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Kapitel 14: Fantasie
ОглавлениеNach nur wenigen Minuten war alles wieder vorbei und Bruder Michael war erleichtert. Dieses Mal hatte er keine Schmerzen gefühlt. Nichts, was ihn beunruhigt hätte. Und doch war es anstrengend gewesen und er brauchte jetzt dringend ein kräftiges Frühstück. Er hatte maßlose Angst vor diesem Wissenstransfer, der ihn beim ersten Mal furchtbar erschreckt hatte und er hoffte, sich nie wieder so einer Prozedur unterziehen zu müssen. Schon Tage vorher beschäftigte ihn die Tatsache, dass von ihm erwartet wurde, es noch einmal zu tun.
Er rollte den Ärmel seines Pullovers wieder hinunter und sah Tomasio an, der noch immer die Augen geschlossen und den Stein in seiner Hand hielt, der inzwischen aufgehört hatte zu leuchten.
„Geht es dir gut?“, fragte Bruder Michael.
„Ja, danke.“
Jetzt endlich hatte Tomasio seine Augen geöffnet und den Stein wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen.
„Hast du alles verstanden?“
„Was hätte ich nicht verstehen sollen? Im Gegenteil, mir ist viel mehr klar, als je zuvor in meinem Leben. Jetzt weiß ich, warum wir unter der Erde in Höhlen leben.“
„Aber du weißt auch nur das, was sie mir beigebracht haben.“
„Was deutlich mehr ist, als das, was sie uns lehren.“
Tomasio hatte in wenigen Minuten den gesamten Inhalt Bruder Michaels Gehirn in sich aufgenommen. Selbst die Dinge, die in tiefen Windungen verschwunden waren und an die sich Bruder Michael schon lange nicht mehr erinnerte, waren für Tomasio nun so, als hätte er sie selbst erlebt. Und er verstand nun alles.
Für all das, was er zuvor gesehen hatte und ihm die Begriffe fehlten, wusste er nicht nur die Namen, sondern auch deren Bedeutung. Er sah in Richtung des Fensters mit den schönen buntkarierten Vorhängen. Draußen war es noch dunkel, trotzdem konnte er erkennen, dass es schneite und Tomasio wusste, dass es kalt sein würde. Ihm war nach einem kräftigen Kaffee. Der Geschmack lag ihm auf der Zunge, als hätte er vor nicht all zu langer Zeit den letzten getrunken. Außerdem hatte er großen Hunger. Auf ein frisches Brot mit Butter und Marmelade. Dazu vielleicht ein gekochtes Ei.
Tomasio hatte weder das eine noch das andere jemals in seinem Leben zuvor gesehen, noch gegessen.
Das waren Eindrücke, die er erst verarbeiten musste. In diesen Moment kam es ihm so vor als hätte er seine eigene Persönlichkeit verloren. In seinem Kopf waren derzeit nicht seine Erinnerungen und Empfindungen. Er musste an Greta denken. Ein wohliges Gefühl legte sich über ihn, gefolgt von einem Schauer. Dieses Gefühl, was er in Bruder Michael gefunden hatte, wenn der mit Greta intim wurde, hatte ihn beeindruckt. So war es also, wenn man mit einer Frau zusammen war.
Gleichzeitig aber wusste Tomasio, dass Bruder Michael anders war als andere Ordensbrüder. So lange, wie es die Pleberosso in den Höhlen gab, so lange gab es diesen Orden, der nichts mit der Kirche zu tun hatte. Das war lediglich eine Tarnung, um in Ruhe, hier in den Bergen, für den Schutz des Volkes in der Höhle zu sorgen.
Niemand wechselte jemals von der einen in die andere Welt. Jeder wusste, was seine Aufgabe war und gab diese über Generationen weiter. So wie Tomasio ein Farletti war, war Michael ein Bruder des Ordens, dessen Aufgabe darin bestand, das Geheimnis zu wahren und an seine Kinder weiterzugeben.
Aus diesem Grund hatte er sich eine Frau gesucht, der er so weit vertrauen konnte, dass sie ihn in die Berge begleitete, mit ihm hier lebte und ihm Kinder schenkte, die inzwischen schon beinah erwachsen waren und in einem Internat ihre schulische Ausbildung bekamen, bis sie wieder zurückkehren würden, um die Tradition fortzuführen.
Greta wusste nichts von den Pleberosso. Sie war davon überezugt, dass Bruder Michael mit ihr ein Vergehen an der Kirche ausübte, was für sie einen großen Reiz darstellte. Außerdem liebte sie ihn, ebenso, wie er sie liebte. Etwas, was Tomasios Herz schneller schlagen ließ, denn Liebe in dieser Form kannte er bisher nicht.
Das Wissen, das Tomasio über Bruder Michael in seinen Kopf gepflanzt bekam, war wichtig, aber er musste lernen, so schnell wie möglich seinen eigenen Charakter wiederzufinden und nicht zu vergessen, wer er war. Greta war nicht seine Frau, auch wenn ihm danach war, sich augenblicklich mit ihr in das Schlafzimmer zurückzuziehen. Der Drang, selbst körperlich zu fühlen, was Bruder Michael jede Nacht bei Greta spüren durfte, war unwiderstehlich. Schnell war Tomasio vom Sofa aufgestanden und ging wie ein eingesperrtes Tier in einem viel zu kleinen Käfig hin und her.
„Das muss schlimm sein“, sagte Bruder Michael.
„Du hast keine Ahnung. Ich bin jetzt du.“
Erschrocken sah ihn Bruder Michael an. Es war logisch, dass Tomasio nun ein Teil seiner selbst war, genauso wie Enzo und das beunruhigte ihn noch mehr.
„Ich habe etwas gesehen …“, sagte Tomasio.
„Ich weiß.“
„Das war schlimm.“
„Ich weiß. Eine schwere Schuld liegt auf mir, die kaum zu ertragen ist“, sagte Bruder Michael.
„Dich trifft keine Schuld, mach dir keine Vorwürfe.“
„Aber Enzo …“
„Hat sich nur das geholt, was ohnehin schon tief in ihm schlummerte.“
„Ich dachte, ihr kennt keine Gewalt und alles, was böse ist, sollte euch fremd sein.“
„So sollte es sein. Enzo ist jedoch anders, war er schon immer.“
„Dann bin ich gar nicht …“
„Nein, das war höchstens ein weiterer Beweis für ihn, dass er auf dem richtigen Weg ist.“
Tomasio sah Bilder vor sich, wie Bruder Michael auf einen Menschen eingeschlagen und diesen bis zum Tode gequält hatte. Es war so furchtbar, dass Tomasio sich nicht erklären konnte, wie ein friedliebender Mensch wie Bruder Michael zu so einer Gewalt überhaupt fähig sein konnte.
„Warum hast du diesen armen Mann getötet?“, wollte er wissen.
„Das, was du gesehen hast, das ist nicht real. Vieles in meinem Kopf ist nicht real. Da sind Träume, Visionen und Ängste vergraben, die ich schon längst vergessen hatte.“
„Aber die Bilder waren echt.“
„Ja, aber nur in meinem Kopf.“
„Aber warum?“
„Ich bin Pazifist, aus Leidenschaft und Überzeugung. Nur leider habe ich einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sobald mir etwas Ungerechtes über den Weg läuft, oder ich davon erfahre, sei es nur im Fernsehen, dann tickt in mir etwas aus und meine Fantasie geht mit mir durch. Ich komme erst wieder zur Ruhe, wenn ich gedanklich denjenigen fertig gemacht habe. Und du weißt ja, wie ich das tue.“
„Aber wie kannst du so genau wissen, wie du Rache nehmen willst? Bis ins kleinste Detail. Woher weißt du das, wenn du es selbst noch nie gemacht hast?“
„Das Fernsehen. Zeitung. Internet. Das alles führt dazu, dass du dir irgendwann alles vorstellen kannst. Nicht mit allen Frauen, die du bei mir gesehen hast, war ich tatsächlich zusammen.“
„Dann war die hübsche, blonde, mit den extrem langen Beinen und dem kurzen Rock …“
„Reine Fantasie. Du wirst bald den Unterschied herausfinden. So lange bleibst du hier und gewöhnst dich an das alles hier.“
„Mir läuft die Zeit davon. Enzo hat einen gewaltigen Vorsprung.“
„Den hat er morgen auch noch. Wir müssen nun mit Bedacht vorgehen und nichts überstürzen.“
„Wie meinst du das, wir?“
„Ich werde dich begleiten.“
„Das halte ich für keine gute Idee.“
„Das macht nichts. Ich bin beauftragt worden, dich nicht aus den Augen zu verlieren.“
„Das soll heißen, man vertraut dir mehr als mir.“
„Nein, man will nur sicher gehen und dir helfen.
„Ich brauche keine Hilfe.“
„Doch, ganz sicher sogar.“
Bruder Michael hatte die Klinke bereits in der Hand und drehte sich noch einmal zu Tomasio um.
„Vertrau mir und entspann dich noch einen Moment. Wenn du dann soweit bist, hat Greta ein hervorragendes Frühstück für dich.“
„Bruder Michael?“
„Sag einfach Michael zu mir, alles andere wäre irgendwie albern und zu auffällig, wenn wir die Berge verlassen.“
„In Ordnung, Michael, ich habe da noch etwas gesehen, das lässt dich nicht schlafen.“
Michael kam zurück in den Raum, sein Blick hatte sich verändert, als ob er jede Sekunde seines Lebens durchlebte, was ihm seinen Schlaf raubte.
„Ja, das ist schlimm. Ich wusste nicht, wo es herkommt. Nachdem Enzo mein Wissen genommen hatte, war es plötzlich da. Seither ist mein Leben irgendwie anders. Ich habe Angstzustände und fürchterliche Albträume.“
„Ich weiß. Ich möchte dir helfen.“
„Aber wie?“
„Lass uns noch einmal setzen.“
Ohne dass Tomasio etwas hätte sagen müssen, zog Michael den Ärmel seines Pullovers wieder nach oben und reichte ihm seinen Arm. Tomasio steckte seine Hand in die Hosentasche, berührte den Stein und schloss seine Augen.
Auch Michael senkte die Lider und sackte sofort in sich zusammen, nachdem Tomasio ihn berührt hatte. Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit legte sich über Michael, ein Glücksgefühl, dass er zuletzt als Kind gespürt hatte. Die Gewissheit von Freiheit und alles tun zu können, was immer einem in den Kopf kam, durchflutete ihn, als wäre es nie anders gewesen.