Читать книгу Begnadet - Buch 1-2 - Sophie Lang - Страница 16
Aeia - Vegimenü
ОглавлениеDie Mensa ist nicht wirklich ein Raum. Sie ist auch kein Saal. Sie ist wie das Innere einer riesigen Kathedrale. So hoch, so lang, so mystisch und heilig. Ich stehe da und bringe den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Hunderte Menschen füllen den Raum mit ihren Gesprächen, den Geräuschen, wenn sie Stühle bewegen, wenn sie mit ihrem Geschirr klappern, sich unterhalten und lachen. Aber es hört sich nicht so an wie an der Uni oder in einer Kantine. Es hört sich an wie in einem Kloster, wie bei einer Zeremonie. Es ist wie der Klang einer inszenierten Musik, die in meinen Ohren widerhallt.
Kyala führt mich zum Buffet.
»Wir sind zu spät dran. Es ist schon ziemlich voll«, stellt sie fest. Ich bin noch immer nicht imstande zu sprechen, lausche nur und sehe mich unentwegt um. Nie zuvor habe ich mich mit so vielen Menschen im gleichen Raum wohl gefühlt. Hier ist das anders.
»Isst du Fleisch?«
Ich drehe mich zu Kyala um. »Wie bitte?«
»Ob du Vegetarierin bist, habe ich gefragt.«
»Ja, sieht man mir das etwa an?«
»Nein, natürlich nicht. Es geht nur ums Anstellen. Für das Essen«, ergänzt sie dann, weil ich ihre Frage nicht so schnell verstehe, wie sie es von mir erwartet.
Ich schleiche Kyala hinterher, bis wir die kurze Schlange der Vegetarier erreichen.
»Drüben bei den Raubtieren muss man viel länger anstehen«, meint Kyala trocken. Ich traue mich nicht zu fragen, ob das der eigentliche Grund dafür ist, dass sie sich zur Minderheit der Vegetarier zählt. Und warum sie die Fleischesser Raubtiere nennt.
Kennst du Dr. Luise Kleist, will ich Kyala fragen, weil ich meine Verabredung mit der hübschen Blondine nicht vergessen habe und mich außerdem interessiert, ob Lu einen der Wahlkurse für Catwalk besucht hat. Aber in diesem Moment klopft mir jemand sachte auf die Schulter.
Es ist Lu.
»Lu?«, begrüße ich sie überrascht. »Du hast mich gefunden. Ich habe gerade an dich gedacht.«
»An mich gedacht? Ehrlich? Du bist ja süß«, sagt sie und lächelt schief. »Ich sitze dort drüben. Wir haben noch Platz. Wenn du magst, dann komm einfach zu uns rüber.«
»Klar will ich«, sage ich prompt und dann huscht mein Blick zu Kyala, die so tut, als ob sie von Allem nichts mitbekommt. Oder die vielleicht tatsächlich nichts mitbekommt?
»Habt ihr auch noch Platz für meine Kollegin?« Lu sieht Kyala an. In ihren Augen sehe ich etwas aufblitzen. Kyala zählt offensichtlich nicht zu den Personen, mit denen sie für gewöhnlich verkehrt.
Aber so wie ich Lu einschätze, ist sie eine tolerante Person. Wenn nicht, dann würde ich bei Kyala bleiben.
»Wir haben auch noch einen Platz für deine Kollegin«, sagt Lu gefährlich langsam, vermutlich in der Hoffnung, dass ich nicht noch mehr von Kyalas Gattung im Schlepptau habe.
»Prima.« Lu atmet durch, lächelt umwerfend charmant und zwinkert mir mit einem Auge zu, bevor sie wie ein Topmodel mit ihren Hüften wippt und zum Tisch zurückschwebt. Ich folge ihr mit meinen Augen und - oh Schreck - dort sitzt auch Alexander, der hübsche Typ von heute Morgen. Und noch ein anderer junger Mann. Nordischer Typ mit blondem Haar, groß und schlank mit einem schwarzen Hard Rock Cafe Helsinki Shirt an, der auch nicht lumpig aussieht. Ich wende mich wieder Kyala zu, die dasteht und nichts tut.
»Ist das in Ordnung für dich?«, murmle ich vorsichtig, in der sicheren Annahme, dass sie nichts von der Unterhaltung mit Lu verpasst hat. Kyala ist vielleicht nicht besonders gesprächig, aber sie ist bestimmt nicht taub.
»In ihn bin ich schon seit seinem ersten Tag im Institut verknallt.«
»Wie bitte?« Also direkt ist Kyala schon. Aber wen meint sie nur? Vielleicht den muskulösen jungen Mann hinter dem Tresen. Oder? Könnte sie eventuell? Meint sie eventuell Alexander? Oder den Schweden?
»In wen?«, erkundige ich mich ganz vorsichtig, während mir der hübsche Mann hinter der Essensausgabe einen Blumenkohlbratling auf den Teller bugsiert und mich angrinst (nicht gerade gierig, aber mit einer gewissen Hungrigkeit in seinem Blick).
Himmel, der findet mich zweifellos attraktiv. Aber die Essensausgabe ist bestimmt kein geeigneter Ort für einen Flirt. Und ich bin garantiert niemand, mit dem man einfach so drauflos flirten kann. Was ist hier eigentlich los? Ich fühle mich, als wäre ich in die Haut eines anderen Menschen geschlüpft. So viele Leute, die mich nett finden und mit Meusburger ein weiterer Vertreter des männlichen Geschlechts, der mich attraktiv findet. Das wird mir langsam unheimlich.
»Alex«, sagt Kyala. Ich benötige nur eine Millisekunde, um zu verstehen. Sie ist in Alexander verliebt. Nun, wer konnte ihr das verdenken.
»Noch einen Blumenkohl?«, schmachtet mich der Mann hinter dem Tresen an.
»Nein!«, zische ich rüde. Bemerke dann meinen Fehler und lächle gekünstelt, schnappe mir Kyala und gemeinsam gehen wir zu Lus Tisch.
»Und wie findest du Meusburger?«, fragt mich Lu, die mir Auge in Auge gegenüber sitzt. (Ich erwähne das, weil es bei Kyala und Alex ebenfalls so ist). Ich habe ihr den Platz gelassen und fühle mich verpflichtet, ihr dabei zu helfen, sich an ihn heranzumachen. Oh je, hoffentlich wird das nicht kompliziert.
Der Schwede sitzt zu meiner Rechten am Kopfende und stopft sich ein Stück blutiges, saftiges Steak in den Mund.
»Meusburger? Ähm, nun wie soll ich es sagen, er erinnert mich an-«
»Halt, sagen Sie nichts. Er erinnert Sie an einen verrückten Professor. So wie Dr. Emmett Brown aus Zurück in die Zukunft«, unterbricht mich Alexander.
Sie? Er hat mich mit Sie angesprochen.
Oh Gott, ich habe unser Zusammentreffen vor Gate 13 schon unbewusst aus meinem Gehirn verbannt.
»Sie?«, fragt Lu zwischen zwei Bissen und ihre Mundwinkel kräuseln sich amüsiert, wie ein kleines Schneckenhaus. Ich stecke mir ein Stück Blumenkohlbratling in den Mund, um nicht sprechen zu müssen und denke nach.
Was wäre, wenn er mein verlockendes Angebot, mich künftig Aeia zu nennen, ablehnen würde. Wahrscheinlich würde ich einfach die gekränkte Leberwurst spielen.
Es gibt nichts mehr zu kauen, weil ich meinen Blumenkohl hinuntergeschluckt habe.
»Ich bin Aeia. Mein Name ist Aeia.«
Ich spreche sehr leise. Kaum wahrnehmbar. Alex versteht mich trotzdem. Er sieht mich an, so als würde er wie durch ein kleines Fenster in mein Inneres schauen. Mit einem Mal flackern seine Augen und aus dem dunklen intensiven Blick wird ein helles wohlwollendes Betrachten.
»Alex«, räuspert er sich und reicht mir schließlich seine Hand über den Tisch. Ich atme aus, spüre seine Hand, wie sie meine umfasst.
Ein eiskalter Schauer erfasst meinen Körper, läuft über meinen Rücken meine Wirbelsäule hinab. Ich krümme meine Brust, sacke überwältigt vorne über, keuche, habe das Gefühl, als würde mir jemand von hinten langsam ein Messer zwischen die Rippen schieben. Ich sehe Frauen: tote Frauen, aufgehängt an Fleischerhaken wie Tiere nach der Schlachtung. Mir wird schlecht.
»Alexander!«, sagt jemand, aber ich höre die Stimme kaum. Der Schwede sieht mich entsetzt an. »Alexander, kommen Sie nach dem Essen unverzüglich in mein Gate«, sagt sie. Es ist eine Frau mit feuerrotem Haar, die direkt hinter mir steht.
Mein Gehirn ist damit beschäftigt, zu verstehen, was gerade mit mir passiert. Ich höre ihre nächsten Worte, leise verhallen, als würde sie aus weiter Ferne sprechen oder aus einem Kanalisationstunnel.
»Was hast du?«, fragt mich der Schwede. Ich habe keine Erklärung, fühle mich immer noch wie abgestochen und die Bilder gehen nicht aus meinem Kopf. Es sind nur eine oder zwei Sekunden vergangen, dann schnappt sich Kyala die Hand von Alex.
Alex lässt mich los, nickt der Rothaarigen hinter mir zu.
Da erkenne ich, wer die Frau ist, die hinter mir steht. Sie ist es, die Alex aus ihrem Gate geschmissen hat und ihm gedroht hat, seine Kehle aufzuschlitzen.
Kyala beginnt Alex Hand zu bearbeiten, sich ihm auf außergewöhnliche Weise vorzustellen und mir geht es schlagartig wieder besser. Die rothaarige Frau hat unseren Tisch wieder verlassen, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Als ich mich wieder gerade hinsetze, bemerke ich, dass der Schwede meine Hand hält. Hat er etwa mitbekommen, was mit mir los war und allen anderen am Tisch ist nichts aufgefallen? Wie seltsam.
Lu sieht Kyala und Alex zu. Und als ich Kyala beobachte, wie sie Alex Hand knetet, kann ich schon wieder etwas lächeln. Wie hübsch Kyala ist. Ein bisschen anders gekleidet, die Haare schön gemacht und die Männer würden ihr aus der Hand fressen.
Ich fühle mich gut und befreit. Keine Spur mehr von Eis auf dem Rücken oder kaltem Stahl zwischen meinen Rippen.
Der Schwede hält noch immer meine Hand fest. Seine ist weich und warm. Ich starre ihn wie ein erschrockenes Reh an. Mit einer langsamen, fließenden Bewegung lässt er mich los. Es fühlt sich an, als würde ich etwas verlieren. Ich habe Angst, dass die Schreckensbilder zurückkehren, aber das passiert nicht.
Unbeholfen rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und dann stellt er sich endlich vor. Jarno ist sein Name.
»Du bist Schwede oder?«, überlege ich wieder einmal viel zu laut.
»Wie kommst du darauf?«, fragt er.
»Dein Akzent.«
Er spielt mit seinen Lippen.
»Dein Aussehen.«
Nun nage ich an meiner Unterlippe.
»Dein Shirt. Hard Rock Cafe Helsinki«, sage ich schließlich einsilbig und zeige mit meinem Zeigefinger auf seine Brust. Eine Geste, die in Schweden vielleicht wie in Asien als Beleidigung aufgefasst werden könnte.
»Liebe Aeia, Helsinki ist die Hauptstadt von Finnland«, seufzt er.
Ich könnte im Boden versinken. Fühle, wie meine Wangen Feuer fangen.
»Und ich bin Lu«, sagt Lu plötzlich, die von Jarnos und meiner peinlichen Unterhaltung anscheinend nichts mitbekommen hat. Lu versucht Kyalas Hand zu erwischen, die ihr jedoch zweimal geschickt ausweicht und dabei ständig Alex Hand fest umklammert. »Seid ihr jetzt endlich fertig mit dem Vorspiel?«, fragt sie die beiden ein bisschen ungehalten.
»Also ich find´s urwüchsig«, gluckst Alex. Jarno lacht auf und irgendwann schaffen es Lu und Kyala dann doch noch, sich die Hände zu geben und die Duzfreundschaft ist unter uns allen besiegelt.
»Meusburger also, der ist echt ein schräger Vogel, aber er hat definitiv das größte Gehirn im Institut, wenn du mich fragst«, erzählt Alex. Kyala klebt an seinen Lippen und ich bin mir sicher, sie hört kein Wort von dem, was er sagt, sondern ist tief in einem nicht ganz jugendfreien Tagtraum versunken.
»Aber er hält es nicht lange mit seinen Mitarbeitern aus. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, keiner kann sich da lange durchbeißen. Kyala und Vigor scheinen die einzigen Ausnahmen zu sein. Besser du schaust dich schon bald nach einem anderen Mentor um, bevor sie deine Erinnerungen wegschmelzen. Wäre echt schade, wenn du dich nicht mehr an mich erinnern würdest, jetzt wo wir uns gerade besser kennenlernen«, meint Alex.
»Ich bin Finne«, sagt Jarno plötzlich und völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Ich sehe ihn für eine kleine Ewigkeit wie gelähmt an. Versuche, nicht wieder peinlich berührt zu sein und greife nach Alex Thema wie ein Schiffbrüchiger nach einem Rettungsring.
»Ich habe Meusburger zum Lachen gebracht«, sage ich hoffnungsvoll.
»Meusburger kann lachen?«, meint Lu, die gerade von ihrem Putenschnitzel ein Stück abschneidet.
»Er sagte, ich sei zu hübsch, und ich erwiderte, dass man das von ihm nicht gerade behaupten könne.«
»Das nenne ich mal kühn«, schmeichelt Jarno. Er macht mich nervös und ich weiß nicht wieso.
Und Alex und Lu müssen losprusten und plötzlich sind wir alle angesteckt und der ganze Tisch macht Geräusche wie ein Haufen Tiere. Auch Kyala, die so laut grunzt, dass sich die Leute noch fünf Tische weiter indigniert zu uns umdrehen.
»Lu hat gesagt, du wohnst in Freiburg«, meint Alex später, als wir uns wieder beruhigt haben.
Ich blicke ihn über den Tisch an und gewöhne mich langsam daran, mich nicht nur in der Gesellschaft von Bäumen, sondern auch bei Menschen wohl zu fühlen.
»Das ist richtig. Ich wohne dort mit meinem Freund. Levi und ich sind vor einem Jahr zusammengezogen.«
»Und wo lebte das verschreckte, ängstliche, kleine Mädchen davor?«, fragt Jarno. Er scheint mich zu röntgen.
»In einem Mädchenheim«, sage ich ehrlich und spüre an der Wärme meiner Wangen, dass mir diese Tatsache schon wieder peinlich ist.
»Ich dachte, du wärst adoptiert worden«, meint Lu.
»Ja, aber als meine Adoptivmutter mich verlassen hat, habe ich es dort nicht mehr lange ausgehalten und bin abgehauen.« Ich bemerke, wie ich meinen inneren Schutzwall hochfahre. Das Gespräch wird mir unangenehm.
»Interessant«, sagt Kyala.
»Kennst du deine leiblichen Eltern?«, fragt Lu und unvermittelt verändert sich die Atmosphäre. Alle sind angespannt, so als würden sie alle auf der Lauer liegen.
»Meine Mutter stammt aus Guatemala. Sie ist ein Nachfahre der Mayas. Über meinen leiblichen Vater weiß ich gar nichts. Er muss wohl Europäer gewesen sein oder immer noch sein«, ergänze ich hastig.
»Denke ich auch«, meint Jarno mit seltsamer Stimme.
»Warum?«, fragt Kyala, die langsam auftaut, denn sie hat schon ganze drei Worte gesagt.
»Du siehst aus wie ein Hybrid.«
»Jarno!«, ermahnt Lu erbost den jungen Mann neben ihr.
»Eine Kreuzung verschiedener Rassen. Halb lateinamerikanisches, halb italienisches Blut. Fehlt nur noch das Hard Rock Cafe Shirt aus Madrid.«
Ich funkle ihn an.
»Madrid liegt in Spanien und nicht in Italien.«
»Touché.«
Jarnos Augen lächeln.
Meine auch.
»Hast du denn nie versucht, sie zu treffen?«, fragt Lu.
»Anne, meine Adoptivmutter hat gesagt, dass mich meine leibliche Mutter aus Armut weggegeben hat. Sie haben eine Patenschaft in Lateinamerika übernommen und mich ausgesucht. Als ich mit zwei Jahren zur Adoption freigegeben wurde, haben sie keine Sekunde gezögert und mich zu sich nach Deutschland geholt. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob sich meine Mutter freuen würde mich wiederzusehen. Ich glaube, sie würde sich schämen. Das will ich ihr nicht zumuten.«
»Du hast auch einen Bruder erwähnt«, bohrt Lu weiter.
Habe ich das, überlege ich leise.
»Ja, aber darüber will ich nicht sprechen. Was ist mit euch? Wie lange arbeitet ihr schon hier?«, lenke ich von mir ab.
»Ich habe in München Informatik studiert, habe danach am Fraunhofer Institut über KI promoviert und bin dann eher zufällig hier gelandet«, erzählt Lu.
»Zufällig?«
»Sie lügt«, sagt Jarno trocken und nimmt einen Schluck Wasser. Ich glaube Jarno. Nichts geschieht hier zufällig.
»Wie alt bist du?«
»Was schätzt du?« Das ist eine gemeine Frage, man kann so ziemlich alles falsch machen, wenn man das Alter einer Frau zu schätzen versucht.
»21«, sagt Alex. »Lu hat das Abi mit 15 gemacht, den Doktor vier Jahre später. Nichts Spektakuläres bei einem IQ von 157.«
»Spielverderber«, schimpft Lu und boxt Alex auf die Schulter.
»Und was hat der unerschrockene, verwegene, junge Mann zu berichten?« Mein Blick wandert zu Jarno. Ich fühle mich von Minute zu Minute selbstbewusster und bin tatsächlich bereit, es mit Jarno aufzunehmen.
»Ich habe Lu bei einem Auslandssemester in Finnland kennengelernt. Wir haben miteinander geschlafen. Seitdem bin ich wie ein Hund an ihrer Leine.«
Ich sehe ihn perplex an. Versuche, meine Fassung zu wahren.
»Das hättest du wohl gerne«, keucht Lu und wirkt aufgebracht. Ihre roten Wangen verraten sie. Sie hatten wirklich etwas miteinander am Laufen.
»Was ist mit dir? Wie alt bist du?«, fragt Alex und meint damit Kyala.
»Ich?«
Pause.
Kyala scheint im Kopf nachzurechnen. Es scheint eine recht komplizierte Rechenoperation zu sein.
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, sagt sie schließlich.
»Auch Geheimnisse?«
»Lass sie in Ruhe, Alex«, sagt Jarno. »Jeder hier hat seine Geheimnisse«, kommentiert er Kyalas Entscheidung und sieht mir dabei direkt ins Gesicht.
»Was sind deine Geheimnisse?«, frage ich ihn.
»Ich habe keine«, sagt er und streicht sich über seine Nase. Eine verräterische Geste.
»Lügner.«
Jarno lächelt, schlürft an seinem Wasser und fängt an, sein Leben zusammenzufassen.
»Ok Leute. Jetzt kommt´s. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Hört gut zu, denn das ist eine einmalige Sache.«
Lu muss kichern. Ich bin gespannt. Selbst Kyala kann sich für einen Moment von Alex unwiderstehlichem Äußeren losreißen.
»Ich bin 26 und wurde mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Mein Vater ist Vorstandsmitglied bei einem deutschen Schraubenkonzern. Ich habe noch drei Geschwister. Ich bin der älteste Sohn und verbrachte die meiste Zeit meines Lebens in Elite-Internaten in der Schweiz, Finnland und Deutschland, bevor ich mit 22 Jahren in diesem Institut einen Job annahm. Seitdem muss ich mir ein Zimmer mit jemandem teilen, der schnarcht wie ein Maulesel«, sagt Jarno in stinklangweiligen, monotonen Tönen. Er macht das absichtlich. Er ist ein Showman und inszeniert alles, was er sagt, als wäre es die Generalprobe für seinen nächsten Bühnenauftritt.
»Ich schnarche nicht«, sagt Kyala übergangslos und erntet mit ihrer Feststellung nicht nur Jarnos hochgezogene Augenbraunen, sondern auch meine und die von Lu.
Alex lacht lauthals: »Aber ich. Das behauptet zumindest dieser falsche Schwede am Tischende.«
Ich begreife. Jarno und Alex teilen sich ein Zimmer.
Alle Blicke gehen anschließend zu mir zurück. Ich bin wieder an der Reihe, mehr von mir zu erzählen.
»Ich studiere Psychologie. Vielleicht tue ich das um herauszufinden, was mit mir nicht stimmt. Denn ich habe noch nie Freundschaft schließen können. Tatsächlich mache ich anderen Menschen Angst«, offenbare ich und frage mich, warum ich das so offen unter Fremden zugebe. Vermutlich, weil mir diese vier Menschen alles andere als fremd erscheinen. Etwas verbindet uns miteinander, etwas, das sich anfühlt, wie eine magnetische Kraft. Wie ein Gravitationsfeld, zu dem wir alle gleichermaßen hingezogen werden.
Keiner macht sich über mich lustig, deshalb offenbare ich mich weiter: »Ich liebe die Natur und den Wald und die Bäume und Levi ist mein erster Freund. Er scheint überhaupt der erste Mensch zu sein, der sich, außer meiner Mutter, für mich interessiert.«
»Ganz falsch«, sagt Alex. Lu nickt. Jarno sieht mich ungerührt an und Kyala schweigt. »Wir interessieren uns alle für dich. Ab jetzt wird alles anders.«
Ich trinke einen Schluck Wasser, um den Kloß, der in meinem Hals steckt, runterzuschlucken. In der nächsten Sekunde bekomme ich wieder Jarnos unverwechselbaren Humor zu spüren.
»In meinem Leben zählen nur zwei Dinge. Eine tolle Frau in meinem Bett und ein gutes Paar Schuhe von Armani. Wenn ich nicht in dem einen stecke, stecke ich in dem anderen.«
»Könntest du deine schmutzigen Fantasien bitte wo anders ausleben«, schimpft Lu.
»Natürlich nicht.« Jarno lächelt neckisch. »Aeia, wie ist das bei dir? Was zählt in deinem Leben?«
Schweigen. Er hat es wieder geschafft, dass ich konsterniert dasitze und keine schlagfertige Antwort parat habe.
»Ich weiß nicht«, sage ich kläglich.
Jarno lässt nicht locker.
»Und ich dachte immer, das Leben junger Frauen dreht sich nur um Sex, Schuhe und Drinks.«
»Hör nicht auf ihn«, meint Lu. »Erzähl uns lieber, was du studiert hast?«, richtet sich Lu an Kyala.
»Nichts!«
Alle schweigen. Schon wieder. Zwei Fragen, so kurz hintereinander, konnten so einfach die ausgelassene Stimmung am Tisch wegblasen.
»Oh Sorry, das konnte ich nicht wissen«, entschuldigt sich Lu.
»Mir geht’s gut«, sagt Kyala leise aber ehrlich.
Wir essen weiter und das Essen schmeckt plötzlich etwas fader. Die allgemeine Vorstellungsrunde ist fürs Erste beendet. Kyala bleibt mysteriös, geheimnisvoll und hübsch. Und sie ist bereits wieder in ihren Tagtraum versunken, während ich mir nachdenklich weitere Stücke des Blumenkohlbratling einverleibe und nicht dahinterkomme, warum Jarno ständig versucht, mich zu necken.
»Und heute Mittag geht´s dann zur Talentshow, nehme ich an?«, beginnt Jarno, wie aus dem Nichts, mir wieder eine Frage zu stellen.
»Jarno, lass sie doch. Sie hat jetzt wirklich genug Fragen beantwortet«, sagt Lu.
»Warum, das ist doch nichts Schlimmes. Ist doch sozusagen die Aufnahmeprüfung«, meint Alex.
»Der Talenttest«, ergänzt Jarno.
»Wie Aufnahmeprüfung? Wie Talenttest?«
»Na ja, du hast ein verborgenes Talent. Deshalb bist du doch hier. Die haben dich ausgesucht, weil du besonders bist. Ein Talent hast, das für das TREECSS von Nutzen ist. Und wenn sich das heute Mittag nicht bestätigt, dann heißt es lebe wohl!«
»Alex!«
»Ist doch wahr. Warum soll sie nicht die Wahrheit erfahren?«
»Sollte sie jetzt nervös werden?«, fragt Jarno die Frage, die mich just in dem Moment beschäftigt.
»Nein, sollte sie nicht«, beginnt Lu zu beschwichtigen. »Die sind verdammt gut beim Treffen einer Vorauswahl. Kommt ganz selten vor, dass kein Talent in den Kandidaten steckt.«
»Was hast du denn für ein Talent?«, will ich von Alex wissen.
»Ich kann Gedankenlesen«, sagt er.
»Wie bitte?«, schießt es mir über die Lippen. Kyala spuckt vor Schreck ihren Saft auf den Tisch und Lu muss so loslachen, dass ihr ein Stück Schnitzel aus dem Mund flattert. Jarno grinst dieses selbstsichere, schiefe Grinsen.
»Du Schuft hast gelogen«, sage ich zu Alex.
Es ist für eine weitere Sekunde still am Tisch.
»Ja, hab ich. Hat sich aber offensichtlich gelohnt. Jarno ist wohl nicht der einzige am Tisch, der schmutzige Fantasien hat«, sagt er und sieht Kyala an, deren Gesicht von der Farbe einer Tomate nicht mehr zu unterscheiden ist.
Feuerrot ist sie. An was hat sie nur die ganze Zeit gedacht?
Aber es steht ihr gut. Etwas Farbe im Gesicht.
»Sex ist nur schmutzig, wenn er richtig gemacht wird«, erklärt uns Jarno und rundet das Thema ab.
»Na hör mal«, schnappe ich nach Luft.
Pause.
Unvermittelt lachen wir alle synchron los.
Sogar Kyala.