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Kapitel 10

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Als Nicolas am nächsten Morgen erwachte, löste er sich zuallererst vorsichtig aus Ellis Armen, bevor er versuchte, sich auf die Standuhr zu konzentrieren, deren dumpfe Schläge vom Wohnzimmer in sein Schlafgemach drangen. Hatte sie soeben achtmal geschlagen oder war es etwa schon neunmal gewesen? Er sprang aus dem Bett und griff sich an den brummenden Schädel. Warum bloß hatte er gestern wieder einmal viel zu viel getrunken? Ach ja, weil er sich über seine Mutter geärgert hatte. Nicolas zog energisch am Klingelstrang. Wie kam sie dazu, ihn zu behandeln, als wäre er noch ein Knabe in kurzen Hosen? Dass er sich geringfügig verspätet hatte, war doch nun wirklich kein Grund, ihn abzukanzeln. Vivian und Badwell hatten sie doch offensichtlich ohnehin heil in die Abbey gebracht. Und nun musste er ihr in Kürze schon wieder unter die Augen treten, um sich die nächste Strafpredigt anzuhören. Er hatte so gar keine Lust darauf. Noch mal zog er am Klingelstrang. Diesmal so fest, als wäre dieser schuld an seinem Dilemma.

„Du bist schon auf?“, meldete sich eine verschlafene Stimme vom Bett her.

Ja, dachte Nicolas, und ich wünschte, du wärest das auch und würdest verschwinden. Er hatte keine Lust auf Konversation und, im Hinblick darauf, was ihn im Haus seines Schwagers erwartete, auch keine Lust auf weitere Gunstbezeugungen. Nicolas schlüpfte in seinen seidenen Morgenmantel und öffnete die oberste Schublade seiner Kommode. Wo blieb bloß dieser verdammte Nigel?

„Ich denke, du solltest dich ankleiden, bevor mein Diener dich hier sieht.“

„Ach, der kennt mich doch ohnehin“, sagte Elli leichthin und rekelte sich so verführerisch in den Laken, dass Nik seine Pläne zu überdenken begann. Ihre zarten, blassen Schultern, die aus der Decke hervorlugten, waren wirklich bezaubernd. Dazu die vom Schlaf geröteten Wangen, ihre zerzausten roten Locken … Nein, Mutters Stimme klang noch zu einschüchternd in seinen Ohren. Also griff er nach dem kleinen, mit roter Seide überzogenen Kästchen und schloss die Schublade mit seiner Hüfte. Er öffnete den Deckel und hielt es Elli entgegen. Die Nadel auf dem dunkelblauen Samtkissen war aus Silber und hatte einen funkelnden blauen Stein.

„Ich denke, das Ding passt auf deinen Hut, wenn du das entzückende blaue Kleid trägst“, sagte er. „Du weißt, welches ich meine. Das mit den Schleifen an der Seite.“

Elli hatte nicht so viele Kleider, dass sie einen Zweifel hegen könnte, von welchem ihr Galan sprach. Mit einem Satz war sie auf den Knien und nahm das Schmuckstück entgegen. „Es ist wunderschön!“, hauchte sie ehrfürchtig.

Es kostete Niks ganze Kraft, seinen Blick von ihrem entblößten Busen zu wenden. Dennoch zog er noch ein drittes Mal am Klingelstrang. Dabei kannte er längst die unerfreuliche Wahrheit. Sein unzuverlässiger Diener hatte ein weiteres Mal nicht auf seinem Zimmer geschlafen und war wieder nicht rechtzeitig zurückgekommen. Wenn das noch einmal vorkommt, dann schmeiße ich ihn hinaus!, schwor er sich im Stillen.

Da spürte er, wie ihn eine zarte Hand am Unterarm ergriff.

„Du hast mir so eine große Freude gemacht, mein Süßer, jetzt möchte ich dir auch eine Freude bereiten. Lass doch den dummen Diener und komm wieder ins Bett!“

Elli klopfte einladend auf die Matratze neben sich. Sie sah entzückend aus mit den roten Locken, die sich rund um ihr blasses Gesichtchen kringelten. Nik seufzte und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Stirn. „So leid es mir auch tut, ich kann nicht. Die Viscountess erwartet mich.“

„Die Viscountess? Welche Viscountess?“, fragte Elli höchst alarmiert, bevor es ihr einfiel: „Ach so, du sprichst von deiner Mutter. Ist sie noch immer in der Stadt?“

Nicolas seufzte und nickte.

„Springst du stets wie ein dressiertes Hündchen, wenn deine Mama pfeift?“

Was, bitte, hätte ein Gentleman, der etwas auf sich hielt, anderes tun können, als ihr das Gegenteil zu beweisen? Noch dazu, da sie ihn doch gar so kokett darum bat? Und wenn der Diener nicht bereitstand, um ihm beim Ankleiden zu helfen? Also schlüpfte Nicolas aus dem Seidenmantel und stürzte sich mit einem Satz über seine Geliebte, die begeistert aufjauchzte.

Nicolas Barnett war nicht der Einzige, der an diesem Morgen mit einem Brummschädel erwachte. Nein, auch sein Schwager und ehemaliger Vormund, der Earl of Derryhill, setzte sich mit tiefen Seufzern auf und wagte kaum die Augenlider zu öffnen. Im Gegensatz zu Nicolas, der, wie es seinem Naturell entsprach, trotzdem gut gelaunt war, war der Earl, wie es gar nicht seinem Naturell entsprach, mürrisch und gereizt. Sein Magen fühlte sich an, als hätte man ihn mit schweren Steinen gefüllt. Er konnte sich weder daran erinnern, schon jemals so viel gegessen zu haben, noch an die Einzelheiten der Gerichte, die man beim Krönungsbankett in der eichengetäfelten White Hall aufgefahren hatte. Er überlegte: Zuerst hatte es Schildkrötensuppe gegeben, das wusste er noch. Dann einige Fische, gefolgt von Wild-, Kalb- und Hammelfleisch. Ach ja, dann war da noch eine Pastete gewesen, bevor der Hummer kam. Und Gänse und das kalte Lamm. Hatte jemand etwas von über tausend Beilagen gesagt? Und von über fünfhundert Saucieren? Die Minzsauce war köstlich gewesen.

Obwohl Derryhill erst wenige Tage von seiner Gattin getrennt war, vermisste er sie zutiefst. Dennoch war er froh darüber, dass sie am Vortag nicht anwesend gewesen war. Während sich nämlich der König und die hochwohlgeborenen Herren den Bauch vollschlugen, saßen die Ehefrauen und Kinder auf Galerien, die man eigens für diesen Anlass gebaut hatte, und bekamen nichts. Was für eine Schande! Sein Sitznachbar hatte das nicht einfach so hingenommen, einen Kapaun in ein Taschentuch gewickelt und seiner hungrigen Familie zugeworfen. Bei dieser Erinnerung schlich sich ein kurzes Grinsen auf die Lippen des Earls, das er umgehend bereute, während er aufstöhnend wieder in die Kissen zurücksank. In diesem Augenblick hätte er sich nicht vorstellen können, dass seine Laune noch tiefer würde sinken können.

Zwei Stunden später war er jedoch so wütend, dass er einem bestimmten Gentleman am liebsten auf der Stelle den Hals umgedreht hätte. Dieser bestimmte Gentleman war sein Schwager Nicolas Barnett. Wieder einmal. Was hatte er mit diesem jungen Stutzer in der Vergangenheit nicht schon alles mitgemacht! Wie oft war er nach Cambridge gefahren, um den Rektor zu überzeugen, Niki nicht von der Universität auszuschließen, wenn dieser wieder einmal einen Hausmeister in der Keller gesperrt oder mit ebenso betrunkenen Freunden einen Nachtwächter belästigt hatte. Oder wenn man ihn in einem Pub aufgriff, eine Dirne auf dem Schoß. Wie viele Schuldscheine hatte er schon eingelöst. Wie oft hatte er es schon bereut, gemeinsam mit Landmark für Niks Aufnahme in den White’s Club gebürgt zu haben, wo dieser Unsummen verspielte, die er nicht hatte. Wie viele Standpauken hatte er ihm bereits gehalten und sich dann doch wieder von einem reumütigen Blick aus dem unwirklich schönen Gesicht erweichen und von frechen Bemerkungen zum Lachen bringen lassen. Doch damit war jetzt ein für alle Mal Schluss. Diesmal gab es nämlich gleich drei Gründe auf einmal, dem jungen Stutzer zu zürnen.

Den ersten lieferte ihm ein Schreiben seiner Schwiegermutter, das ihm Wheatly, der Kammerdiener, um kurz vor zehn Uhr ins Schlafgemach gebracht hatte.

Schwiegersohn!

Was genug ist, ist genug. Ich bin nicht länger gewillt, Nachsicht walten zu lassen.

Derryhill fiel die Kinnlade hinunter. Er ließ das Schreiben sinken. So hatte die Viscountess noch nie mit ihm gesprochen. Was um Himmels willen, dachte er, war ihr denn über die Leber gelaufen, dass sie Streit mit mir suchte? Er las weiter und stellte bei den nächsten Worten aufatmend fest, dass es gar nicht er war, der in die Schusslinie der Viscountess geraten war.

Nicht nur, dass mich mein werter Herr Sohn gestern versetzt hat und erst in der Abbey eintraf, als bereits die Fanfaren erklangen, wodurch ich genötigt war, am Arm von Badwell einzuziehen, nein, er erschien auch heute nicht zur morgendlichen Aussprache, zu der ich ihn einbefohlen hatte. Wir haben ihn viel zu sehr verwöhnt, Derryhill. Ich stehe nicht an, auch mir die Schuld dafür zu geben, dass mein Jüngster jedes Verantwortungs- und Pflichtgefühl vermissen lässt. Weise ihn in seine Schranken! Wir haben bereits des Öfteren alle Möglichkeiten besprochen, setze nun Du die Maßnahmen. Was immer Dir dafür als das Richtige erscheint, Du hast meine volle Rückendeckung. Louisa Barnett, Viscountess Panswick

P.S. Ich reise bereits heute nach Lancroft Abbey zurück.

Derryhill konnte es kaum glauben. Hatte der junge Stutzer den Verstand verloren? Hatte er eine Ahnung, wie viel Mühen es ihn gekostet hatte, dafür zu sorgen, dass er an Bertrams Stelle an der Seite der Viscountess an der Krönung teilnehmen konnte? Na, da wurde ihm sein Einsatz wieder einmal schlecht gedankt. Gebe Gott, dass der König nichts davon erfuhr! Was mochte wohl so wichtig gewesen sein und Nicolas aufgehalten haben, dass er nicht nur ein der Mutter gegebenes Versprechen brach, sondern auch erst im letzten Augenblick in der Kirche auftauchte?

„Ihr Early Morning Tea, Eure Lordschaft!“

Der Kammerdiener stellte das Holztablett auf die Decke, die über den Beinen seines Herrn lag. Die heiße Flüssigkeit dampfte verlockend in der blau-weißen Tasse von Wedgwood.

„Darf ich fragen, wie die Krönung verlaufen ist, Eure Lordschaft? Gestern vor dem Bankett wollte ich Sie mit meiner Neugier nicht belästigen. Ging alles reibungslos vonstatten?“

Derryhill erfreute ihn mit einer kurzen Schilderung, nippte an seinem Tee und spürte, wie sich seine Laune wieder besserte. Sicher hatte Nik einen triftigen Grund gehabt, und alles würde sich wieder einmal in Wonne und Wohlgefallen auflösen.

„Das klingt so beeindruckend, wie ich es erwartet habe“, hörte er den Kammerdiener sagen, der ihm eben eine Auswahl an Halstüchern reichte, aus denen er, wie jeden Morgen, eines auswählen sollte. „Ich hoffe, Mr Barnett hat es auch noch rechtzeitig in die Abbey geschafft …“

Derryhill, der auf eines der Tücher gezeigt und dann zur Tasse gegriffen hatte, stellte diese wieder ab und sah ihn mit großen Augen an. Sofort fühlte sich Wheatly verpflichtet, eine Erklärung hinzuzufügen: „Ich habe Ihren Schwager etwa um halb elf in der Curzon Street gesehen, Eure Lordschaft, er schien es sehr eilig zu haben. Was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass die Krönung …“

„In der Curzon Street, tatsächlich?“, vergewisserte sich Derryhill. „Sind Sie sich da ganz sicher, Wheatly? Das ist mehr als zwanzig Minuten von der Abbey entfernt.“

„Ich bin mir absolut sicher, Eure Lordschaft. Ich habe einen Ihrer Reitmäntel zum Schneider gebracht, da sah ich Mr Barnett aus der Half Moon Street kommen. Ich überlegte noch, ihm anzubieten …“

„Aus der Half Moon Street?” Nun brüllte Derryhill geradezu. „Hat der Kerl den Verstand verloren?“

Er hielt dem Diener auffordernd das Teetablett entgegen und war dann mit einem Satz aus dem Bett. „Sie kleiden mich jetzt bitte an, Wheatly, und dann holen Sie mir Barnett hierher. Tot oder lebendig!“, setzte er noch mit so grimmiger Miene hinzu, dass es der Kammerdiener nicht zu fragen wagte, was den Earl an der Erwähnung eines Straßennamens so sehr in Rage gebracht hatte.

Kurz darauf fand sich der Earl im Frühstückszimmer ein, setzte sich auf seinen Platz und griff, ohne nachzudenken, nach einer Schnitte Toastbrot, während der Hausdiener Tee einschenkte. Derryhill war es nicht gewöhnt, allein zu essen. Frederica machte nie von ihrem Recht als verheiratete Lady Gebrauch, die erste Mahlzeit des Tages im Bett einzunehmen, sondern leistete ihm stets Gesellschaft. Man plauderte, besprach die Pläne für den Tag, und manchmal lasen sie sich auch gegenseitig aus der Zeitung vor. Wieder einmal stellte er fest, wie sehr er seine Gattin vermisste. Sie war nun zum vierten Mal schwanger und ertrug ihren Zustand mit bemerkenswertem Frohsinn und Mut. Er liebte seine drei kleinen Töchter und würde auch eine vierte lieben, sollte ihnen der Herr nicht doch noch einen Sohn schenken. Dann würde er eben Marcus zu sich ins Haus holen, um ihn auf seine Rolle als sein Nachfolger vorzubereiten. Das hätte er wahrscheinlich schon längst tun sollen, allein, er wollte die Hoffnung auf einen Sohn nicht aufgeben.

Von seinem potenziellen Erben war der Gedanke zu dessen bestem Freund nicht weit, Nicolas Barnett. Derryhill knirschte mit den Zähnen. Das Ticken der Standuhr war mit einem Mal unerträglich langsam und unangenehm laut. Mit Schwung knallte er das Toastbrot auf den Teller. Er verspürte nicht den geringsten Hunger. Da durchbrach der Türklopfer seine einsame Stille.

Derryhill stutzte. War sein Schwager am Ende schon eingetroffen? Wie konnte das sein? Nein, es musste sich um einen anderen Besucher handeln. Seltsam, er erwartete niemanden. Zuerst hörte er, wie die Tür geöffnet wurde, dann Stimmen, die immer lauter wurden, und schließlich eilige Schritte, die sich dem Esszimmer näherten.

„Ich bitte um Verzeihung, Eure Lordschaft.“ Einer der Hausdiener stand in der offenen Tür. „Hier ist ein Mann, der sich nicht abschütteln lässt. Er meinte, es sei dringend und er würde seine Lordschaft nicht allzu lange in Beschlag nehmen.“

Ein Besucher, der sich nicht abschütteln ließ? So ein Besucher hatte dem Earl gerade noch zu seinem Glück gefehlt! Er wollte soeben nach dem Butler schicken, der ihm den Mann, ohne ihn zu belästigen, vom Leib gehalten hätte, als ein kleiner, untersetzter Herr mit Glatze den Diener energisch zur Seite schob.

„Jetzt mach doch die Dinge nicht komplizierter, als sie sind“, sagte er streng und eilte auf den Hausherrn zu, der ihn mit gesenkten Lidern dabei beobachtete. „Benghurst, Salomon Benghurst, zu Ihren Diensten, Eure Lordschaft!“ Er streckte die Hand zum Gruß vor, die vom Earl nicht ergriffen wurde. Also zog er sie zurück und fischte ein Blatt Papier aus seiner Rocktasche. „Ich will Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen, Euer Lordschaft. Wenn Sie so gütig wären, diesen Schuldschein zu begleichen, bin ich auch schon wieder draußen aus Ihrem Haus.“

„Ich habe keinen Schuldschein unterzeichnet. Führ den Mann hinaus!“, wandte sich der Earl an den Diener, der aus seiner Schockstarre erwachte, näherkam und den Besucher am Arm packen wollte. Doch dieser wich ihm geschickt aus: „Nicht Sie haben unterschrieben, Euer Lordschaft, sondern ein Verwandter von Ihnen.“ Er las die Unterschrift auf dem Schuldschein vor: „Ein Mr Nicolas Barnett.“

Der Earl gab dem Diener ein Zeichen, den Mann loszulassen, und streckte nun seinerseits die Hand vor. „Was hat er denn diesmal erworben?“ Das unwillige Schnaufen zeigte deutlich, dass seine Nerven bis zum Anschlag gespannt waren.

„Eine Flasche meines besten Weines“, beeilte sich der Besucher ihn mit stolzgeschwellter Brust zu informieren und überreichte ihm den Schuldschein.

Derryhill konnte seinen Augen nicht trauen: „Wie viel? Was wollen Sie dafür? Für eine Flasche? Um diesen Preis bekomme ich ein ganzes Fass geliefert!“

„Nicht von einem Wein dieser Güte, Eure Lordschaft. Er stammt aus Frankreich, einem Weingut nahe …“

„Der Butler soll den Mann auszahlen“, bestimmte Derryhill an den Diener gewandt. „Der Schuldschein bleibt bei mir. Den werde ich in Kürze brauchen.“

Ein Dandy in Nöten

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