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Kapitel 8

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Claire Sanders hätte es sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können, wie sehr sie die Reise nach London genießen würde. Hatte ihr Tante Prue nicht immer und immer wieder vorgejammert, wie unbequem Fahrten in der Reisekutsche wären, wie schrecklich man dabei durchgeschüttelt würde und wie furchtbar die stete Angst sei, sich dabei sämtliche Knochen zu brechen? Das Personal in den Poststationen und Schänken, so hatte es geheißen, sei unfreundlich, ja geradezu unverschämt, das Essen ungenießbar, die Zimmer verwanzt und verlaust und die Hauptstadt selbst nichts als ein stinkender, lauter, ekelhafter Moloch voller Menschen, denen man lieber nicht begegnet wäre. War es da ein Wunder, dass sie in der Nacht vor der Abreise zitternd in ihrem Bett gelegen, sich die schlimmsten Dinge ausgemalt und ihre tote Mutter um Beistand angefleht hatte?

Doch sobald am nächsten Tag die Landschaft an der Kutsche vorbeigezogen war, da hatte sie gar nicht mehr aufhören können, mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster zu starren. Sie hätte sich gern mit ihrer Tante unterhalten, hätte ihr Fragen gestellt und sie auf das eine oder das andere am Wegesrand aufmerksam gemacht, doch Prudence Sanders war vom Rattern der Räder rasch müde geworden und schlief fast die ganze Zeit.

Ihre erste Etappe führte sie nach Canterbury, wo sie in einem Gasthaus gegenüber der Kirche nächtigten. Die Wirtsleute waren freundlich, das Essen im für sie bereitgestellten Extrazimmer gut und die Besichtigung der Kathedrale für Claire ein erhebendes Erlebnis. Wie gern wäre sie noch länger durch die Stadt promeniert, doch Tante Prue hatte zum Aufbruch geblasen. Als sie wieder in der Kutsche saßen, fühlte sich Claire beschwingt und fröhlich. So, als hätte man ihr ein Paar Flügel geborgt, mit der Erlaubnis, sich für kurze Zeit aus der Schwere des eintönigen Alltags zu erheben, um die Welt aus luftigen Höhen zu betrachten. Ihrer Hochstimmung konnten auch die nörgelnden Worte der Tante und ihre stündlichen gemurmelten Gebete nichts anhaben.

Ich möchte reisen, dachte Claire. Ich will die Enge des väterlichen Kontors verlassen und noch viel mehr von der Welt sehen.

In die brüchigen Ledersitze der Kutsche zurückgelehnt, träumte sie von einer aufregenden Zukunft. Den Platz der Tante hatte in ihrer Fantasie längst ein fröhlicher junger Mann eingenommen, der ihr die langen Fahrten dadurch verkürzen würde, dass er aus Reiseführern vorlas und ihre überschäumende Vorfreude auf die gemeinsamen Ziele teilte. Sofort schob sich das mürrische Bild von Jason Croydon vor das Bild des fröhlichen Mannes. Doch noch war sie nicht mit ihm verheiratet, noch konnte sie es mit einem Wisch aus ihrem Blickfeld entfernen.

Am Abend vor der Krönung waren sie dann, einen Tag später als geplant, in London angelangt, und nur der Tatsache, dass der Diener, den sie per Pferd vorausgeschickt hatten, rechtzeitig eingetroffen war, war es zu verdanken gewesen, dass man das Zimmer für sie freigehalten hatte. Aufgrund der bevorstehenden Zeremonie waren alle verfügbaren Unterkünfte längst ausgebucht und Claire wollte gar nicht daran denken, dass sie schlimmstenfalls mit ihrer Tante die Nacht auf der Straße hätte verbringen müssen, wie es, was ein Blick durch ihr Kammerfenster gezeigt hatte, viele andere Schaulustige taten.

Dann war also der Morgen der Krönung angebrochen und versprach einen heißen Sommertag. Claire hatte, wie sie es von zu Hause gewöhnt war, geholfen, ihre Tante anzukleiden und sie zum Ausgehen fertig zu machen. Mit den Jahren hatte sie viel Geschick im Frisieren entwickelt, denn so gottesfürchtig Prudence Sanders auch war, so eitel war sie, was ihre Haare betraf. Die mussten akkurat sitzen, bevor man die voluminöse Haube darüber befestigen durfte. Zur Feier des Tages trug sie Claire auf, die Hutnadel mit dem leuchtenden Rubin daran zu befestigen, ein Erbstück ihrer Großmutter. Inzwischen hatte eines der Hausmädchen ein kaltes Frühstück auf die Kammer gebracht, da Prudence es nicht für angebracht hielt, mit Gästen zu speisen, die ihr nicht vorgestellt worden waren, und es kein freies Extrazimmer für sie beide gab. Auch Claire hatte sich besonders fein gemacht. Zu ihrem Leidwesen war ihr nichts anderes übriggeblieben, als wieder in eines ihrer schwarzen Kleider zu schlüpfen. Allerdings war dieses das gute, das sie nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank hervorholen durfte. Mit zierlichen Puffärmeln und Spitze unter der Brust und am Dekolleté. Dazu trug sie einen Schutenhut aus geflochtenem Stroh, auf den sie heimlich ein himmelblaues Band genäht hatte.

„Es ist die Lieblingsfarbe unseres neuen Königs“, sagte sie, als die Tante Protest einlegte, und nahm ihr den Wind aus den Segeln, als sie anfügte: „Ich trage es, um ihm eine Freude zu machen.“

Nach dem kargen Morgenmahl saßen sie nebeneinander auf der Bettkante und warteten. William, der Diener, den sie nach London vorausgeschickt hatten, hätte schon vor einer halben Stunde hier sein müssen, um sie zu den reservierten Plätzen vor der Abbey zu geleiten. Die Minuten schienen sich wie Stunden zu ziehen, doch der Bursche kam nicht. Prudence hatte schon mehrmals nach der Wirtin geläutet, doch diese erklärte stets, zunehmend unfreundlicher werdend, dass auch sie keine Ahnung hätte, wo er sein könnte. Man hatte in seiner Kammer über den Stallungen nachgesehen, das Bett sei zerwühlt gewesen, das Zimmer jedoch leer.

„Dann müssen wir eben ohne ihn los“, bestimmte die Tante und hob den Arm zum Zeichen dafür, dass ihr die Nichte beim Aufstehen helfen sollte. „Wir können schließlich nicht ewig auf den Nichtsnutz warten.“

„Aber Tante Prudence“, versuchte Claire einen Einwand zu erheben, „was, wenn wir die Abbey nicht finden? Wir werden uns in dieser riesengroßen Stadt verirren …“

„Da müssten Sie sich aber schon sehr dumm anstellen!“ Die dralle Wirtin hatte ihre Arme in die Seiten gestemmt und lachte nun laut auf. „Sie brauchen doch nur ein paar Yards die Totham Street hinunter und dann liegt die Abbey direkt in ihrem Blickfeld. Die können Sie nicht verfehlen.“

Claire war trotzdem nicht wohl zumute, doch ihre Tante erstickte jeden weiteren Widerspruch im Keim. „Wir versäumen am Ende den Einzug des Königs, wenn wir hier noch länger herumsitzen. Auf, auf, Claire! Du hast doch kräftige Arme. Du rollst mich jeden Sonntag die Harbour Street hinauf, da wirst es doch auch schaffen, mich über einen ebenen Platz zu schieben! Wie wir soeben gehört haben, ist es ja nicht weit.“

Claire half der Älteren in den Rollstuhl. Das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, das sie auf der Anreise beflügelt hatte, hatte längst der bleiernen Gewissheit Platz gemacht, dass sie wieder einmal allein die Verantwortung für sich und ihre gelähmte Tante trug. Sie seufzte, wartete, bis die Wirtin zuerst die Zimmertür und dann auch noch die Haustür geöffnet hatte, und bemühte sich, den Stuhl auf die Straße hinauszuschieben. Die Türschwelle war so hoch, dass sie all ihre Kräfte bündeln musste, um es ins Freie zu schaffen. Im Zimmer und im Hausflur war es dämmrig und stickig gewesen, doch nun blendete das grelle Sonnenlicht. Sie blieb kurz stehen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, doch Tante Prudence drängte vorwärts: „Beeilung!“, forderte sie. „Keine Müdigkeit vorschützen!“

Folgsam schob Claire den Rollstuhl die Totham Street entlang. Da bereits viele Menschen unterwegs waren, bemühte sie sich eifrig, bei niemandem anzustoßen. Zum Glück eilten alle in dieselbe Richtung, sodass ein rasches Vorwärtskommen möglich war, und bald atmete sie auf, als sie die Abbey tatsächlich vor sich liegen sah. Nun musste sie nur noch heil durch die Menschenmenge kommen, die kreuz und quer über den weitläufigen Vorplatz lief, und dann die reservierten Plätze finden.

„Weiter, Claire!“, forderte die Tante und streckte ihren Arm nach rechts: „Was bist du denn heute wieder schlafmützig! Sieh nur, dort vorne ist eine Schneise zwischen den Leuten. Dort, hinter dem Mann mit dem dunklen Jackett. Schnell, folge ihm!“

Natürlich gehorchte Claire auch diesem Befehl. Wie sich herausstellte, hatte Prudence recht gehabt. Im Windschatten des Mannes kamen sie wirklich ein großes Stück weiter, bis … ja, bis dieser unvermittelt stehen blieb, Claire nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und der Rollstuhl von hinten gegen seine Waden krachte.

Er schrie auf, die Tante schrie auf und die Umstehenden, die ebenfalls den Zusammenprall mitbekommen hatten, schrien auch. Claire war viel zu erschrocken, um mitzuschreien. Sie spürte, wie ihre Wangen rot anliefen, und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Dann drehte sich der Mann zu ihr um und sie hielt die Luft an. So einen gut aussehenden jungen Stutzer hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. So jemanden gab es in Dover nicht, so jemanden mit dichten blonden Haaren, fein geschwungenen Lippen und strahlenden blauen Augen. Er hatte den Mund geöffnet, offensichtlich bereit, den, der ihm die unerwarteten Schmerzen zugefügt hatte, einen Kopf kürzer zu machen. Doch als er in ihre vor Schreck geweiteten Augen sah, klappte sein Mund wieder zu.

„Es tut mir leid“, flüsterte Claire schuldbewusst und senkte den Blick, nicht ohne von der Seite wieder zu seinem Gesicht hoch zu schielen.

„Keine Zeit für Konversation!“ Anscheinend hatte sich die Tante vom Zusammenprall schon wieder erholt. „Wir müssen nach vorne zu unseren Plätzen!“

„Sie haben reservierte Plätze?“, erkundigte sich der junge Mann und hob überrascht die Augenbrauen.

Claire wunderte sich, wie sehr es sie ärgerte, dass er ihnen offensichtlich keine solchen Plätze zutraute. Papa hätte sich nämlich sehr wohl welche leisten können und der Fremde konnte ja nicht wissen, dass sie ihnen von adeligen Nachbarn überlassen worden waren.

„Alles was atmet, lobe den Herrn“, begann die Tante an Stelle einer Antwort zu murmeln.

„Wie bitte?“ Der junge Mann war sichtlich irritiert, und für einen kurzen Moment trafen sich seine und Claires Blicke wieder. Blaue Augen, dachte Claire, strahlend wie der Sommerhimmel über dem Meer.

„Jubelt dem Herrn alle Lande“, setzte die Tante fort. „Herr, lass mich Dein Lob verkünden. Preiset den Herrn zu aller Zeit …“

Der Gentleman beugte sich zu Claire hinab: „Muss ich verstehen, was sie sagt?“

„Meine Tante betet“, erklärte sie ihm und kicherte. Wie sehr wünschte sie sich, der Fremde würde einen weniger seltsamen Eindruck von ihnen beiden gewinnen.

„Warum tut sie das? Jetzt, hier am Vorplatz, wo Sie es doch offensichtlich eilig haben?“

Claire blieb nichts anderes übrig, als hilflos mit den Schultern zu zucken. Sie wusste es doch auch nicht. Am liebsten hätte sie das Thema gewechselt, doch leider fiel ihr nichts ein, was dafür interessant genug gewesen wäre. Sie war es nicht gewöhnt, mit vornehmen jungen Männern Konversation zu betreiben. Schon gar nicht mit einem, der so gut aussah und sich sicher im Stand weit über ihr befand. Er war so jung, er war so fröhlich und stark, sie würde nächtelang nicht schlafen können, wenn sie an ihn dachte.

„Reisen Sie gern?“, hörte sie sich fragen.

An seinem Blick erkannte sie, dass er darüber nicht weniger erstaunt war als sie selbst. Wie kam sie bloß dazu, diese Frage laut auszusprechen? Ihre dummen Träumereien in der Kutsche! Sie musste den Verstand verloren haben. Also griff sie behände zum Rollstuhl und versuchte ihn vorwärts zu schieben. Da sah sie aus dem Augenwinkel, dass er lächelte. „Wohin möchten Sie denn mit mir reisen?

Claires Herz schlug ihr bis zum Hals. Da sie ihrer Stimme nicht trauen konnte, hielt sie es für besser, nicht zu antworten und so zu tun, als müsse sie sich auf den Weg konzentrieren. Zwei Jungen sprangen unvermittelt vor den Rollstuhl.

„Achtung!“, rief sie erschrocken. Das heißt, sie hätte gern gerufen, merkte aber selbst, dass ihre Stimme kaum mehr als ein zögerliches Flüstern war. Schon kamen ihr auch noch drei stämmige Männer in die Quere. „Hätten Sie bitte die Güte … Sirs? Wir haben reservierte … Achtung, so passen Sie doch … bitte!“

Die Anzahl der Menschen, die ihren Weg kreuzten, schien immer weiter zu wachsen. Niemand schenkte ihr Beachtung. „Kannst du nicht auch etwas rufen, Tante?“, bat sie, der Verzweiflung nahe. „Du hast eine viel lautere Stimme als ich, dir würde man mehr Beachtung schenken.“

„Wo ist denn eigentlich Ihr Diener?“, erkundigte sich der Mann neben ihr. Claire wunderte sich, dass er immer noch da war. Dabei hatte sie doch schon seine letzte Frage ignoriert und würde es auch bei dieser tun. Warum ging er nicht einfach seines Weges? Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt und gleichzeitig mit beiden Armen zurückgehalten. Ach, es war so verwirrend!

„Wir wurden uns nicht vorgestellt, Sir“, sagte sie nach einem schnellen Blick zur Seite. „Wir sollten nicht miteinander sprechen.“

Da hörte sie ihn lachen.

„Nun, da niemand da ist, der dies erledigen könnte, werde ich es selbst tun.“ Er verbeugte sich galant, lächelte und sagte: „Ich bin Nik Barnett aus Tunbridge Wells.“

Er hielt ihr seine Hand hin, die sie, ohne zu überlegen, ergriff.

„Claire Sanders aus Dover“, murmelte sie, errötete zutiefst und hielt es für besser, ihm dabei nicht in die Augen zu blicken. Natürlich traf sie am Hafen und im Kontor jede Menge Arbeiter, Seemänner und Handelsleute, aber noch nie war ihr ein derart vornehmer junger Mann so nahegekommen. Noch nie hatte sie so ein verführerisches Lächeln gesehen. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. „Das ist meine Tante, Miss Prudence Sanders“, beeilte sie sich hinzuzufügen.

„Betet sie immer, wenn man sie durch die Stadt rollt?“, wollte er wissen, und sie merkte, ohne sich ihm zuzuwenden, dass er lächelte.

„Nicht nur in der Stadt“, sagte Claire und es klang bitter. „Besonders gern tut sie es, wenn …“ Sie riss sich gerade noch rechtzeitig zusammen und schwieg wieder.

„Sie ihre Hilfe brauchen“, ergänzte er den Satz.

Claire wunderte sich, dass er erahnt hatte, was sie hatte sagen wollen. „Wir müssen jetzt wirklich zu unseren Plätzen“, beeilte sie sich zu murmeln.

„Nun denn, Kopf hoch, Rücken gerade, Claire aus Dover“, sagte er aufmunternd. „Verjagen Sie jeden, der Ihnen in die Quere kommt! Ich bin sicher, dass Sie das schaffen!“

„Mich hört keiner, Sir. Glauben Sie mir, daran bin ich gewöhnt.“ Sie erschrak selbst darüber, wie freudlos ihre Worte klangen, und fügte zu ihrer Verteidigung dazu: „Ich bin eben kein großer, starker Gentleman von Stand, der es gewöhnt ist, Befehle zu erteilen.“

„Ach nein?“ Er zwinkerte ihr zu, was die Röte auf ihren Wangen vertiefte. „Nun bin ich neugierig geworden. Wie würde es denn klingen, wenn Sie ein großer, starker Gentleman wären?“

Zuerst senkte sie den Kopf noch ein wenig tiefer, dann begann sie, sich selbst Mut zuzusprechen. „Kopf hoch, Claire, Rücken gerade, blasiertes Grinsen …“ murmelte sie, richtete den Kopf auf, straffte die Schultern. „Auf die Seite! Machen Sie Platz!“, forderte sie so laut, dass die Menschen vor ihr auseinanderstoben.

„Oh“, wandte sie sich überrascht und freudestrahlend an ihn, „ich hätte nicht angenommen, dass das klappen würde. Was für ein Unterschied!“

„Von einem blasierten Grinsen hatte ich aber nichts gesagt!“, protestierte er und stimmte dann in ihr Lächeln ein. Für einen kurzen Augenblick vergaß Claire, wo sie war, wer sie war, und versank in seinen Augen. Lautes Geschrei unterbrach den innigen Moment.

„Seht nur! Da vorne ist die Königin!“, rief eine Frau mit schriller Stimme und zeigte in Richtung Abbey. „Lang lebe Königin Caroline!“

Aufgeregtes Stimmengewirr folgte diesem Ausruf. „Wo ist sie denn?“, „Ich kann sie nicht sehen!“, „Die arme Lady!“, „Warum ist sie denn nicht an der Seite des neuen Königs?“, „Es ist doch egal, dass er sich von ihr scheiden lassen wollte. Schließlich ist es ihm nicht gelungen!“, „Lang lebe die Königin!“

In diesem Augenblick hatte Prudence das gemurmelte Gebet offensichtlich beendet. „Lang lebe die Königin!“, schrie nun auch sie aus Leibeskräften, um dann von ihrer Nichte zu fordern: „So lass doch endlich den jungen Stutzer an meinen Stuhl. Ich will nach vorne! Mir scheint, wir verpassen gerade das Wichtigste.“

Das ließ sich Nicolas nicht zweimal sagen. Er ergriff die Halterungen des Rollstuhls, und kurz legten sich seine warmen Hände auf die von Claire. Mit einem erschrockenen Laut trat sie zur Seite. Da sie es nicht wagte, dem jungen Mann in die Augen zu sehen, tat sie so, als versuchte sie, ebenfalls einen Blick auf die Königin zu erhaschen.

„Platz da für Ihre Durchlaucht!“, rief Nik, gerade so, als säße Königin Caroline höchstpersönlich vor ihm im Rollstuhl, und zwinkerte Claire noch einmal zu. Plötzlich schien sich die Menschenmenge wie durch Zauberhand zu teilen. „Aus dem Weg, meine Herrschaften, aus dem Weg!“

„Wo ist denn die Königin?“, wollte Claire wissen, die nun neben dem Rollstuhl herlief: „Können Sie sie von dort oben sehen?“

Er lachte: „Nein, tut mir leid, ich kann sie auch von hier oben nicht sehen. Dafür sehe ich schon die Stuhlreihen. Wir haben es nicht mehr weit.“

Wie es der Zufall wollte, befanden sich die beiden reservierten Plätze direkt neben der rechten hinteren Kirchentür. Zwei andere Schaulustige hatten sich bereits unerlaubterweise hinter die Absperrung begeben und die Plätze eingenommen. Claire konnte nur froh sein, dass Nik an ihrer Seite war. Er machte einen der uniformierten Diener darauf aufmerksam, und dieser sorgte umgehend dafür, dass die beiden Plätze wieder freigemacht wurden. Ein Stuhl wurde weggestellt und der Rollstuhl an seine Stelle geschoben. Claire blieb unschlüssig vor ihrem Platz stehen. Von fern ertönte der laute Jubel, der das Kommen des künftigen Monarchen ankündigte.

„Ich muss Sie jetzt leider verlassen, meine Damen. Es war mir ein großes Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.“

Der junge Mann verbeugte sich formvollendet, zuerst vor der Tante, dann mit einem letzten Augenzwinkern vor ihr, bevor er sich umwandte und mit schnellen Schritten auf die hintere Kirchentür zuging. Wie gern hätte Claire ihn aufgehalten. Sie hatten doch einen freien Stuhl! Sollte sie ihm nachlaufen und ihm diesen Platz anbieten, oder war das gar zu undamenhaft und aufdringlich? Wie hatte der junge Mann gesagt, dass er hieß? Warum bloß fiel ihr nur mehr Nik aus Tunbridge Wells ein? Inzwischen hatte er eine blütenweisse Einladungskarte aus dem Inneren seines Jacketts gezogen, um sie dem ungewöhnlich breit gebauten Pagen vorzuweisen, der, die Arme vor der Brust verschränkt, vor dem Tor Wache hielt. Jetzt konnte sich Claire nicht genug für ihre Dummheit schelten. Nik hatte eine Einladung aus dem Palast, diese wies ihn als Mitglied des Hochadels aus. Warum sollte er also Lust haben, sich ihnen anzuschließen und vor der Kirche Platz zu nehmen, wenn er doch der Zeremonie hautnah im Inneren beiwohnen konnte?

Die Stimme des Pagen drang laut und klar zu ihr herüber: „Bedaure, Sir, die Türen sind längst für alle Besucher geschlossen!“ Er schien nicht einmal einen Blick auf die Karte geworfen zu haben.

„Aber ich muss hinein“, hörte sie Nik antworten. Der Page bewegte sich keinen Millimeter und sah stur geradeaus.

„Aha“, dachte Claire fasziniert, manchmal reichte es doch nicht aus, etwas mit lauter Stimme zu fordern. Da eine Gruppe Männer hinter ihr lautstark zu debattieren begonnen hatte, konnte sie den weiteren Wortwechsel zwischen Nik und dem Pagen nicht mehr verstehen.

„Ich bin der Viscount Panswick!“ In seiner Not hatte Nik beschlossen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Wenn er dadurch in die Kirche kommen würde, dann heiligte der Zweck die Mittel. Claire, die ihn nicht verstanden hatte, sah nur, dass er die Schultern straffte und auf den Mann einredete, aber ihn offensichtlich nicht überzeugen konnte.

„Wann geht das denn endlich los?“, fragte die Tante ungeduldig.

Claire hatte jedoch nur Augen für Nik.

„Bedaure, Eure Lordschaft“, hörte sie den Pagen leidenschaftslos sagen, „es ist elf Uhr dreißig. Die Zeremonie hätte schon längst beginnen sollen. Wir haben den Befehl, nach elf Uhr niemanden mehr in die Abbey zu lassen. Außer den Mitgliedern der königlichen Eskorte selbstverständlich.“

Claire sah, dass Nik einen Schritt zurücktrat und offenbar fieberhaft überlegte, was er nun am besten unternehmen sollte. Er sah zu den anderen Kirchentüren hinüber, vor denen ebenfalls kräftige Pagen postiert waren. Dann drehte er sich zu ihr um und suchte ihren Blick. Mit klopfendem Herzen bemerkte sie, wie er mit den Schultern zuckte und ratlos beide Arme hob und wieder fallen ließ. Aus seinen Zügen schien die pure Verzweiflung zu sprechen. Da stand für Claire fest, dass sie ihm helfen musste, und zu ihrem eigenen Erstaunen wusste sie auch schon wie. Mit einem Satz sprang sie vom Stuhl auf und zeigte, scheinbar aufgeregt, zum anderen Ende des Kirchenschiffes. Dabei schrie sie so laut sie konnte: „Die Königin! Sehen Sie nur, dort hinten! Die Königin!“

Faszinierend, wie laut ich brüllen kann, wenn es darauf ankommt, dachte sie mit innerem Vergnügen und war stolz auf sich.

„Lang lebe Königin Caroline!“, brüllte nun auch ihre Tante, und sofort stimmten unzählige Umstehende in diesen Jubelruf mit ein. Wie sie es gehofft hatte, war der Page sofort abgelenkt.

„Wo?“, verlangte er zu wissen und ging einige Schritte in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

Die Königin hat mich gerettet, dachte Nik aufatmend. Er warf noch einen letzten, schnellen Blick zu Claire hinüber und bemerkte, dass nun sie ihm zuzwinkerte. Seltsam, dachte er, nahm sich aber nicht die Zeit, sich näher damit zu beschäftigen. Er winkte ihr kurz zu, öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte ins Innere.

Ein Dandy in Nöten

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