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Kapitel 9

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Die Westminster Abbey war bis auf den letzten Platz gefüllt. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Niks Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, das im Inneren der Kirche herrschte. Dann nahm er auch das Gemurmel rings um sich wahr, sah, wie zahlreiche Köpfe zu ihm herumfuhren, wie sich Augenbrauen hoben und Lippen aneinanderpressten. Wenn Verachtung töten könnte, dachte er und senkte den Blick, dann läge ich jetzt, von Hunderten Augen getroffen, regungslos hier, er las die Inschrift zu seinen Füßen, auf der Grabplatte von Swithum, einem Dean der Abbey aus dem 17. Jahrhundert, der wohl auch Bischof von Rochester gewesen war. Am liebsten hätte er sich klein gemacht und wäre zu seinem Platz geschlichen. Schuldgefühle drohten wie eine dicke, graue Welle über ihm zusammenzuschlagen. Doch Nicolas Barnett war kein Mann, bei dem solche Gewissensbisse lange anhielten. Er war ja schließlich rechtzeitig in die Abbey gekommen, oder etwa nicht? Die Krönung hatte noch gar nicht begonnen, und niemand konnte ihm verdenken, dass er sich unnütze Wartezeit ersparen wollte. Dass er dies nur dem Umstand zu verdanken hatte, dass sich Seine Majestät ebenfalls verspätete, wollte er großzügig außer Acht lassen. Was hatte die Kleine im schwarzen Kleid vor sich hingemurmelt? Kopf hoch, Rücken gerade, blasiertes Grinsen aufsetzen? Nik lächelte und beschloss, genau das zu tun. Hoch erhobenen Hauptes blickte er sich also in aller Seelenruhe um und schüttelte die Spitzen an seinen Manschetten. Er grüßte nach links, nickte nach rechts und zwinkerte manchen Ladys so kokett zu, dass sie zurückzulächelten. Ich bin Nicolas Barnett, dachte er im Stillen, niemand kann mir lange böse sein.

Das galt für alle, bis auf eine. Nämlich die beeindruckende Gestalt in weinroter Seide, mit einem mit Pfauenfedern geschmückten Turban, die er soeben in einer Kirchenbank, kaum zehn Schritte entfernt, entdeckt hatte. Seine Mutter.

Aufgrund der zahlreichen Menschen und der unzähligen Kerzen war es in der Kirche stickig und nahezu unerträglich heiß, nur in der Sitzreihe, in der Nicolas nun Platz nahm, herrschte eisige Kälte. Als er sich an ihr vorüberschob, um neben seine Mutter zu gelangen, flüsterte ihm Vivian ein „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Bruder?“ zu, womit sie sein Lächeln noch nicht aus seinem Gesicht vertreiben konnte. Natürlich hatte er mit Schelte durch die Familie gerechnet und Vivian hielt mit ihrer Meinung nur selten hinter dem Berg. Dann sah er, dass Badwell eine Augenbraue hob und kaum merklich den Kopf schüttelte, und begann sich zu ärgern. Wie kam sein Schwager dazu, ihn zu kritisieren, wenn doch jeder wusste, dass er vor der Verlobung mit Nicolas’ Schwester selbst kein Kind von Traurigkeit gewesen war?

Das Gesicht der Mutter war regungslos, sie sagte keinen Ton. Das war gefährlicher als jede Standpauke. Nicolas setzte sich neben sie und wollte eben ein paar Worte der Entschuldigung flüstern, als Trompeten und Fanfaren erklangen und sich alle Anwesenden erhoben, um den neuen Herrscher des Königreichs willkommen zu heißen. Schweren Herzen musste er einsehen, dass er nun für längere Zeit keine Gelegenheit haben würde, seine Mutter wieder gewogen zu stimmen. Denn schon trat die lange Reihe der Staatsbeamten ein, die Krone, Kugel, Zepter und das Staatsschwert trugen. Ihnen folgte eine mindestens ebenso lange Reihe Bischöfe mit Kelchen und Bibeln. Dann endlich konnten sie einen Blick auf den zukünftigen König werfen. Er war eine außergewöhnlich korpulente Gestalt mit einem wohl von Hitze und Anstrengung gerötetem Gesicht. In prunkvoller Krönungskleidung nahm er auf dem Thron Platz und wandte damit dem Kirchenpublikum den Rücken zu. Auf dem Kopf trug Seine Majestät eine braune Perücke von enormen Ausmaßen, die von einem schwarzen spanischen Hut mit Straußenfedern gekrönt wurde.

Vornehme Zurückhaltung zählt wahrlich nicht zu seinen Stärken, dachte Nik, fasziniert und abgestoßen zugleich.

Jetzt nahmen die Mitglieder des höchsten Adels neben Georg IV. Aufstellung, deren Kronen im Glanz der vielen Kerzen funkelten. Es folgten die Ritter und die Träger des Hosenbandordens. Die Herren daneben in den schlichten blauen Gewändern glaubte Nik als die Geheimen Räte zu erkennen.

Wie gut, dass ich bereits in der Kirche war, als die Prozession hier eintraf, dachte er. Es wäre wirklich unverzeihlich gewesen, wäre er gleichzeitig mit ihr eingetroffen. Was für ein unglaublicher Zufall, dass die Königin gerade zum richtigen Zeitpunkt abermals auf der Bildfläche aufgetaucht war und dass Claire aus Dover dies auch noch bemerkt hatte. Manchmal war er wahrlich ein Glückspilz! Ihm allein wäre es wohl kaum gelungen, den Wachbeamten abzulenken. Er konzentrierte sich wieder auf den Einzug der Prozession und merkte, dass verdiente Offiziere links vom König Platz genommen hatten, ihnen folgten die Mitglieder des Hochadels. Nicolas entdeckte den Herzog von Landmark unter ihnen, wie immer mit undurchdringlicher Miene. Zu seinem Bedauern verdeckten die Männer, die vor ihm standen, den Blick auf seine kurzen Hosen und das Wams. Ah, und dann war da ja auch noch Derryhill in der letzten Reihe.

„Wahrlich ein beeindruckender Anblick!“, flüsterte die Lady in der Kirchenbank vor ihm ihrem Gatten zu.

„Im Club hörte ich, es wäre unserem neuen König ein großes Anliegen, die Krönung seines Erzfeindes Napoleon um ein Vielfaches zu überstrahlen“, flüsterte der Mann zurück.

„Nun“, antworte sie, „das ist ihm fürwahr gelungen!“

„Pscht!“, befahl die Viscountess Panswick.

Die Zeremonie begann … und schien dann kein Ende mehr zu finden. Ganze fünf Stunden waren der Erzbischof von Canterbury und zahlreiche andere Bischöfe damit beschäftigt, die Krone zuerst zu weihen und zu segnen, dann Gebete zu sprechen und noch mehr Gebete zu sprechen, bis endlich die Krone auf das perückenbedeckte Haupt des Monarchen gedrückt werden konnte. Nicolas’ Gedanken waren längst zur Abendgestaltung abgeglitten. So sehr er es bisweilen bedauerte, so froh war er heute darüber, dass er keinen Titel trug und daher am Bankett des Königs nicht teilnehmen durfte. Ob der alte Glostershire auch zur abendlichen Stunde noch bei Loulou zugegen sein würde oder ob er selbst sein Glück versuchen konnte? Anderenfalls war es wohl am besten, wieder ein paar ihrer jüngeren Kolleginnen nach der Theatervorstellung ins Black Swan einzuladen. Er würde sich mit Marcus darüber beraten, sobald das Spektakel hier vorüber war. Neben Nicolas wurde Lady Panswick zunehmend unruhig. Sie war das lange Sitzen nicht gewöhnt und rutschte hin und her, als säße sie auf glühenden Kohlen. Keine gute Ausgangslage für unser unvermeidbares Gespräch, dachte Nik beunruhigt. Das ältere Ehepaar vor ihnen war längst eingeschlafen und wurde nun unsanft geweckt, als die Gäste in den ersten Reihen damit begannen, „God save the King!“ zu rufen und alle Anwesenden darin einstimmten. Von draußen hörte man Trompetenklang, Trommeln schlugen und Gewehre wurden zu Ehren des Monarchen abgefeuert. Als Nicolas schon hoffte, dass dies das Ende der Feierlichkeit signalisierte, und sich gleichzeitig vor der berechtigten Schelte seiner Verwandten fürchtete, begann der Chor die erste einer langen Reihe von Hymnen anzustimmen.

Als die Zeremonie endlich vorüber war, zog der Monarch mit den geladenen Gästen zum Bankett nach Whitehall weiter. Die meisten der anderen Anwesenden begaben sich in den Hydepark, wo zu Ehren des neuen Königs ein Volksfest stattfand. Ein Ballon sollte in die Lüfte steigen und ein farbenprächtiges Feuerwerk den krönenden Abschluss eines pompösen Tages darstellen. Keine zehn Pferde hätten Lady Panswick zu einer derartigen Belustigung gebracht. Sie war rechtschaffen müde. Die vielfältigen Eindrücke hatten sie überfordert, die langatmigen Gesänge ihren Verstand benebelt. Außerdem musste sie so rasch wie möglich zu ihrem Toilettensitz.

„Mama, ich möchte mich entschuldigen“, hörte sie Nicolas sagen und wehrte jedes weitere Wort mit einer strikten Handbewegung ab. „Nicht jetzt!“ Und dann, an ihre Tochter gewandt: „Vivian, kutschiert mich nach Hause.“ Sie erhob sich mühsam und quälte sich in gebückter Haltung aus der Kirchenbank. „Ich bin erschöpft, ich brauche dringend Ruhe.“

„Darf ich dich auf den Vorplatz hinausgeleiten, Mama?“, hörte sie Nicolas fragen, schnaufte unwillig und ergriff dennoch den dargebotenen Arm. Gemeinsam verließen sie nach dem Ehepaar Badwell die Abbey und traten hinaus in den Schein der untergehenden Sonne und in den Trubel der sich langsam auflösenden Menschenmenge.

„Nun denn“, der Viscount Badwell klang alles andere als gut gelaunt, „dann werde ich mich in diesem Wirrwarr auf die Suche nach unserer Kutsche machen. Bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle!“

Die Viscountess Panswick wollte eben zu protestieren beginnen, nicht weil Badwell nicht recht gehabt hätte, sondern einfach deshalb, weil sie sich nichts befehlen lassen wollte. Doch ihr Schwiegersohn war bereits in der Menge verschwunden. Außerdem traten einige Bekannte auf ihre kleine Gruppe zu, und so verbrachten sie die nächsten Minuten mit angeregter, aber für sie doch recht mühsamer Konversation. Das Verhalten des Königspaares war natürlich das alles überschattende Gesprächsthema. Die einen hielten es für unangebracht, dass sich eine Frau in den Vordergrund drängte, die schon lange vom Monarchen getrennt lebte.

„Sie wohnt doch ohnehin die meiste Zeit im Ausland, warum konnte sie nicht einfach dortbleiben?“, echauffierte sich eine der Ladys, worauf ein Herr ihr unumwunden recht gab. „Eben. Außer der Geburt unserer armen Kronprinzessin hat sie noch nichts für das Königreich geleistet, und die ist jetzt tot.“

Andere wiederum fanden, dass Caroline selbstverständlich als Königin anzuerkennen sei, da doch die Ehe weiterhin gültig war. „Sie hätte heute an die Seite ihres Gemahls gehört!“, meinte eine Dame.

„Richtig, meine Teure“, bestätigte ihr Gatte und lachte aus dem Bauch heraus. „Eine größere Strafe hätte er ihr nicht bereiten können, langatmig, wie das Ganze war.“

Nicolas, der dieser Diskussion mit aufmerksamem Lächeln, aber nur mit halbem Herzen zugehört hatte, atmete auf, als endlich die Kutsche seines Schwagers vorfuhr. Wann würde ihn wohl die mütterliche Standpauke ereilen? Sollte er mit in die Kutsche steigen, damit er sie möglichst schnell hinter sich bringen konnte? Aber vor den Ohren der Badwells? Nein, dazu hatte er nicht die geringste Lust. Also half er seiner Mutter ins Innere und trat dann sogleich einige Schritte zurück.

„Ich wünsche dir einen angenehmen Abend, Mama“, sagte er, als er sich zum Abschied verbeugte. „Nun werde ich mich zurückziehen, wenn du gestattest.“

Die Viscountess war erschöpft in die weichen Kissen gesunken. Bei diesen Worten richtete sie sich ruckartig wieder auf und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

„Dir gestatte ich gar nichts mehr, mein Sohn“, sagte sie streng. „Glaube ja nicht, dass du ungeschoren davonkommst. Dein Verhalten heute spottete jeder Beschreibung. Suche mich morgen um neun Uhr in Badwells Haus auf, dann werde ich entscheiden, was mit dir in Zukunft geschehen soll. Wehe, du kommst auch nur eine Minute zu spät.“

„Neun Uhr?“ Nicolas versuchte ein fröhliches Lächeln. „Einigen wir uns auf elf, Mama. Du wirst mich doch nicht zu so unchristlicher Zeit aus den Federn werfen wollen.“

Seine Mutter würdigte ihn keines Blickes mehr, vergewisserte sich, dass Tochter und Schwiegersohn ebenfalls Platz genommen hatten, und klopfte dann mit der Faust gegen die Kutschenwand. „Abfahrt!“

Nik hatte gerade noch Zeit, den Schlag zu schließen, bevor sich der Wagen in Bewegung setzte.

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