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Kapitel 12

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Dover, KentJuli 1821

Es kostete Claire all ihre Kraft, die Tante vom Rollstuhl auf das Sofa zu befördern. Sie war zwar längst darin geübt, Prudence konnte auch kurz auf eigenen Beinen stehen und sogar ein paar kleine Schritte gehen, wenn man sie stützte, und doch hatte Claire jedes Mal wieder das Gefühl, sie würde unter der Last zusammenbrechen. Warum nur durften ihr die Hausmädchen nicht helfen? Warum konnte kein kräftiger Mann als Diener beschäftigt werden? Tante Prue hatte dieses Ansinnen bereits mehrmals zurückgewiesen. Kein fremdes Wesen habe das Recht, sie zu betatschen, hatte sie sich empört und sofort ein paar Vaterunser gesprochen.

„Nun bring mir Tee!“, forderte sie diesmal.

Ihre Nichte sah zum Schreibtisch hinüber, dann zur großen Wanduhr, die zwischen den beiden Fenstern hing, und seufzte. Wenn sie sich keinem Donnerwetter aussetzen wollte, musste sie in Kürze mit der Abrechnung fertig sein. Sie fühlte sich von der Wut und Enttäuschung des Vaters auf einer Seite und den unnachgiebigen Forderungen der Tante auf der anderen Seite schier erdrückt. Warum brachte Prue sie immer wieder in diese Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab? Da schoben sich zwei blaue Augen in ihre Erinnerung. Dazu ein freches Lächeln auf dem wohlgeschwungenen Mund. „Kopf hoch, Rücken gerade, Claire aus Dover“, murmelte sie, um sich Mut zu machen. Sie richtete sich auf: „Das wird Betty erledigen“, sagte sie und klang auch diesmal selbstbewusster, als sie sich fühlte. „Ich muss zu …“

Die Ältere hatte die Augen geschlossen und begonnen, eine Reihe von weinerlichen Klagelauten von sich zu geben, doch nun war sie mit einem Schlag wieder hellwach: „Du wagst es doch nicht etwa, mir zu widersprechen?“ Sie richtete sich auf und starrte ihre Nichte mit derart großen Augen an, dass diese aus den Höhlen zu fallen drohten. „Was ist denn bloß mit dir los?“

Claire blickte betreten zu Boden. Sie konnte sich aufrichten, soviel sie wollte, und ihren Kopf noch so hoch tragen, ihrer Tante würde das immer völlig egal sein. Für sie war sie eine unbezahlte Dienstbotin. Der junge Mann in London hatte leicht reden gehabt. Aber sie wusste es besser: Man soll sich nicht als etwas anderes geben, als man war. Nicht einmal in Gedanken.

„Seit wir aus London zurück sind, bist du kaum mehr wiederzuerkennen“, fuhr die Tante fort. „Ich muss sagen, das gefällt mir ganz und gar nicht. Nun bring den Tee.“

Mit diesen Worten lehnte sie sich wieder aufseufzend auf dem Sofa zurück. Für kurz öffnete sie noch einmal die Augen. „Kuchen wäre fein. Wenn keiner mehr da ist, dann backe einen. Aber rasch, rasch, ich habe Hunger.“

Claire hielt es für besser, die Tante nicht noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich die Abrechnung fertigbringen sollte, bevor ihr Vater und Jason Croydon von der Mole zurück waren. Papa war stets ungehalten, wenn etwas nicht erledigt war, das er ihr aufgetragen hatte. Und vor Mr Croydon wollte sie sich schon gar keine Blöße geben. Schließlich würde er in Kürze ihr Gatte und in fernerer Zukunft der Herr des gesamten Handelsunternehmens sein. Nein, sie hatte so gar keine Zeit für Haushaltspflichten. Dennoch, was blieb ihr anderes übrig, als in die Küche zu eilen, wenn sie ihre Tante nicht noch ungehaltener machen wollte? Wenn nur die Köchin endlich wieder gesund werden würde! Claire schürzte die Röcke, hopste die Treppen hinunter, was die Tante zur nächsten Rüge veranlasst hätte, wenn sie es denn gesehen hätte. Nachdem sie Ruby, das Hausmädchen, gebeten hatte, den Kessel aufzusetzen, eilte sie bei der Küchentür hinaus, hinüber zu Mrs Tilney, ihrer stets hilfreichen Nachbarin, und bat sie um eine Handvoll Ingwerküchlein. Zurück in der Küche goss sie den Tee auf, ließ ihn drei Minuten ziehen, während sie ungeduldig mit den Zehen auf und ab wippte, und schickte dann das Hausmädchen mit einer Kanne und Küchlein hinauf zur kranken Köchin, während sie selbst die Tante bediente.

Mühsam richtete sich die ältere Frau auf, verlangte nach mehr Kissen, um ihren Rücken abzustützen, und griff dann huldvoll zur Tasse. „Heiß!“, sagte sie vorwurfsvoll, als sie kurz daran genippt hatte. „Außerdem sollte er viel kräftiger sein.“

„Tut mir leid“, sagte Claire, weil sie wusste, dass das von ihr erwartet wurde, und nicht, weil sie wirklich so empfand. Für die Tante gab es nur zwei Möglichkeiten. Der Tee war entweder zu stark oder zu schwach. Nie konnte sie etwas richtig machen. Claire wusste längst, dass der kleinste Widerspruch Miss Prudence dazu veranlasst hätte, sie abermals ins Untergeschoss zu schicken, um neuen Tee zuzubereiten. Sie schob den Beistelltisch in Reichweite und ging dann zu ihrem Schreibtisch hinüber, der neben Tantes Sofa unter dem Fenster stand. Mit gewohntem Griff öffnete sie die Schublade, holte das schwere Rechnungsbuch heraus und machte sich an die Arbeit. In der nächsten Stunde hörte man nichts als das Ticken der Wanduhr und die knirschenden Kaugeräusche der Tante, die schließlich von gemurmelten Gebeten abgelöst wurden. Claire war so in die Arbeit vertieft, dass sie die Männer nicht hatte kommen hören, und erschrak, als der Vater die Tür zum Kontor aufstieß und nach einem strengen Blick in ihre Richtung ein „Bist du immer noch nicht fertig?“ ausrief.

„Die Tante brauchte meine Hilfe“, erklärte sie und sprang von ihrem Stuhl auf.

Ihr Vater war zwar ein gestrenger Mann, doch er war auch ein gerechter Vater. Sie wusste, dass er sie nicht für etwas schelten würde, für das sie nichts konnte. So war es auch diesmal. Mr Sanders Ungehaltenheit konzentrierte sich nun auf seine Schwester: „Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ruf nach einem der Hausmädchen, wenn du etwas brauchst, Prudence, und halte Claire nicht von der Arbeit ab.“

„Arbeit!“, wiederholte Miss Sanders wie jedes Mal spöttisch und hob theatralisch beide Arme. „Die Bestimmung einer Frau ist es, den Haushalt zu führen, nicht in einem Kontor einem Mann die Arbeit wegzunehmen. Setz die beiden Hausmädchen auf die Straße, Bruder, und spar dir das Geld für einen richtigen Buchhalter. Du hast eine Tochter, die für diese Aufgaben im Haus zuständig ist.“

Claire schnappte nach Luft. Es war wahrlich nicht das erste Mal, dass Tante Prue diese Einstellung dem Vater vortrug, und bisher hatte er ihr keine Beachtung geschenkt. Aber hieß es nicht immer, steter Tropfen höhle den Stein? Was, wenn Papa ihr heute zustimmen würde? Sie beschäftigte sich viel lieber mit Zahlen als mit Putzlappen und Scheuerbürste.

„Wahre Worte!“, meldete sich da eine tiefe Stimme von der Tür her, und Claire bekam umgehend eine Gänsehaut, für die sie sich selbst streng zur Ordnung rief. Jason Croydon war in der Vergangenheit noch nie unfreundlich zu ihr gewesen, also bestand auch kein Grund dafür, dass ihr bereits seine Stimme Unbehagen bereitete. Vater wünschte sich, dass sie ihn heiratete, und das würde sie selbstverständlich tun. Er war ein tüchtiger, verlässlicher Mann, der das Handelsunternehmen mit starker Hand leiten würde, wenn ihr Vater nicht mehr lebte. Was, wenn man dem Arzt glauben konnte, nicht mehr allzu lange auf sich warten ließ. Auch wenn man es ihm nur ganz selten anmerkte, so war Papas Herz schwach und konnte nur durch regelmäßigen Aderlass am Laufen gehalten werden. Claire sah zu ihrem Vater hinüber und seufzte. Ach, Papa, dachte sie, bitte, bitte lebe noch lange! Ich werde weiterhin alles tun, um jede Aufregung von dir fern zu halten.

„Natürlich ist es die Aufgabe des Weibes, dem Mann zu dienen und alle Arbeiten im Haus zu verrichten“, hörte sie Croydon sagen, der sich vor ihrer Tante verbeugte. „Sie haben wie immer recht, Miss Sanders. Wie geht es Ihnen denn heute?“

Die ältliche Jungfer kicherte wie ein junges Mädchen. Oh ja, Mr Croydon wusste, wie man sich bei ihr einschmeichelte. Claire hatte den nächsten Grund zu seufzen. Sie hatte bereits geahnt, dass Croydon in vielem ähnlich dachte wie ihre Tante, doch noch nie hatte er es so deutlich ausgesprochen. Nun, dann wusste sie, was in Zukunft von ihr erwartet wurde. Sie würde ihre ohnehin schon innigen Abendgebete verstärken und um ein langes Leben ihres Vaters flehen.

„Das weibliche Gehirn ist nicht dafür ausgerichtet, Rechenaufgaben zu lösen“, sprach ihr Zukünftiger weiter und wurde auch darin von ihrer Tante unterstützt. Sie klopfte neben sich aufs Sofa und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Dieser bemerkte jedoch, dass sein Dienstherr noch immer stand, und hatte den Anstand, ebenfalls stehen zu bleiben.

Claire beschloss, allen Mut zusammenzunehmen: „Das ist nicht nett von Ihnen, Mr Croydon“, sagte sie und merkte selbst, wie zaghaft sie klang. „Haben Sie je einen Fehler in meinen Abrechnungen entdeckt?“

Nein, natürlich hatte er das nicht. Rechnen gehörte nämlich nicht zu seinen Stärken, wie sie sehr wohl wusste. Er wäre gar nicht in der Lage gewesen, ihre Arbeit zu kontrollieren. Anscheinend war es Jason Croydon, der von ihnen beiden das weiblichere Gehirn hatte. Diesen Gedanken fand sie so witzig, dass sie beinahe zu kichern begonnen hätte, als ein fester Griff am Arm ihr jeden Grund dazu nahm.

„Damit eines gleich von vorneherein klar ist, Miss. Ich dulde keinen Widerspruch. Von keinem Seemann und schon gar nicht von einem Weib!“

Er packte noch fester zu, bis sie aufschrie, und stieß sie dann von sich, sodass sie beinahe über ihren Stuhl gefallen wäre. Mit einem Satz war Mr Sanders bei ihm und packte ihn am Kragen. „Machen Sie das nie wieder, Croydon, oder ich verjage Sie von meinem Grund und Boden. Was Sie mit den Matrosen und Hafenarbeitern machen, ist Ihre Sache. Aber meine Tochter wird nicht mit körperlicher Gewalt behandelt. Nicht in meinem Haus und nicht, solange ich lebe.“

Sein Gesicht war rot angelaufen und er zog sich mit einem Ruck das Halstuch von der Kehle, als würde es ihn daran hindern, Luft zu bekommen. Dann ließ er sich in den Lehnsessel hinter seinem eigenen wuchtigen Schreibtisch fallen und atmete schwer. Prudence warf ihren Blick zum Himmel und begann ein Gebet, das sie laut flüsterte, damit ja niemand Gefahr lief, es nicht zu hören.

Claire war mit einem Satz bei der Tür und rief nach den Mädchen. Als Betty herbeigelaufen war, bat sie um ein Glas Wasser. Dann sank sie neben dem Stuhl ihres Vaters zu Boden und streichelte ihm beruhigend die Hand. Es muss ihm schon sehr schlecht gehen, wenn er zulässt, dass ich ihn berühre, dachte sie voller Sorge.

In der Zwischenzeit überschlug sich Mr Croydon vor offensichtlich ernst gemeinter Reue. „Es tut mir von Herzen leid, Sir. Die Pferde sind wohl mit mir durchgegangen. Ich wollte Sie auf keinen Fall derart aufregen. Glauben Sie mir, ich werde in diesem Haus keiner Frau Leid zufügen, solange Sie leben, so wahr ich hier stehe!“

Bei Claire entschuldigte er sich nicht. Aber das fiel niemandem auf. Außer Claire selbst. Der allerdings fielen auch die Worte „solange Sie leben“ auf, und das ungute Gefühl in ihrem Herzen verstärkte sich.

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