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Kapitel 9: Der Sinn
ОглавлениеDas erste Mal in seinem Leben hatte Tomasio in einem Bett geschlafen. Nach dem langen Marsch durch die Höhle und das nächtliche Warten in der kalten Kapelle war er vollkommen erledigt. Ihm wäre es egal gewesen, wo er hätte schlafen können. Hauptsache, er konnte seine beanspruchten Muskeln für einen Moment ausruhen. Zudem war er aufgewühlt. Dieses Gefühl der Angst hatte sich immer wieder in seinem Inneren breit gemacht, dabei kannte er noch immer nicht den Begriff dafür. Es ließ sein Herz schneller schlagen, sodass er kaum mehr in der Lage war, klar zu denken. Ein Prickeln überzog seine Haut und manches Mal hatte er den Eindruck, nicht mehr atmen zu können. Dieses sonderbare Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen und ließ ihn wie gelähmt zurück. Bisher war er immer mutig gewesen. Woher hätte er auch Angst kennen sollen?
Schweigend war er in der Nacht mit Bruder Michael aus der Kapelle in den Schnee getreten. Die Luft war so kalt, dass es beim Atmen schmerzte. In der Höhle hatte er noch nie erlebt, dass sich weiße Wolken vor seinem Gesicht bildeten. Was das zu bedeuten hatte, davon hatte er keine Ahnung. Er kam sich vor wie ein kleines Kind im Körper eines ausgewachsenen Mannes, das gerade dabei war, die Welt zu entdecken und von all dem nichts wusste.
Mühsam versuchte er, sich die neuen Eindrücke einzuprägen. Aber es waren in diesem Moment einfach zu viele, um sie abzuspeichern. Im Vertrauen darauf, dass der Rat recht haben und er alles von Bruder Michael lernen würde, was er wissen musste, dachte er nicht weiter darüber nach, um sich von alledem nicht noch mehr verunsichern zu lassen.
Daher schleppte er sich durch den tiefen Schnee und ließ die Flocken an seinem Gesicht vorbei schweben, ohne zu hinterfragen, was das sei und zu bedeuten hatte. Das alles würde sich bald erklären.
Vollkommene Stille lag in dem Zimmer, was Tomasio weniger beunruhigte, denn Ruhe war etwas, was ihm sehr vertraut war. In der Höhle war es teilweise so leise, dass man sich auf den Klang seines eigenen Atems konzentrierte. Er bewegte sich und die Bettwäsche gab ihr typisches weiches Knistern von Federn und frisch gewaschener Wäsche von sich, deren Geruch ihm vollkommen fremd war.
Dort, wo er herkam, kannte man keine Duftstoffe. Die Menschen waren durchaus reinlich und Körperhygiene gehörte zum täglichen Ritual, aber so etwas wie Parfum brauchte man nicht. Ebenso wie Bettwäsche. Man schlief auf dicken Fellen und Decken, die aus weichem Material gewebt worden waren. Es war ihm immer angenehm gewesen, darin zu schlafen. Es hatte etwas Vertrautes und er fühlte sich beschützt, wenn er unter die dicken Decken kroch.
Nach der Herkunft fragte niemand. Sie waren schon immer ein Bestandteil der Höhle. Es wurde generell nichts hinterfragt. Die Dinge waren eben so, wie sie waren und das bereits seit Jahrhunderten. Schließlich fragte auch niemand, woher die Felsen in der Höhle stammten.
Es gab natürlich so etwas wie Bildung, alles was sie wissen mussten, wurde ihnen beigebracht. Von Dingen, wie beispielsweise der Sonnenwelt, wusste niemand etwas, daher vermissten sie es nicht und wären nie auf die Idee gekommen danach zu fragen.
Das Leben war angenehm und rein. Einen Glauben brauchten sie nicht. Alles, was wichtig war, wurde vom Rat beschlossen und war seit Ewigkeiten so verlaufen. Niemand musste sich sorgen. Es gab genug Nahrung für alle und niemals wurde jemand krank. Da es keine Zahlungsmittel oder gar Geld gab, konnte niemand neidisch auf den anderen sein. Allen stand das Gleiche zu. Jeder hatte seine Aufgabe zu erledigen, aber ohne jede Form von Stress. Es lag im Ermessen jedes einzelnen, wie er seine Arbeit erledigte und niemand wäre darauf gekommen, sich zu streiten, weil irgendwer nicht rechtzeitig mit dem fertig wurde, was seine Pflicht war. Generell wurden keine Auseinandersetzungen ausgetragen, was wiederum zur Folge hatte, dass es keine Gewalt gab. Das war nicht vorgesehen und wenn, dann war es verboten.
Obwohl Verbote im herkömmlichen Sinn nicht existierten, denn das hätte das Leben der Menschen zu sehr eingeschränkt. Vielmehr vertraute man auf die Instinkte und darauf, dass niemand jemals etwas genauer wissen zu wollte. So wie keiner danach fragte, was sich außerhalb der Höhle abspielte, als ob es eine andere Welt überhaupt nicht geben würde. Sollte doch einer anfangen zu fragen, war es die Aufgabe der Farletti, sich seiner anzunehmen und zu erklären, was der Sinn des Lebens in der Höhle war.
Schon als kleines Kind wurden Tomasio die Lehren beigebracht. Er ging nicht in den Unterricht der anderen Kinder seines Alters. Seit seiner Geburt war klar, was seine Pflicht zu sein hatte. Er verstand es nicht und irgendwann hatte er aufgeben, es verstehen zu wollen, denn er wusste, dass es ihm verboten war, Fragen zu stellen.
Vielleicht war Enzo aus diesem Grund zu dem geworden, was er war, konnte mit dieser Last nicht weiterleben und hatte die Flucht in eine andere Welt gesucht.
Tomasio erinnerte sich daran, wie er allein mit seinem Bruder in einer kleineren, sehr weit entlegenen Höhle die Prüfung der Farletti ablegen sollte, die aus nichts weiter bestand, als allein durch endlose dunkle Gänge der Höhle teilweise sogar zu kriechen, bis sie an einem Punkt gelangten, an dem sie die Nacht verbringen sollten, um am nächsten Tag den Sinn des Lebens zu erfahren und erwachsen und weise zu den anderen zurückzukehren.
Nichts hatte man ihnen erzählt, weder, was sie erwarten würde, noch, was zu tun sei, oder welchen der vielen Wege sie einschlagen sollten. Tomasio war dankbar, dass er diese Prüfung mit seinem Bruder antreten durfte. Alle anderen Farletti mussten sich allein der Aufgabe stellen. Aber da es so gut wie nie Zwillinge gab und erst recht nicht als Farletti, wollte man die beiden wohl nicht trennen.
Damals war ihm dieses komische Gefühl, das er in der Kapelle erneut empfunden hatte, das erste Mal bewusst vorgekommen. Die beiden jungen Männer, die mit ihren vierzehn Jahren noch weit davon entfernt waren, erwachsen zu sein, standen vor drei dunklen Eingängen.
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„Welchen sollen wir nehmen?“, fragte Tomasio.
„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte Enzo, „Ist mir auch egal. Das ist doch ohnehin alles Unsinn.“
„Was redest du da?“
„Du glaubst doch nicht etwa diesen ganzen Blödsinn, der uns erzählt wird?“
„Ich glaube nicht, ich weiß es.“
„Na, dann weißt du doch auch, welchen von den Wegen wir gehen sollen.“
„Du musst es doch auch spüren?“
„Sag du mir, was ich spüren sollte.“
Tomasio machte instinktiv einen Schritt nach vorn. In diesem Moment veränderte sich die Farbe eines Höhleneingangs. Gelbes Licht schlug ihnen entgegen und der Gang, der zuvor klein und unscheinbar wirkte, sah groß und einladend aus.
„Komm“, sagte Tomasio, „hier geht es lang.“
„Wo wohl auch sonst, du Oberlehrer? Ich kann gar nicht glauben, dass wir verwandt sein sollen.“
Tomasio überhörte die Worte seines Bruders, dabei war ihm der gleiche Gedanke schon mehrmals selbst gekommen. Wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, in das eigene Abbild zu schauen, wenn er seinem Bruder gegenüberstand, er wäre davon ausgegangen, dass sie keinesfalls Blutsverwandte sein konnten.
Enzo war schon immer anders gewesen und Tomasio versuchte, sich mit dem Verhalten seines Bruders zu arrangieren. So wusste er, dass er den Weg durch das Labyrinth zu dem Platz, an dem sie schlafen sollten, allein finden musste. Enzo wäre ihm mit Sicherheit keine Hilfe und er würde sich einzig auf sich selbst verlassen.
Auch wenn Tomasio nicht wusste, wohin er gehen sollte, war es ihm doch so, als würde er von einem unsichtbaren Band gezogen werden. Ohne darüber nachzudenken, tat er einen Schritt nach dem anderen und so drangen sie immer tiefer in den Berg. Tomasio wollte gar nicht daran denken, dass sie am nächsten Tag den gleichen Weg zurück nehmen mussten und dieser dann ebenso stetig bergauf gehen würde.
Ab und zu drehte er sich zu Enzo um, den er stöhnend hinter sich hörte. Beim ersten Mal erschrak er, denn die Höhle hinter ihnen lag in vollkommener Dunkelheit und in diesem Moment überkam Tomasio zum ersten Mal in seinem Leben dieses ungute Gefühl. Etwas zerrte an ihm und er bekam Bauchschmerzen. Sein Herz schlug schneller und sein Atem wurde schwer.
„Spürst du das auch?“, wollte er von Enzo wissen.
„Was denn?“
Beide waren stehengeblieben. Nun war lediglich der Teil der Höhle erhellt, in dem sie standen. Um sie herum war es so dunkel, dass man nicht einmal hätte erkennen können, wo ein Fels begann und wo sie hätten weitergehen sollen. Das Gefühl in Tomasio wurde immer größer. Er wusste nicht, wie er es hätte beschreiben sollen, denn er kannte keine Worte dafür.
„Da ist etwas in mir, das von hier kommt“, sagte Tomasio.
„Du redest wirres Zeug.“
„Ich kann nicht sagen, was es ist. Es ist so, als würde mir jemand die Luft zum Atmen nehmen. Eine unsichtbare Hand greift nach mir. Da ist etwas, da vorn.“
„Oder da hinten?“
„Dann spürst du es doch auch.“
„Nein, ich habe keine Ahnung wovon du sprichst. Du spinnst einfach.“
Enzos Worte verwirrten Tomasio noch mehr. Er wusste nicht, ob sein Bruder ihn lediglich verunsichern wollte, so wie er es sein ganzes Leben bereits getan hatte. Enzo war nichts heilig und er ließ keine Gelegenheit aus, Unsinn zu machen und es am Ende Tomasio in die Schuhe zu schieben.
„Können wir nun endlich weiter? Ich bin müde und hab’ Hunger. Wie weit ist es denn überhaupt noch?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Weil du dich doch auskennst und den Weg findest, den wir gehen sollen.“
„Bist du wirklich mein Bruder?“
„Sieht wohl ganz danach aus. Auch wenn ich es nicht glauben kann und gern ein paar Fragen stellen würde.“
„Lass uns einfach weiter gehen“, sagte Tomasio, der es leid war, sich mit Enzo zu unterhalten.
„Sag ich doch, mach schon und zeig uns den Weg, mein Meister.“
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Ohne Mühe hatten sie den Weg finden können und waren kurz darauf an ihrem Ziel angekommen. In einer etwas größeren Höhle stießen sie an einen See, der angefangen hatte schillernd zu leuchten, als sie ans Ufer traten. Tomasio umrundete das Wasser und suchte nach einem weiten Gang, konnte jedoch nichts finden, was ihm den Weg gezeigt hätte. Daher nahm er an, dass sie hier bleiben sollten. Enzo hatte es sich bereits bequem gemacht, als ob er gewusst hatte, dass sie angekommen waren.
Am nächsten Morgen waren sie mächtig stolz und wussten, dass sie nun keine Jungen mehr waren, sondern Männer. Dennoch, den Sinn des Lebens hatten sie nicht gefunden.
Schweigend machten sie sich auf den Weg zurück, der ihnen sehr viel leichter vorgekommen war. Erneut spürte Tomasio dieses ungute Gefühl, weil er annahm seiner Pflicht nicht nachgekommen zu sein, da er den Sinn des Lebens nicht gefunden hatte. Er traute sich nicht darüber zu sprechen und schon gar nicht mit anderen.
Als sie zurückkehrten klopften ihnen älteren Farletti, die den Weg bereits bestritten hatten, anerkennend auf die Schulter und nickten wissend, aber niemand sprach über das, was der Sinn des Lebens sein sollte. Anfänglich nahm Tomasio an, er sei zu dumm, um es herauszufinden, aber Enzo versicherte ihm, als sich Tomasio ihm eines Tages anvertraute, er wüsste es auch nicht und es sei höchst wahrscheinlich, dass keiner eine Antwort darauf hätte, weil auch niemand es jemals wagen würde, zu fragen.
Zu seinem Glück musste Tomasio niemals einem Bewohner den Sinn des Lebens erklären, weil der es gewagt hätte, Antworten hören zu wollen.
Obwohl sich Tomasio seiner Pflicht bewusst war und er niemals Fragen stellte, kamen ihm doch so viele in den Sinn, seitdem er die Höhle verlassen hatte, dass er nicht länger liegen bleiben konnte und das Bett, das er als äußerst angenehm empfand, verließ.
Im Zimmer war es kalt und er begann erneut zu frieren. Unter seinen Füßen fühlte er eine glatte Oberfläche, die ganz anders war als in der Höhle. Wieder eine Frage. Was war das?
Er senkte seinen Blick und sah auf einen dunklen Boden, auf dem seine hellen Füße aussahen, als würden sie leuchten. Diese langen, irgendwie gleichmäßig geschnittenen Platten hatten jedoch unterschiedliche Muster. Sie sahen aus wie Wellen, wie die Wasseroberfläche, wenn er einen Stein über den See hatte hüpfen lassen. Hier und da sah er Kreise, in deren Zentren dunkle Punkte zu erkennen waren.
Er bewegte seine Füße darauf und ließ sie den Untergrund fühlen. Er war weich und doch irgendwie hart und kalt. Einige Steine in der Höhle hatten eine ähnlich glatte Oberfläche, dass es einem angenehm war, über sie zu streichen, dennoch blieben diese Steine immer das, was sie waren: kalt und so fest, dass man sie nicht ohne Weiteres hätte zerstören können.
Dieses Material war anders und er bückte sich, um mit einer Hand dessen Beschaffenheit besser erkennen zu können. Er blieb allerdings ebenso ratlos wie zuvor.
Langsam fing es an, ihn anzustrengen, dass er für nichts, was er sah und empfand, einen Namen kannte. Es wurde Zeit, dass Bruder Michael ihn lehrte, was er wissen wollte, damit die Fragen in seinem Kopf aufhörten, ihn zu quälen.
Ihm war danach, zum Fenster zu gehen und den Vorhang zu öffnen, aber er traute sich nicht. Zu ungewiss war das, was sich dahinter verbarg. Ganz sicher würde es noch mehr Fragen aufwerfen und er wäre vollkommen überfordert damit gewesen. Dennoch stand er auf und stellte sich mutig vor den von der Decke herabfallenden Stoff. Er streckte eine Hand aus und griff danach. Das war endlich ein Gefühl, dass ihm bekannt vorkam. Dieses Material wurde ebenfalls in der Höhle für Vorhänge verwendet. Es war schwer und ließ keinerlei Licht hindurch. Ihm war danach, sich mit dem Stoff einzuwickeln, denn ein entsetzliches Heimweh überkam ihn. Sein Herz wurde schwer. Etwas schnürte ihm die Kehle zu und er schluckte mühsam den dicken Kloß in seinem Hals hinunter.
Schnell ließ er den Vorhang los und ging zurück zum Bett. Er mahnte sich, nicht albern zu sein. Schließlich war er ein erwachsener Mann, zudem ein Farletti. Nichts sollte ihn erschüttern. Und doch war ihm danach, in Tränen auszubrechen. Zum Glück stieg Wut in ihm auf. Wut über Enzo, der seiner Pflicht nicht nachkommen wollte und ihn dadurch in diese Lage gebracht hatte.