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Aeia – Sechs Tage zuvor

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Es ist Montag.

Ich liege in einem französischen Bett - das ich mir seit einem Jahr mit Levi teile - eingekeilt zwischen drei Wänden. Durch das alte Sprossenfenster fallen die ersten Sonnenstrahlen auf mich herab. Auf dem Fensterbrett steht ein Foto von Levi, meinem Freund.

Wie hübsch er ist. Die blonden Haare stehen ihm wild vom Kopf ab. Dafür war ich verantwortlich, erinnere ich mich. Seine blauen Augen, das kantige Profil, die Nase. Alles passt harmonisch zusammen wie bei einer römischen Skulptur. Ich könnte mich jeden Tag aufs Neue in sein Gesicht verlieben. Aber diese Tatsache würde ich ihm natürlich nie verraten.

»Levi, wo bist du?«, rufe ich laut.

Stille. Keine Antwort.

Ein Blick auf den Wecker verrät mir, wie spät es ist. Levi ist zwar kein Student mehr, aber um diese Zeit ist er normalerweise noch nicht in der Uniklinik. Ich kuschle mich auf meine Lieblingsseite in der Hoffnung, er würde mich jeden Moment mit einer duftenden Tasse Kaffee wecken. So wie es Levi fast jeden Morgen praktiziert.

Ich warte vergeblich. Langsam klettere ich über die Fußseite aus unserem Liebesnest. Dort bleibe ich für ein paar Momente sitzen, erstaunt darüber, wie anstrengend das gerade war. Hatte ich nicht eine ganze Nacht lang geschlafen? Und trotzdem bin ich noch hundemüde.

Ich schleppe meinen schläfrigen Körper in unser kleines Tageslichtbad. Den einzigen Luxus, den wir uns in unserer kleinen Studentenwohnung leisten können. In vier Jahren wird Levi seine Ausbildung beendet haben und ich mein Psychologiestudium. Spätestens dann werden wir uns eine schönere, größere Wohnung oder vielleicht sogar ein kleines Haus mieten können.

Wieder überwältigt mich eine Müdigkeitsattacke und ich muss ausgiebig gähnen, mich auf die Toilette setzen, um nicht der Länge nach umzukippen.

Ich denke nach. Es ist schön, sich von Levi verwöhnen zu lassen, aber es fühlt sich schrecklich an, sich von ihm aushalten zu lassen. Er zahlt den Großteil der Miete und die Lebensmittel. Ich würde gerne mehr dazu beisteuern.

Ab heute wird sich das hoffentlich ändern.

Um Acht muss ich mich im Institut einfinden. Bei meiner neuen Ausbildungsstätte und meinem zukünftigen Professor, Ronan Meusburger. Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie ich es mit meinen durchschnittlichen Uni-Leistungen geschafft habe, hier einen Platz zu ergattern. Das TREECSS-Institut ist zwar nicht so bekannt wie das Frauenhofer, aber man sagt sich, es würde zur Elite zählen. Ich bin glücklich, denn ich habe dadurch die Möglichkeit mein Psychologie-Studium weiterzuführen und gleichzeitig an Projekten mitzuarbeiten. So werde ich endlich auch wesentlich zur Aufbesserung unserer Haushaltskasse beitragen können. Ich bin gespannt, wie hoch mein monatliches Einkommen sein wird. Vermutlich nicht sehr hoch, denn hauptsächlich werde ich ja dort sein, um mein Studium zu Ende zu bringen.

Plötzlich wird mir elend schlecht. Ich gleite von der Toilette, schaffe es noch rechtzeitig, den Deckel zu öffnen und mich schmerzvoll zu übergeben. Muss an der Aufregung liegen. Ich will selbstverständlich den hohen Erwartungen meiner zukünftigen Ausbildungs- und Arbeitsstätte gerecht werden.

Ich richte mich auf, halte mich am Waschbeckenrand fest und spüle mir den ekligen Geschmack aus dem Mund. Betrachte meine schmale Gestalt im Spiegel. Ich sah auch schon mal besser aus, stelle ich fest. Neben der Lampe entdecke ich jetzt Levis Nachricht in Form eines gelben Post-it auf dem Spiegel haften.

ILU Engel

Musste früher los.

SeeU

Darunter ein verkümmertes Herz. Zeichnen war noch nie seine Stärke. Ich schenke der Haftnotiz einen Handkuss, flüstere: I love you too, ziehe Slip und Nachthemd aus, schnappe mir die Zahnbürste und stelle mich Zähne schrubbend unter die Dusche.

Beim Einseifen fallen mir gleich zwei Dinge auf. Ich habe schon wieder einen Piekser in der Armbeuge und jetzt noch zusätzlich eine gerötete Stelle neben meinem Bauchnabel. Vage versuche ich mich daran zu erinnern, was letzte Nacht zwischen Levi und mir lief. Als mir keine vernünftige Erklärung einfallen will, beschließe ich, im Laufe des Tages irgendwo Halt zu machen und Mittel gegen Stechfliegen oder Insektenvernichtungszeugs zu kaufen, mit dem ich das Bett ausräuchern werde. Vielleicht sollte ich zuvor aber noch Levi fragen, ob ihm der Geruch etwas ausmachen würde, grüble ich, während ich mich abtrockne, Jeans und BH anziehe. Ich föhne meine Haare und lege an meinem Gesicht letzte Hand an.

Schließlich blicke ich erwartungsvoll in den Spiegel. Eine Augenweide bin ich noch immer nicht. Meine dunkelbraunen, glatten Haare hängen links und rechts von meinem Gesicht, gerade wie ein Duschvorhang, auf meine Schultern herunter. Die Frisur ist mir halbwegs gelungen. Aber die Ränder unter meinen Augen sind fast so dunkel und grün wie meine Augen selbst. Sieht nicht besonders gesund aus.

Mit dunklem Kajal und hellem Makeup helfe ich nach und so langsam erkenne ich die 20jährige junge Frau wieder, von der Levi nicht seine Finger lassen kann. Man sieht es mir an, dass ich keine deutschen Wurzeln habe. Italienisch, spanisch und lateinamerikanisch, vermute ich.

Ich muss an meine Adoptiveltern denken. Meine Adoptivmutter hat mich verlassen, als ich sechs war. Genauso wie meine echte Mutter mich verlassen hat, weggegeben hat. Damals war ich erst zwei. Ich kann mich eigentlich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Es existiert nur ein verschwommenes Gesicht vor meinem inneren Auge. Aber das könnte auch eine ganz andere Person sein.

Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Es wäre ein Glücksfall, wenn ich das auch von meinem Adoptivvater und seinem Sohn behaupten könnte.

Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, als weitere Erinnerungen in mir aufsteigen wollen. Bilder des pompösen Hauses, in dem wir wohnten. Es steht heute noch in Oberau, einem der drei südlichen Stadtteile von Freiburg. Ich war dort seit Jahren nicht mehr. Seitdem ich von dort geflohen bin.

Ich sehe meinen Oberkörper im Spiegel, die Narben, die niemals verschwinden werden, die mich immer daran erinnern werden, was in jenem Haus Schreckliches mit mir passiert ist.

Ich flüchte mich mit meinen Gedanken an andere Orte. Sehe mich im Sommer als kleines Mädchen bis an die Flussufer der Dreisam laufen. Dort lasse ich mir die frische Luft ins Gesicht wehen und lausche der Stille der Natur. Ich flüchte mich in die Farben der Weinhänge, egal zu welcher Jahreszeit, verschlinge sie mit meinen Augen in meiner Fantasie. Ich flüchte mich in die Ruhe, die mich umgibt, in die Erinnerung an mondlose Nächte, in denen ich unbemerkt das Haus verlassen habe und abgehauen bin. Als ich mich in den leichten Nebeln versteckte, bis ich gefunden wurde.

Es funktioniert. Mein innerer, seit Jahren antrainierter, Schutzmechanismus funktioniert. Beschützt mich vor meinen eigenen Erinnerungen.

Ich unterdrücke erfolgreich Ängste und Tränen, die nur meinen Kajal verwischen würden. Ich nehme ein paar dunkle Strähnen und verberge damit die fast verblasste Narbe, die quer von meiner linken Schläfe bis zu meinem Ohr verläuft. Auch ein Geschenk meines Bruders.

Und dann holt mich meine andere Vergangenheit ein. Die Zeit, die ich im Heim verbrachte. In der ich allein war. Ungeliebt. Niemand hat verstanden, warum ich solche Angst hatte und ich habe nie verstanden, warum ich den anderen Kindern mit meiner Zurückgezogenheit Angst einjagte. Ich war immer die, die anders war. Die Fremdartige, Unnahbare, von der man sich fernhielt.

Aber das alles war besser als mein Bruder, der, unter der Aufsicht seines Vaters, seine sadistischen Gewaltfantasien an mir ausleben durfte.

Mein Atem geht schneller und mein Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Aeia, konzentriere dich auf das Positive. Auf das Positive, sage ich zu dem Spiegelbild, das mich anstarrt. Ich versuche, meinen Schutzwall wieder zu aktivieren.

Denke an Anne.

Anne, meine Adoptivmutter, war wundervoll. Sie schenkte mir jeden Tag die größte Kraft im ganzen Universum. Die bedingungslose Liebe einer Mutter.

Sie kannte meine wahren Wurzeln und akzeptierte mich einfach so, wie ich war.

Ich lege mir meinen Schutzengel um den Hals und streiche zweimal über das Medaillon. Betrachte die feine Goldarbeit im Spiegel.

Sie hat ihn mir gegeben, kurz bevor auch sie mich verlassen hat. Damals war ich sechs.

Ich schaffe es. Wische die Erinnerungen endgültig fort.

Alle.

Ich habe jetzt Levi und er würde mir nie etwas Schreckliches antun. Er wird mich hoffentlich niemals verlassen.

Ich bin liebenswert und ich kann sehr gut für mich selbst sorgen. Das ist es, was ich Levi zeigen will.

Meine Füße tragen mich über kühle Fliesen in die Küche, die gleichzeitig auch Wohn- und Esszimmer ist. Ich setze einen Kaffee auf, schmiere ein Marmeladenbrot und entdecke das getrocknete Blut auf dem Stück Papier auf dem Tisch.

Begnadet - Buch 1-2

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