Читать книгу Freiheit der Schmetterlinge - Susan Mennings - Страница 8
Kapitel 5: Aufgabe
ОглавлениеKein einziges Geräusch war zu hören. Die Natur der Berge lag in vollkommener Stille vor ihm. Kein Wind wehte und bewegte geräuschvoll die kahlen Äste der Bäume. Selbst nachtaktive Tiere wollten sich nicht aus ihrem Bau locken lassen und blieben verborgen.
In dem kleinen Ort in den norditalienischen Alpen lagen deren Bewohner bereits in ihren Betten. Niemand würde sich in diese Einsamkeit verirren. Die kleine, in engen Serpentinen verlaufende Straße wurde nicht vom Schnee geräumt. Die Gemeinschaft des Dorfes bevorzugte die Abgeschiedenheit und achtete darauf, dass keine ungebeten Gäste den Weg hierher fanden.
Leise wurde die Tür eines Hauses geöffnet und ein Mann trat heraus, blieb kurz stehen und vergewisserte sich, dass er unerkannt blieb. Es war unwahrscheinlich, mitten in der Nacht jemandem zu begegnen, aber es war notwendig, sicher zu gehen, dass niemand ihn beobachtete.
Es war so ruhig, dass er das Gefühl hatte, den Schnee fallen zu hören. Ein leises Knistern zog an seinem Ohr vorbei. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, dabei ließ die geschlossene Schneedecke alles, selbst in dieser, durch dicke Wolken hervorgerufenen, trüben Nacht, heller erscheinen. Der Schneefall war eher spärlich, als ob die hohen Minustemperaturen dafür verantwortlich waren, dass die Luftfeuchtigkeit zu Eis gefror. Es waren nicht die sonst üblichen dicken weißen Flocken, an denen man mit bloßem Auge Eiskristalle erkennen konnte. Dafür wäre es ohnehin viel zu dunkel gewesen.
Langsam bahnte er sich einen Weg durch den tiefen Schnee. Mit jedem seiner Schritte versank er einige Zentimeter und das Gehen fiel ihm schwer. Tief atmete er ein und aus und sein Atem produzierte riesige weiße Wolken. Er zog seinen Schal enger um den Hals und die Mütze tiefer ins Gesicht. Mühsam trug er die prall gefüllte Tasche geschultert.
In wenigen Schritten würde er die Kapelle und damit sein Ziel erreicht haben und doch fing er jetzt bereits an zu schwitzen. Um sich zu beruhigen, blieb er stehen. Sein Herz klopfte schnell, was nicht nur an der Anstrengung, durch den Schnee zu kommen, lag. Obwohl er genau wusste, was ihn erwarten würde, kroch immer mehr Spannung in ihm hoch.
Es war noch nicht lange her, da hatte er genau denselben Auftrag ausführen sollen und fühlte sich verantwortlich für dessen Scheitern.
--
Wie lange er in der Kapelle gesessen hatte, konnte Tomasio nicht sagen. Er wusste, dass es draußen dunkel sein musste, kein Licht drang durch die Fenster und nichts erhellte das Innere. An die Dunkelheit hatte er sich schon lange gewöhnt. Mittlerweile fing er an zu frieren, seine Kleidung war vom Schweiß der Anstrengung, aus der Höhle zu kommen, feucht geworden. Wie lange er durch endlose Gänge unterwegs gewesen war, hätte er ebenfalls nicht sagen können. Er besaß keine Uhr und wusste nicht, was es damit überhaupt auf sich hatte. Um Zeit musste sich niemand kümmern. Doch diese wurde langsam knapp. Etwas, womit er nie gerechnet hatte.
Seine Muskeln schmerzten, denn obwohl sein Körper gut trainiert war, spürte er die Anstrengung des Aufstiegs aus der Höhle. Dass es so lange dauern würde, auch damit hatte er nicht gerechnet, denn er war noch nie an der Oberfläche gewesen. So wie alle anderen Bewohner auch.
„Wie werde ich hinaus finden?“, hatte er gefragt, als er bereit war, sich seiner Pflicht zu stellen.
„Du wirst es wissen, wenn du den Weg beschreitest.“
Verunsichert hatte er den Rat angesehen.
„Dein Instinkt wird dich führen“, hatte man ihm gesagt.
„Soll das heißen, ihr wisst es auch nicht?“
„Nein, wir wissen es nicht. Keiner von uns war je an der Oberfläche. Wir können dir nur das sagen, was überliefert wurde. Weiter als bis zum Versorgungsgang ist niemand gekommen.“
Tomasio hatte damit gerechnet, dass man ihn auswählte, um die Pleberesso zu retten, die seit Generationen in Frieden unter der Erde lebte. Aber er war sich nicht sicher, ob er seiner Aufgabe und der damit verbunden Pflicht tatsächlich gewachsen war.
Einige Stunden waren bereits vergangen und er wartete noch immer in der kalten Kapelle. Was es mit der Kälte auf sich hatte, mussten alle Pleberosso lernen. Er erinnerte sich an seine Kindheit, die absolut unbeschwert gewesen war, bis es von Jahr zu Jahr immer dunkler und vor allem kälter wurde. Er wusste, dass er etwas Besonderes war und was das zu bedeuten hatte. Ihm war ein anderes Leben vorbestimmt. Während alle seine Freunde sich einem Leben voller Freude hingeben konnten, nichts weiter zu tun, als glücklich zu sein und eine Familie zu gründen, so war es seine Aufgabe, die anderen zu beschützen.
Obwohl er als Kind keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Seit Generationen lebten sie friedlich miteinander, ohne Kämpfe, ohne Gewalt, ohne Krankheiten. Letzteres trat jedoch mit der Kälte und der Dunkelheit auf und je älter Tomasio wurde, desto mehr wurde ihm seine Aufgabe bewusst.
Dass dies zur Folge hatte, dass er seine gewohnte Umgebung verlassen und an die Oberfläche gehen musste, hatte ihm niemand gesagt und ihn daher auch nicht darauf vorbereitet. Das Gefühl von Angst kannte er nicht, hätte auch nicht gewusst, was das Wort überhaupt bedeuten soll. Jetzt, da er in der dunklen Kapelle saß, furchtbar fror wie noch nie zuvor in seinem Leben, kroch etwas in ihm hoch, das ihn zittern ließ.
Auf dem Weg an die Oberfläche hatte ihn dieses seltsame Gefühl bereits überfallen. Aber je weiter er sich vom Zentrum der Höhle entfernte und je sicherer er dem Weg folgte, den er zuvor noch nie gegangen war, desto mehr schwand dieses eigenartige Gefühl in seinem Inneren. Er fühlte sich unerschütterlich und wusste, dass alles gut ausgehen werde würde.
Nun aber saß er zusammengekauert in einer Ecke und zitterte. Er war dreiunddreißig Jahre alt und noch nie zuvor in seinem Leben konnte er seinen Körper nicht beherrschen. Anfänglich nahm er an, es könne an der Kälte liegen, dann aber wusste er, dass es tief aus seinem Herzen kam. Er fühlte sich unwohl. Wäre es nicht vollkommen undenkbar gewesen, seiner Aufgabe nicht nachzukommen, er wäre den beschwerlichen Weg zurück in die Höhle gegangen.
Was sollte er nur tun? Die Ratlosigkeit, die sich einstellte, war ebenso ein Gefühl, das er nicht kannte. Er dachte an seinen Bruder Lorenzo, den alle nur Enzo nannten, außer natürlich der Rat der Farletti, die ältesten weiblichen Auserwählten, die darauf bedacht waren, dass alles seine Ordnung hatte. Obwohl sie selbst noch nie die sichere Umgebung der Höhle verlassen hatten, gaben sie ihm strikte Anweisungen, an die er sich halten sollte, damit alles ein gutes Ende nehme. Obwohl er davon überzeugt gewesen war, in seinem Alter ein erfahrener Mann zu sein, den nichts würde erschüttern können, stellte er fest, dass, je mehr sie ihm sagten, er sich fühlte wie ein kleines Kind.
Es verunsicherte ihn, dass er anfing an ihnen zu zweifeln. Immerhin hatten sie sich in Enzo vollkommen getäuscht. Er hätte es ihnen sagen können, dass Enzo nicht der gute Mensch war, den alle in ihm vermuteten. Aber man hätte ihm nicht geglaubt. Warum auch? Er selbst war überfordert mit der dunklen Seite seines Bruders. Als er das erste Mal mit angesehen hatte, wie Enzo nur zum Spaß ein Tier erst quälte, um es dann zu töten, war Tomasio entsetzt. Er wollte sofort zum Rat laufen, um zu sagen, was er gesehen hatte. Aber wie sollte er es ihm beschreiben? Er kannte nicht die Worte für böse Taten. In ihrem Leben war nichts dergleichen vorgesehen und alles andere war verboten. Nur das Gute im Menschen wurde akzeptiert.
Und nun saß er in einer dunklen eiskalten Kapelle und wartete darauf, abgeholt zu werden, damit er sich in den nächsten Tagen auf die Suche nach seinem Bruder und dem Kind machen konnte.
Das Kind, so hatte man ihm eindringlich gesagt, sei wichtiger als alles andere. Es sei anzunehmen, dass Enzo das Kind bei sich habe. Wenn man also das Kind fand, würde man auch Enzo dingfest machen können. Tomasio sollte das Kind in Sicherheit bringen und Enzo, wenn es sein musste, zurücklassen. Am besten wäre es, wenn er keinen weiteren Schaden anrichten konnte.
--
„Ich soll ihn töten?“, fragte Tomasio ungläubig.
„Wenn du es so auffassen willst?“, sagte eine der Farletti des Rates und sah zu Boden, während die anderen vier bereits in ihre gefalteten Hände starrten.
Obwohl es in der Höhle etwas wärmer geworden war, seitdem der Rat die Steine im See zum Leuchten gebracht hatte, ließ ihn die Vorstellung, seinen Bruder töten zu müssen, erschauern.
„Wenn er keinen Schaden anrichten soll, gibt es ja wohl nur diesen einen Weg“, sagte Tomasio.
„Wir werden dich nicht verurteilen, wenn du tust, was getan werden muss.“
„Ich kann meinen Bruder nicht töten. Ihr verlangt zu viel von mir. Das geht nicht.“
„Es ist deine Aufgabe, uns und das Leben hier zu schützen. Du bist dazu ausgebildet und für nichts anderes bist du geboren worden. So, wie es unsere Aufgabe ist, die Höhle mit Energie zu versorgen und weibliche Farletti zu gebären, so ist dies die schwere Last, die du zu tragen hast.“
„Ich kann das nicht tun“, sagte Tomasio erneut und war kurz davor, dem Rat vorzuwerfen, dass sie selbst Schuld an der Misere tragen würden, denn schließlich waren die weiblichen Farletti nicht mehr in der Lage, Mädchen zu gebären und damit den Fortbestand zu sichern. Er konnte nicht verstehen, aus welchem Grund ausgerechnet Frauen so viel wertvoller sein sollten.
--
Bisher hatte er noch nie darüber nachgedacht, was es bedeutete, ein männlicher Farletti zu sein. In seiner Kindheit hatte es ihm viel Anerkennung gebracht und seitdem er erwachsen war, war jede Frau dazu bereit, mit ihm eine Familie zu gründen. Er wusste jedoch, dass er nur mit einer Farletti Kinder zeugen durfte und die wurden schon seit Jahren nicht mehr geboren. Es war seine Pflicht, sich in Enthaltsamkeit zu üben. Die letzten verbleibenden weiblichen Farletti waren über die Jahre zu alt geworden, um überhaupt noch Kinder zu gebären, womit das Leben in der Höhle bedroht war.
Manchmal hasste er sein Schicksal, ein Gefühl, dass ihm nicht gestattet war und je länger er darüber nachdachte, verstand er Enzo, warum dieser seiner Pflicht nicht nachgekommen war.
Während er in der Kapelle saß, versuchte er, seine Gedanken zu sortieren. Er fror aber so sehr und sein Körper zitterte, dass es ihm unmöglich schien, sein Gehirn dazu zu zwingen, einen Plan zu schmieden, wie er das Kind und Enzo finden sollte.
Ein Knacken, gefolgt von einem tiefen Knarzen ließ ihn zusammenzucken. Sofort hörte er auf zu zittern. Sein Körper schien zu funktionieren, denn er spannte sich und war dazu bereit, sich einem Angreifer zu stellen.
Der Mann, der nur mit Mühe die schwere Tür der Kapelle öffnen konnte, hatte keine bösen Absichten. Bevor er ins Innere trat, versuchte er etwas in der Dunkelheit zu erkennen.
„Hallo, bist du da?“, rief er, klopfte sich den Schnee von der Jacke und ließ die Tasche auf den Steinfußboden fallen. Das Geräusch erfüllte die Kapelle und wurde von den Wänden zurückgeworfen, sodass es ihn selbst erschreckte.
Er sah sich um, da er die Anwesenheit eines weiteren Menschen nicht wahrnehmen konnte. War er etwa zu früh gekommen? Er schaute auf seine Uhr, drückte einen Knopf, damit er die Zeit erkennen konnte. Nein, er war eher zu spät dran.
„Hallo“, rief er, „ich bin Bruder Michael und soll dich hier abholen.“
„Ich bin hier.“
Hinter Bruder Michael war Tomasio aus seiner Ecke hervorgekommen
„Du meine Güte, du hast mich erschreckt.“
„Du wirst mich führen?“, fragte Tomasio.
„Ja, ich bin dein Begleiter. Und ich werde dich nicht aus den Augen lassen.“
„Nicht so wie Enzo.“
„Ich kann nichts dafür, ehrlich, es war nur meine Aufgabe ihn für das Leben hier vorzubereiten. Ich konnte doch nicht ahnen, dass …“
„Schon gut, keiner macht dir Vorwürfe und ich schon gar nicht. Wir haben alle unser Paket zu tragen.“
„Ich habe dir hier etwas zum Anziehen mitgebracht, es ist kalt draußen.“
„Es ist draußen noch kälter?“
„Ich habe vergessen, wie angenehm ihr es da unten habt.“
„Warst du schon einmal unten? Haben sie dich wirklich hereingelassen?“
„Nein, bis zum Zentrum durfte ich nie. Weiter als bis zum Versorgungsgang ist noch nie jemand aus der Sonnenwelt gekommen.“
„Was bedeutet das überhaupt: Sonnenwelt?“
„Das wirst du morgen erfahren. Jetzt zieh dich um, sonst erfrierst du, wenn wir die Kapelle gleich verlassen. Es hat angefangen zu schneien.“
Bruder Michael bückte sich, zog den Reißverschluss der Tasche auf und reichte Tomasio eine Hose und einen warmen Pullover.
„Was ist das: schneien?“
„Das wirst du jeden Moment erfahren. Also mach schon, mir ist kalt.“