Читать книгу Goschamarie Bauernsterben - Stefan Mitrenga - Страница 8
Оглавление4
Das Schicksal der Welt lag in der Hand des Musikredakteurs von S4 Bodenseeradio. Ein gutes Lied kündigte einen tollen Tag an, ein schlechtes Lied war stets Vorbote von Katastrophen.
Walter glaubte fest daran. Jeden Morgen war er ein paar Minuten vor seinem Radiowecker wach und wartete gespannt auf das musikalische Orakel. Endlich sprang die Zeitanzeige auf 2.30 Uhr und das kleine Gerät erwachte zum Leben. „Küss mich, halt mich, lieb mich“, trällerte Ella Endlich aus dem Plastiklautsprecher und entlockte Walter ein breites Grinsen. Er liebte dieses Lied, dessen Melodie aus dem alten Märchenfilm „Drei Nüsse für Aschenputtel“ stammte, außerdem war der Refrain seit kurzem Elmars Klingelton für Anrufe seiner neuen Flamme. Anne und Elmar hatten sich über Walter kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich, was Walter sehr freute. Er liebte es, wenn Menschen glücklich waren und wenn er ehrlich war, war er seit einiger Zeit auch auf einem guten Weg. Seit Liesl neben ihm eingezogen war, verbrachten sie viel Zeit miteinander und vieles hatte sich für Walter zum Positiven gewandelt. Er freute sich wieder auf den nächsten Tag, genoss die Treffen mit seinen Freunden und machte zum ersten Mal seit langem wieder Pläne für die Zukunft. Liesl war stets Teil seiner Pläne, deshalb schmerzte es ihn umso mehr, dass sie bereits über eine halbe Woche weg war.
Der Ausflug zu ihren Freundinnen nach Frankfurt hatte Walter überrascht, doch dass er sie so sehr vermissen würde, hätte er niemals erwartet.
Walter schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in seinen Morgenmantel. Angesichts der herrschenden Temperaturen hätte er ihn nicht gebraucht, aber er hasste es, sich nackt zu fühlen. Es ist schon Donnerstag, dachte Walter, und stellte zufrieden fest, dass Liesl bereits übermorgen wieder da sein würde. Trotz der Wärme feuerte er, wie jeden Tag, seinen kleinen Herd in der Küche an und stellte Kaffeewasser auf die Platte, bevor er für Balu die Gartentür öffnete und ein wenig Nassfutter in seine Futterschale gab.
Als er fertig angezogen aus dem Bad kam, signalisierte ein leises Pfeifen, dass das Wasser kochte. Walter füllte es in seine französische Kaffeemaschine und öffnete die Haustür. Es vergingen nur wenige Sekunden bis Balu zweimal kurz bellte und Jussuf vor Walters Haus parkte.
„Gute Morge Walter“, grüßte der Türke freundlich und nahm am Küchentisch Platz.
„Du bist pünktlich wie ein Uhrwerk“, lobte Walter seinen Freund und goss ihm Kaffee ein.
Die beiden kannten sich seit Walter den Job als Zeitungsausträger angenommen hatte. Jussuf transportierte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern und freute sich immer über ein frühmorgendliches Schwätzchen.
„Isch Wahnsinn wie warm noch isch“, seufzte Jussuf und wedelte sich mit der Hand etwas Luft zu. „Und du machsch immer noch Feuer in Ofen.“
„So schmeckt der Kaffee einfach am besten“, rechtfertigte sich Walter, verschwieg aber, dass er aus Sparsamkeit den Elektroherd nur ungern benutzte. „Aber sag mal Jussuf: geht heute nicht dein Deutschkurs los?“
Jussuf hatte zu seinem letzten Geburtstag von seiner Frau einen Deutschkurs an der Volkhochschule geschenkt bekommen. Seit Jahren zog sie ihn damit auf, dass jedes Kleinkind besser deutsch sprechen könne als er, doch das hatte ihn nie gekümmert. Um den geschenkten Kurs kam er nun nicht herum, zumindest nicht ohne sich größeren Ärger mit seiner Frau einzuhandeln.
„Ach hör auf, Walter. Wozu brauch isch Kurs? Alle verstehn misch, isch versteh disch … wozu?“
Walter verstand seine Einstellung, aber etwas zu lernen konnte nie schlecht sein.
„Jetzt warte es doch erst mal ab. Vielleicht macht es dir sogar Spaß.“
Jussuf verzog das Gesicht. „Das glaub isch nisch. Aber gut: sind nur zehnmal – geht vorbei. Aber sag mal: wie is das bei dir? Wann is Liesls Urlaub vorbei?“
„Morgen kommt sie wieder. Bin schon gespannt, wie es war. Seit sie weg ist, habe ich nichts von ihr gehört.“ Was ja eigentlich ein gutes Zeichen ist, dachte Walter, aber er hätte sich doch über ein paar kurze Nachrichten über Whatsapp gefreut. So gar nichts von Liesl zu hören, kam ihm komisch vor.
„Ich muss dann, Walter“, sagte Jussuf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, „sonst schmilzt noch der Gehirn!“
„Das Gehirn …“, verbesserte Walter, doch Jussuf winkte nur ab.
„Nach der Kurs weiß isch dann alles besser – wirscht sehn!“
Beim Rausgehen zeigte Jussuf auf die leere Garage, deren Tor offen stand.
„Wo isch dein Auto? Verkauft?“
Walter erzählte ihm kurz, was passiert war und dass er es schon heute zurück bekommen würde.
„Wenn doch nich mehr gut is, dann gehen wir zu Cousin Rafi, der besorgt dir Auto“, flüsterte Jussuf verschwörerisch.
„Der Cousin, der bis vor kurzem im Gefängnis war?“, fragte Walter skeptisch.
„Klar.“ Jussuf zuckte mit den Schultern. „Der weiß wenigstens, wie die Hase lauft.“
„Wie der Hase läuft …“, verbesserte Walter.
„Ja, dem auch.“
Walter verzichtete auf weitere Korrekturen und verabschiedete sich von Jussuf, der kurz darauf winkend vom Hof rollte.
Walter genoss die Ruhe der Nacht, während er von Haus zu Haus fuhr und seine Zeitungen verteilte. Begonnen hatte er in Dürnast und Alberskirch und fuhr nun über die Höh nach Wernsreute. Obwohl sich sein Handkarren fast ohne Widerstand schieben ließ, kam Walter an der Steigung ins Schwitzen. Die Straße hieß nicht umsonst „Auf der Höh“. Den dreirädrigen Karren hatte er erst vor wenigen Wochen auf einem Flohmarkt gekauft. Er war ein echter Glücksgriff gewesen. Zwar stellte sich heraus, dass der Händler ihn über den Tisch gezogen hatte, doch das Gerät tat treu seinen Dienst und war für Walter ideal, da er so seinen Job als Zeitungsausträger gleichzeitig als Lauftraining nutzen konnte.
Walter lief der Schweiß in die Augen, was weniger an der Anstrengung, als an den vorherrschenden Temperaturen lag. Seit Wochen kletterte das Thermometer jeden Tag über dreißig Grad, wodurch auch die Nächte immer wärmer wurden. Der letzte Regen war verdunstet, bevor er den Boden erreicht hatte und hatte für eine schier unerträgliche Schwüle gesorgt. Auch die Wälder waren staubtrocken und so war die Waldbrandgefahrenstufe auf das Maximum gesetzt worden.
Während Walter sich weiter bergauf kämpfte, betrachtete er die Häuser, die hier in den letzten Jahren neu gebaut worden waren. Er musste zugeben, dass er nicht einen einzigen ihrer Bewohner kannte. Da sie keine Zeitung abonniert hatten, kannte er nicht mal ihre Namen. So sollte es auf dem Land eigentlich nicht sein, grübelte Walter. In der Stadt mit den Wohnblocks und den anonymen Betonbunkern war das normal, aber hier in der Gemeinde? Er nahm sich vor, in Zukunft etwas aufmerksamer zu sein und ein paar Erkundigungen über die neuen Gemeindemitglieder einzuholen.
Am Ende ihrer nächtlichen Tour erreichten sie Taldorf. Balu trottete locker voraus, während Walter die Zeitung bei Eugen Heesterkamp, der das alte Schulhaus bewohnte, in das dafür vorgesehene Rohr schob. Durch die Hecke hindurch hörte er Eugens Schildkröte in ihrer Kiste schnarchen. Sie hatten sich erst kürzlich kennengelernt und Balu besuchte Ulf, den Schildkröter regelmäßig. Genauso wie Bimbo, den Haflingerwallach, der wegen seiner schmerzhaften Arthrose in den meisten Nächten nicht schlafen konnte.
„Hey Flohfänger“, bollerte Bimbo zu seiner Stalltür heraus, „heute seid ihr aber spät dran!“„Müsstest du diese Runde laufen, würdest du unterwegs verenden“, konterte Balu, der Bimbos Anspielung auf ihr langsameres Tempo natürlich verstanden hatte. „Sogar nachts ist es so warm … so was habe ich noch nicht erlebt.“„Da kann ich mich auch nicht dran erinnern“, bestätigte Bimbo, der stolz darauf war (fast) das älteste Tier im Dorf zu sein. Nur Eugens Schildkröter Ulf war älter. „Sie ernten überall schon den Winterweizen. Viel früher als sonst. Und der Mais macht vielerorts am Verdursten rum und wächst nicht mehr.“ Balu hatte das sich anbahnende Drama auf vielen Feldern gesehen und ahnte, dass es für manchen Landwirt nach diesem Sommer nicht leicht werden würde. „Jetzt wurde wegen der Wasserknappheit sogar das Abpumpen aus Bächen und Flüssen verboten“, wusste Bimbo. „Ich hab es neulich von Hermann gehört, als er mit seiner Frau geredet hat. Jetzt kann er seine Pflanzen mit Leitungswasser gießen, aber das kostet natürlich ein Schweinegeld. Und wenn das Wasser noch knapper wird, werden sie das auch noch verbieten. Es sind schon verrückte Zeiten!“ Der korpulente Wallach schüttelte frustriert den Kopf. „Es wird schon nicht so schlimm werden“, beruhigte Balu das Pferd, und freute sich, dass Bimbo heute so handzahm war. Der Haflinger war chronisch schlecht gelaunt und beschimpfte lautstark alles und jeden. Doch nicht an diesem Tag. „Ich schau mal, dass ich nach Hause komme“, sagte Balu, als Walter aufgeholt hatte. „Da hinten dämmert es schon. Bis morgen, Bimbo!“ Tatsächlich war bereits ein silberner Streif am östlichen Horizont über dem Hummelberg zu sehen, als Walter bei der Goschamarie den Schnaps vom Fenstersimsen nahm. Sogar der war warm, doch er leerte das kleine Glas in einem Zug. Glücklich aber erschöpft machten sie sich auf den kurzen Heimweg und freuten sich auf den Feierabend. Keiner der beiden bemerkte das Augenpaar, das sie aus Liesls Garten heraus beobachtete.