Читать книгу Goschamarie Bauernsterben - Stefan Mitrenga - Страница 12
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Liesl stand pünktlich um sechs Uhr vor Walters Terrassentür. Sie hatte so wenig Stoff am Körper, wie es vertretbar war. Das Thermometer zeigte noch immer einunddreißig Grad an. Walter hatte sich trotz der Hitze in seine Lederhose gequält, aber sein dünnstes Hemd gewählt.
Schwitzend liefen sie auf der Straße ins Dorf. Balu trottete hechelnd neben ihnen her.
„Sieht ja schlimm aus“, sagte Liesl und deutete auf die Wiese neben der Straße. „Das hat sich in der letzten Woche noch mal verschlechtert.“
„Trostlos“, stimmte Walter zu. „Die Bauern haben vor zwei Monaten das letzte Mal gemäht, seitdem ist das Gras nicht mehr gewachsen. Es ist einfach zu trocken. Selbst wenn es jetzt mal regnen würde, wäre es für viele Wiesen zu spät – das Gras ist schon verdorrt.“
Eigentlich ist die Landschaft in Oberschwaben eine der schönsten in ganz Deutschland, doch in diesem Jahr verwandelte die Hitzewelle die ansonsten saftig grünen Wiesen und Felder in kontrastlose braune Staubteppiche. Kein gutes Jahr für die Landwirtschaft.
Anscheinend brauchen die Menschen bei dieser Hitze auch mehr zu trinken, dachte Walter, als sie den vollgestellten Parkplatz vor der Goschamarie erreichten. Die Autos nutzten kreuz und quer jeden noch so kleinen Flecken und die Zwischenräume waren mit Fahrrädern gefüllt. Auf der Treppe zur Eingangstür hatte sich eine Schlange gebildet, und am Bach gegenüber pinkelten die Männer zielsicher aus der zweiten Reihe.
„Ich fürchte, das wird heute nichts“, sagte Walter betrübt. „Hier geht’s ja zu wie im Sommerschlussverkauf.“
Auch Liesl starrte ungläubig auf die Massen an Fahrzeugen und die lange Schlange am Eingang. Sie wollte gerade kehrt machen, als sie Marie am offenen Fenster entdeckte, die ihnen hektisch zuwinkte.
„Weißt du, was sie will?“, fragte sie Walter, der aber nur mit den Schultern zuckte.
Kurz darauf kämpfte sich Marie durch die Schlange nach draußen und nahm Liesl bei der Hand.
„Wär jo no scheener, wenn ihr koin Platz hettet. Jetzt kommet amol mit.“
Marie zog Liesl hinter sich her in die Wirtschaft, Walter und Balu versuchten ihnen zu folgen. Bis auf zwei Tische mit einem „Reserviert“-Schild war alles belegt. Walter steuerte automatisch auf die freien Plätze zu, doch Marie zog ihn zur Seite.
„Die sinn wirklich räserviert. Da kasch it nahocka“, erklärte Marie, während sie Walter und Liesl vor sich her schob. Vorbei am Stammtisch, an dem ein paar ältere Taldorfer saßen. Von Walters Freunden waren nur Max und Elmar da, die in ein Gespräch mit Karle aus Alberskirch vertieft waren, der sich gerade einen riesigen Berg Schnupftabak auf den Handrücken geschüttet hatte.
An einem Ecktisch blieb Marie stehen und schaute die beiden Pärchen, die dort saßen, streng an.
„Fier eich wird’s jetzt dänn go Zeit! Leertrinka, zahla, aufstanda. Auf gahts, machet Platz, jetzt kommet räate Gescht!“
Die vier Angesprochenen schauten sich verdutzt an, bezahlten aber ohne Widerspruch und machten sich auf den Heimweg. Walter musste schmunzeln, denn er wusste, dass viele der Gäste genau das von Marie erwarteten. Nach so einem Rausschmiss würden sie in einer normalen Gaststätte auf die Barrikaden gehen und sich bitter beschweren. Hier war es nur eine weitere lustige Geschichte von der Goschamarie, die sie mit Stolz weiter erzählen würden.
„Hocket eich nah“, sagte Marie und wischte mit einem Abtrockner flüchtig über den Tisch. „Walter, bei dir Bier und Vesper? Und was derf i Ihne bringe, Liesl?“
„Ich nehme das Gleiche“, strahlte sie. „Ich habe Hunger wie ein Bär!“
„Denn leg i no a äkschtra Gierkle drauf, it dass Sie mir hungrig Hoim ganget!“
„Für wen reservierst du denn am Samstagabend zwei Tische zur besten Zeit? Das muss ja jemand ganz besonderer sein …“, fragte Walter beiläufig, denn Marie reservierte nur ungern zu den Stoßzeiten.
„Hosch recht. An bsondre Gascht kriaga ma heit. Dr King kommt, und hot glei zwoi Tisch bschtellt!“
Walter pfiff anerkennend durch die Zähne. „Schau an. Dann wird das hier wohl ein Szenelokal.“
„Pffff …“, schnaubte Marie, „Ka mir gschtohla bleiba där Kerle. Aber heit hend se so a Bauraträffa. Irgendwia kommet alle unsere Großbaura wohl dazua. Da ka i dänn au it noi sage.“
Der „King“ war der Besitzer von King Immobilien in Ravensburg und hieß mit bürgerlichem Namen Andreas König, doch niemand nannte ihn so. Sein besonderes Talent bestand darin, normales Ackerland in teuren Baugrund zu verwandeln. Er hatte die richtigen Kontakte und konnte aus fast jeder Wiese einen lukrativen Wohnpark machen. Jedem war klar, dass da nicht alles mit rechten Dingen zuging, doch bisher hatte ihm niemand etwas nachweisen können. Im Gegenteil: der King hatte zwei Unterlassungsklagen gegen einen regionalen TV-Sender und eine Zeitung gewonnen, die ihm öffentlich Bestechung vorgeworfen hatten. Der King verstand bei solchen Dingen keinen Spaß.
Als er kurz darauf die Gaststube betrat, richteten sich alle Blicke auf ihn. Schon seine Person war respekteinflößend: mit knapp zwei Metern Körpergröße überragte er die Meisten um Haupteslänge. Unzählige Stunden im Solarium und regelmäßige Kurzstrips auf Mallorca hatten seine Haut zu dunklem Leder gegerbt, das schwarze Haar war schulterlang und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er erinnerte ein wenig an einen keltischen Krieger in einem billigen B-Movie.
Sein Erscheinen bei der Goschamarie konnte nur bedeuten, dass demnächst in Taldorf oder Umgebung gebaut wurde, denn der King besuchte freiwillig keine Dorfkneipe - meist war er nur in teuren Szenerestaurants anzutreffen. Dazu passten auch seine Gäste, die nach und nach eintrafen und sich zu ihm setzten. Der King hatte die größten Landwirte der Umgebung eingeladen: Hermann aus Taldorf war dabei, genauso wie Josef aus Hergottsfeld und Xavier aus Wernsreute. Aber auch Oskar, Georg und Martin waren anwesend, obwohl sie eher kleinere Höfe bewirtschafteten.
Walter wunderte sich, dass sich auch Karl-Heinz zu dieser illustren Runde gesellte.
„Wie passt denn der dazu?“, fragte er Marie, als sie ihre Getränke brachte.
„Ha, dr Karl-Heinz isch doch oigentlich oiner vo dia greeschte Baura in Taldorf“, erklärte sie. „Dia maischte wisset des blos it. Der hot fascht älle seine Flächana verpachtet und treibt sälber kaum me äbbes um.“
Walter kannte Karl-Heinz nur durch seinen Honigverkauf. Er mochte ihn nicht, da Karl-Heinz oft etwas ungepflegt war. Auch heute hatte er wieder Essensreste im Bart kleben. Eigelb, vermutete Walter.
Zwei weitere Personen drängten sich zum Tisch des King durch. Vornweg der Anlageberater der Bank in Bavendorf, Ralf Riedesser, ihm folgte der Orts-Vincenz, der Ortsvorsteher von Taldorf. Riedesser, der Walter mit seiner dicken Brille und der geduckten Haltung immer an einen Maulwurf erinnerte, setzte sich unauffällig, während der Orts-Vincenz mit breitem Lokalpolitikerlachen das ganze Lokal begrüßte.
„Muscht wieder a Show abzieha, Vincenz?“, begrüßte Marie den Lokalpolitiker und drückte ihm seinen Trollinger in die Hand, den er immer bestellte.
„Goht des heit älles wieder uff d’Gmoind? Oder zahlsch du a mohl sälber?“
„Aber nicht doch“, entrüstete sich der Orts-Vincenz. „Das übernimmt heute der King …. ähm, der Herr König, meine ich natürlich. Das ist schließlich ein Info-Abend seiner Firma.“
Marie sah ihn skeptisch von der Seiten an, zuckte dann aber nur mit den Schultern. „Soll mir recht sei.“ Sie drehte dem Orts-Vincenz den Rücken zu und kämpfte sich zum Tresen durch.
„So voll war es jetzt schon lange nicht mehr“, sagte Walter, und staunte wie jeder frei gewordene Tisch sofort neu besetzt wurde.
„Aber für uns hat Marie einen Platz frei gemacht. Das war wirklich nett von ihr“, lobte Liesl.
„Das ist bei Marie immer so! Wenn sie dich mag, hast du hier das schönste Leben, aber wehe sie mag dich nicht …“ Walter ließ den Satz einfach offen stehen, doch Liesl ahnte, dass es ihr lieber war, dass Marie sie mochte.
„Wer ist eigentlich dieser King?“, änderte Liesl das Thema.
„Dem King gehört die größte Immobilienfirma in Ravensburg“, erklärte Walter leise. „Ich glaube, der hat so viel Geld wie Gott. Aber ganz hasenrein ist er nicht. Gibt immer mal wieder Gerüchte, er würde mit Bestechung nachhelfen, aber das würde niemand laut sagen … sonst hast du gleich einen Anwalt mit einer Klage am Hals.“
Liesl beobachtete den imposanten Mann, der mit einem strahlend weißen Verkäuferlächeln seine Gäste einlullte. Jeder von ihnen lächelte zurück, wobei so manche dentale Insolvenz offenbart wurde. Doch eines sah man auf den ersten Blick: alle waren stolz darauf, dass der King mit ihnen an einem Tisch saß. Außer Karl-Heinz. Dem schien nur wichtig zu sein, dass alle Getränke frei waren, denn er leerte seine Biere im Minutentakt und trauerte jedem einzelnen mit einem Gedenkschnaps hinterher. Liesl vermutete, dass er in spätestens einer halben Stunde vom Stuhl fallen würde.
„Und was will dieser King mit den Bauern aus dem Dorf?“, wunderte sich Liesl. „Du darfst doch in ganz Taldorf nirgends mehr bauen. Was soll dann der Immobilienfuzzie da für ein Interesse haben?“
Walter rutschte etwas näher zu Liesl und sprach noch etwas leiser. „Schau dir doch mal die Konstellation am Tisch da drüben an! Da sind die Landwirte: die haben Grundstücke. Da ist der Ortsvorsteher: der kann beeinflussen, wo gebaut wird. Und: wir haben den Riedesser von der Bank: der kann denen gleich sagen, was sie verdienen und was für eine Finanzierung möglich ist. Eigentlich alles da, was man braucht oder? Und der King ist der, der alle zusammenbringt und am Ende einen großen Batzen Geld verdient.“
Liesl konnte Walters Erklärung durchaus folgen, wollte aber nicht glauben, dass es so einfach war. „Irgendwer muss sich doch hintergangen oder betrogen fühlen, wenn da auf einmal neue Baugebiete ausgewiesen werden?“
„Sollte man meinen“, lächelte Walter. „Aber genau hier kommt der King ins Spiel. Er schafft es, dass jeder am Ende zufrieden ist. Die Bauern bekommen Geld für ihr Land, die Gemeinde schafft neuen Wohnraum und hat auch sonst noch ein paar Einnahmen und der King baut seine Häuser und verkauft Wohnungen. Wenn zwischen drin jemand auftaucht, dem das nicht gefällt, dann kümmert sich der King darum … auf die eine oder andere Weise. So läuft das seit Jahren.“
Während Liesl immer noch versuchte, das Konstrukt um den King zu verstehen, servierte Marie die Vesperteller.
„Ihr misset entschuldiga …. hot a wäng dauret, aber isch oifach viel los heit. Lassets eich schmecka!“
Walter und Liesl langten kräftig zu, denn der Hunger war groß. Nebenbei versuchten sie immer wieder am Nebentisch mitzuhören, doch der Lärmpegel war zu hoch. Nur manchmal bollerte der King etwas heraus, das alles übertönte.
Nach einer Weile löste sich die kleine Versammlung auf und ein Landwirt nach dem anderen verließ die Runde. Am Ende blieben nur der King, der Orts-Vincenz und Riedesser von der Bank. Sie rutschten enger zusammen und der King zischte leise ein paar Anweisungen. Sein freundlicher Gesichtsausdruck war dabei verschwunden, seine Augen fixierten den jeweiligen Gesprächspartner mit stechendem Blick. Als Marie zu ihnen an den Tisch kam, rutschten sie sofort auseinander und der King setzte wieder sein Vertreterlächeln auf.
„Derfs denn no was sei, oder welleter zahla?“, fragte Marie, doch der King winkte ab.
„Das machen wir heute ganz unkompliziert“, sagte er so laut, dass es jeder hören konnte. Er legte einen Zweihunderteuroschein auf den Tisch. Marie nahm den gelben Schein in die Hand und hielt ihn gegen das Licht.
„Sieht mr ja it sooft die Dinger“, murmelte sie, „da muss i scho gnau naluaga!“
„Mach das Marie, mach das! Und behalte das Restgeld. Wir sind fertig hier. Danke für alles und bis bald mal wieder“, sagte der King und erhob sich. Der Orts-Vincenz und Riedesser von der Bank folgten ihm, als führte er sie an einer unsichtbaren Leine.
„Machet’s guat ziernet nix, kommet wieder“, rief Marie den dreien nach, als sie Gaststube verließen. „Oder noi“, korrigierte sie sich leise, „eigentlich kenntet ihr alle drei futt bleiba.“