, den er immer noch in Händen hielt, ungeduldig gegen seine Oberschenkel. Er hasste es, vom Hafen zurückzukommen und sich mit einem für ihn uninteressanten Thema befassen zu müssen, bevor er noch die Gelegenheit gehabt hatte, Hut und Umhang abzulegen. Also fand er, genug gehört zu haben. Er drängte sich am Rollstuhl vorbei und hängte den Hut an den Haken.

„Meine Antwort ist und bleibt ein klares Nein, Schwester. Die Cloud of the Seas ist seit Tagen überfällig. Ich muss hier im Hafen sein, wenn sie ankommt.“

Da spielte Prudence Sanders noch einen weiteren Trumpf aus: „Willst du allen Ernstes Lady Wingham vor den Kopf stoßen, John? Es war so überaus freundlich von ihr, uns ihre reservierten Plätze bei der Parade zu überlassen. Sie kann sie ja nicht selbst in Anspruch nehmen, nachdem ihr Gatte vom Pferd gestürzt ist und sich beide Beine verletzt hat …“

„Ach, richtig“, die Erwähnung des wichtigsten Ehepaares im Landkreis ließ ihren Bruder kurz innehalten, bevor er, bar jeden Einfühlungsvermögens, hinzufügte: „Wenn sich der Baron schon mit seinen harmlosen Blessuren außerstande sieht, in die Hauptstadt zu reisen, wie willst du es dann anstellen? Du sitzt im Rollstuhl, es gibt nichts, wozu du dich allein in der Lage siehst. Verlangst du etwa allen Ernstes, dass ich nur deshalb als dein Begleiter mitkomme, um dich durch die Gegend zu schieben? Und hier meine bedeutend wichtigeren Pflichten vernachlässige?“

Seine Tochter Claire, die wie meist an ihrem Schreibtisch vor dem Fenster saß, schnappte erschrocken nach Luft, sagte jedoch keinen Ton. Das war nichts, was den anderen aufgefallen wäre, denn Claire sprach so gut wie nie. Wenn sie etwas gesagt hätte, dann hätte es keinen der beiden interessiert. Dabei hätte Claire allerhand zu sagen gewusst, doch da sie sich weder Ermahnungen noch Rügen oder Belehrungen einhandeln wollte, vertraute sie ihre Gedanken allein ihrem Tagebuch an.

Claires Mutter war eine junge Schneiderin aus der Normandie gewesen, die nach der Revolution allein und mit kaum Geld in der Tasche aus ihrer Heimat hatte fliehen müssen. Trotz dieses schlimmen Schicksals war sie fröhlich und unbeschwert geblieben. In Dover, der Stadt, in der sie von Bord des Schiffes gestiegen war, hatte sie eine Stelle im Schneidersalon angenommen und erfreute sich durch ihre gewinnende Art und ihren stilsicheren Geschmack bei ihren Kundinnen rasch großer Beliebtheit. Zwei Jahre später heiratete sie John Sanders, half ihm durch geschicktes Wirtschaften das Geld zu vermehren, gebar ihm eine Tochter und starb vor sieben Jahren an einem heimtückischen Fieber. Claire war damals erst vierzehn Jahre alt gewesen. Eine Woche später kam ihre Tante nach Dover, um das Kommando zu übernehmen. Das Gehen war ihr auch damals schon schwergefallen, aber noch war sie nicht an den Rollstuhl gefesselt gewesen. Prudence war kaum eine Woche hier, da war sie, ohne anzuklopfen, in Claires Zimmer geplatzt und hatte sie dabei ertappt, wie sie ihr Tagebuch hinter dem Rücken zu verstecken versuchte. Sofort hatte sie es sich geschnappt, gelesen und ihre Nichte für dieses und jenes zurechtgewiesen. Seither schrieb Claire alle Einträge auf Französisch, und die neugierige Tante hatte das Nachsehen.

Mit dem Tod seiner geliebten Gemahlin schienen auch sämtliche angenehmen Eigenschaften in John Sanders gestorben zu sein. Er vergrub sich in seine Arbeit, wurde immer wortkarger und strenger und ließ seine Schwester, die er herbeigeholt hatte, um sich um Claire und den Haushalt zu kümmern, schalten und walten, wie es ihr beliebte. Mit Prudence kamen Gottesfurcht, schwarze Kleider und Sparsamkeit ins Steinhaus am Hafen, dafür verschwanden alle Leichtigkeit und jeder Frohsinn, Lachen, Liebe und Lebenslust. Wenn man es genau nahm, dann kümmerte sich Prudence viel weniger um Claire, als Claire sich um sie kümmern musste. Das tat sie still, um nicht aufzufallen, aufmerksam aus dem Hintergrund.

In diesem hielt sie sich auch jetzt, während ihre Tante nicht lockerließ: „Ich dachte, du legst so großen Wert darauf, mit dem Baron Wingham in bestem Einvernehmen zu stehen“, keifte sie gerade. „Da kannst du ihn doch nicht vor den Kopf stoßen und die Freundlichkeit seiner Gemahlin zurückweisen, als wäre sie eine unbedeutende … äh … Dienstmagd. Hast du vergessen, dass Ihre Ladyschaft uns auch die gebuchten Zimmer während der Reise und in einem Londoner Hotel zur Verfügung stellt? Du bist es doch, der immer sagt …“

Ihr Bruder verzog die blassen Lippen zu einem Strich und griff sich kurz mit der Rechten ans Herz.

„Gut, dann fahr, in Gottes Namen. Nimm Claire mit. Aber Joseph bleibt hier, den brauche ich, wenn das Schiff entladen werden soll. Ihr müsst mit William vorliebnehmen.“

Während Prudence nickte und mit einem höchst zufriedenen Lächeln den Rollstuhl mit geübten Griffen zu drehen begann, um vom Eingang in den Raum hinein zu rollen, glaubte ihre Nichte, den Ohren nicht trauen zu können, und ließ einen erschrockenen Aufschrei hören. Sie sollte nach London reisen? Sie? Die noch nie aus Dover hinausgekommen war? Hieß es nicht immer, London sei schmutzig und gefährlich und es stinke zum Gotterbarmen? Was, wenn sie sich in all den vielen Gassen der Hauptstadt verirrte? Außerdem hatte sie nichts Passendes anzuziehen! Sie konnte doch nicht in einem ihrer schlichten schwarzen Kleider aus grobem Leinen bei einer feierlichen Krönung erscheinen. Außerdem hatte sie im Kontor viel zu viel zu tun. Wenn erst einmal das Schiff hier einträfe, dann würden sie die Abrechnungen viele Tage beschäftigen. Da sie nach den richtigen Worten suchte, war der erschrockene Aufschrei bisher das Einzige gewesen, was ihren Vater auf sie aufmerksam gemacht hatte.

„Komm mir du nicht auch noch mit Widerspruch, Tochter!“, hörte sie da auch schon seine strenge Stimme. „Ohne Anstandsdame kannst du nicht hierbleiben, und deine Tante braucht deine Hilfe, wie du sehr wohl weißt. Erinnere mich daran, dich mit dem nötigen Kleingeld auszustatten. Genieß deinen letzten Ausflug in Freiheit. Wenn die Cloud of the Seas erst einmal wieder sicher im Hafen liegt und Jason Croydon festen Boden unter den Füßen hat, dann wird geheiratet. Na, wie klingt das für dich?“

Wie das für sie klang? Schrecklich klang das. Natürlich wollte Claire eines nicht allzu fernen Tages vor den Traualtar treten, aber doch nicht mit diesem polternden, um einiges älteren Mann, der in ihr Angst und Respekt anstatt romantische Gefühle auslöste. Andererseits war er rechtschaffen und fleißig, und Papa hielt große Stücke auf ihn, also würde ihr wohl keine andere Wahl bleiben. Sie bemerkte, dass ihr Vater sie mit zusammengekniffenen Augen erwartungsvoll ansah und beeilte sich, mit einem „Wie du meinst, Papa“ zu bestätigen, dass sie ihn gehört hatte. Dann stand sie auf, um ihrer Tante vom Rollstuhl aufs Sofa zu helfen.

„Claire, koch mir Baldriantee“, forderte diese, ohne sich dafür zu bedanken. „Das Gespräch mit dem sturen Mannsbild, das sich dein Vater nennt, hat doch allzu sehr an meinen zarten Nerven gezerrt.“ Sprachs und versank in ein stilles Gebet.

Ihr Bruder schnaufte unwillig, griff zu seinem Hut und verließ erneut das Kontor.

Ein Dandy in Nöten

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