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Kapitel 11: Wissen
ОглавлениеLangsam wurde es Zeit, dass Bruder Michael kam, denn Tomasio verspürte den Drang, der Natur nachzugeben. Und hier in dem Zimmer würde er das sicher nicht tun. In der Höhle hatten sie einen Ort für derlei menschliche Bedürfnisse. Ein leichter Wasserfall spülte danach hinweg, was den Körper zuvor verlassen hatte. Aber hier sah er kein Wasser die Wände herunter gleiten und er war sich sicher, dass es einen anderen Raum dafür geben musste.
Das Klopfen an seiner Tür erschreckte Tomasio und er zuckte zusammen. Er wäre unendlich froh darüber gewesen, wenn diese ständigen Verunsicherungen ein Ende gehabt hätten. Er fühlte sich bisher immer stark und in seinem Alter sogar ein wenig weise, auch wenn er wusste, dass er im Gegensatz zum Rat verdammt jung und unerfahren war.
Aber durch seine Ausbildung hatte er doch den Eindruck gewonnen, etwas Besonders zu sein, mehr zu wissen und zu können, als all die anderen Bewohner der Höhle.
Die Tür wurde geöffnet und Bruder Michael steckte seinen Kopf hindurch.
„Bist du bereit zu lernen?“, fragte er.
Tomasio war aufgesprungen und stellte fest, dass Bruder Michael einen Kopf kleiner war als er. Das war ihm in der nächtlichen Dunkelheit nicht aufgefallen und er hatte keine Zeit gehabt, darauf zu achten.
Bruder Michael zeigte ihm einen Raum, in dem er „sich frisch machen“ konnte, wie er sagte. Tomasio verstand zwar nicht, was er damit sagen wollte, wusste es jedoch in dem Moment, als Bruder Michael ihm die Benutzung der Toilette und den Gebrauch des Wasserhahns in der Dusche erklärte. Dann ließ er ihn allein.
Vorsichtig betrat Tomasio, nachdem er verwundert den Knopf für die Spülung der Toilette gedrückt – völlig beeindruckt von dem Schauspiel – und sich dann ausgezogen hatte, die Duschkabine und ließ Wasser aus dem Duschkopf laufen. Obwohl er es durchaus kannte, sich unter Wasserfälle zu stellen und sich zu waschen, war dies doch etwas vollkommen anderes. Zögerlich steckte er den Kopf unter den Strahl und war angenehm überrascht von der wohltuenden Wärme, die sich über seinen Körper ergoss.
Auch warmes Wasser war ihm nicht fremd, denn der See, den sie zum Waschen nutzten, war angenehm temperiert, aber eben nicht heiß. Seine Muskeln entspannten sich unter der wohltuenden Wärme. Er schloss die Augen und spürte, wie der Strahl des Wassers seine Kopfhaut traf. Mit den Füßen patschte er im Becken wie ein kleines Kind. Seine Arme hingen schlaff und reglos an ihm herunter.
Dieses Gefühl war angenehm, er hätte für immer darunter verweilen können. Er riss sich mit Macht aus dieser Entspannung und sah sich nach einem Stück Seife um, das er nicht finden konnte. An der Wand hing ein kleines Regal aus glänzendem Material. Dünne Stäbe waren zu einer Art Korb geformt worden. In ihm standen mehrere Gefäße in bunten Farben.
Tomasio griff sich eine und öffnete sie beherzt. Verwundert, wie leicht das Material war und wie warm es sich anfühlte. Unwillkürlich führte er es zu seiner Nase und roch daran. Ein süßlicher Duft strömte ihm entgegen, sodass er ruckartig seinen Kopf zurückzog. Etwas angewidert sah er das Gefäß an. Damit sollte er sich nun waschen?
Er vertraute auf das, was ihm Bruder Michael gesagt hatte und schüttete sich etwas davon in eine Hand. Eine durchsichtige und doch sehr zähe Flüssigkeit ergoss sich. Der Duft wurde intensiver und verstärkte sich nochmals, als er seine Hand über den Körper gleiten ließ. Wild schäumte die Flüssigkeit auf und floss an seiner Haut hinunter.
Dieser Geruch war ihm unangenehm und er spülte schnell alles mit einem Strahl Wasser ab. Danach fühlte er sich wohler und vor allem erfrischt. Er stieg aus der Duschkabine und griff nach einem Handtuch, dass so unglaublich weich war, als hätte man sich damit zudecken sollen. Die Laken, die er aus der Höhle kannte, um sich abzutrocknen, waren hart und rubbelten teilweise schmerzhaft über die Haut. Als Kind hatte er die Waschrituale gehasst, weil er hinterher über Stunden rot war.
Im Badezimmer war es warm und der Spiegel war von Feuchtigkeit beschlagen. Auch das kannte Tomasio bisher nicht. Derart extrem hohe Luftfeuchtigkeit gab es nicht. Außerdem gab es keine Spiegel. Dennoch kannte er sein Abbild aus den tiefen Seen, die so glatt waren, dass sich alles in ihnen reflektierte. Als Kind hatte es Tomasio wahnsinnig fasziniert, am Ufer einer der Seen zu knien und in sein Spiegelbild zu schauen, das genauso aussah wie Enzo. Mit dem Finger tippte er auf die Wasseroberfläche, das Bild verschwamm und wurde immer größer, bis sich die Oberfläche wieder beruhigte und er sich ansehen konnte.
Langsam verschwand der Dunst und der Spiegel gab sein Bild wieder. Nackt wie er war, tippte er mit dem Finger gegen das Glas und erwartete, dass sich sein Körper dadurch bewegte. Aber nichts geschah. Er konnte sich noch immer ansehen, so wie er war und wie er sich noch nie zuvor gesehen hatte.
Ein großer Mann stand vor ihm, dessen Knochen mit nichts weiter überzogen waren als Muskeln und darüber Haut, die unglaublich weiß war. Die helle Wand, vor der er stand, schien ihn verschlucken zu wollen. Er rückte etwas näher an den Spiegel, um genauer in sein Gesicht zu blicken, was er in dieser Perspektive ebenfalls noch nie gesehen hatte.
Mit einer Hand fuhr er sich über sein Gesicht und spürte den leichten Bartwuchs, den man aber nicht erkennen konnte, da die Stoppeln viel zu hell dafür waren. In seinem Gesicht konnte er keine einzige Falte erkennen, nicht so wie bei den alten Menschen in der Höhle. Noch nie zuvor hatte er sich darüber Gedanken gemacht und nahm an, dass alle erwachsenen Menschen so aussehen würden.
Nun war er überrascht über sein geradezu jugendliches Aussehen. Hätte sein Körper nicht die Form eines ausgewachsenen Mannes dargestellt, er hätte sich noch mehr gefühlt wie das kleine Kind, das einfach nichts wusste.
Nachdem er sich angezogen hatte – diese merkwürdige Hose, die viel zu eng an seinem Körper klebte, dafür einen dicken Pullover, der ihn wohlig einhüllte – ging er die Treppe hinunter, so wie Bruder Michael es ihm gesagt hatte. Angenehme Wärme kam ihm entgegen. Er fror bisher nicht, nun bemerkte er, dass es in der oberen Etage deutlich kühler gewesen war. Ein angenehmes Aroma schlug ihm entgegen, von dem er nicht wusste, was es hätte sein können. Langsam wurde er geradezu müde von seinem Unwissen. Entweder Bruder Michael würde ihn noch vor dem Frühstück einweisen, oder er würde sich wieder in dieses kuschelige Bett legen und einfach schlafen.
„Da bist du ja“, empfing ihn Bruder Michael und eine Frau war neben ihn getreten. „Das ist Greta.“
Für einen Ordensbruder sah Bruder Michael relativ weltlich aus, auch wenn Tomasio nicht wusste, wie ein Mönch gekleidet war. Dennoch nahm er an, dass ein Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft eine Art Uniform tragen sollte, so wie der Rat der Farletti grundsätzlich diese reich bestickten Gewänder trug.
Bruder Michael konnte man nicht ansehen, was seine Aufgabe war. Tomasio sah, dass er eine ähnliche Hose trug wie er selbst und ebenso einen dicken Pullover. Der Rollkragen schmeichelte weniger seinem Aussehen, denn er unterstrich sein fülliges Gesicht, an dem man deutlich erkennen konnte, dass Bruder Michael ein Genussmensch war. Im Gegensatz dazu war seine Frau eher dünn und vor allem klein.
„Guten Tag“, sagte sie und lächelte Tomasio freundlich an.
Beide waren um den Tisch, an dem sie gestanden hatten, herum gekommen und gingen auf Tomasio zu. Im hellen Schein der Lampe konnte er erst jetzt erkennen, dass sich um Bruder Michaels Augen viele kleine Falten abzeichneten. Wenn Tomasio nicht zuvor in sein Spiegelbild geblickt hätte, es wäre ihm nicht aufgefallen, dass Bruder Michael einige Jahre älter war.
Tomasio blickte sich um und versuchte zu verstehen, wo er sich befand. Die Wände waren dunkel. Sie schienen aus demselben Material zu sein, wie der Boden in seinem Zimmer und der, auf dem er stand. So wie alles in der Höhle aus Stein geschaffen war, schien hier alles aus diesem Zeug, dessen Name er nicht wusste, hergestellt worden zu sein.
In den Wänden waren merkwürdige Lücken, an denen Stoff hing. Diese Art Löcher wirkten schwarz und man konnte nicht hindurch sehen. Es sah gemütlich aus, zumal der Stoff bunt war, anders als die Gewänder der Farletti, aber doch schön.
Immer noch freundlich lächelnd verschwand Greta aus dem Zimmer und meinte, sie würde in der Küche nach dem Rechten sehen.
„Ich muss jetzt sofort dein Wissen haben“, sagte Tomasio.
„Möchtest du nicht vorher einen Kaffee trinken und etwas essen?“
„Ich habe keine Ahnung was Kaffee ist und ich halte es nicht länger aus, nichts zu wissen. Das macht mich noch verrückt. Ich kenne für das Meiste, was ich hier sehe, keine Worte. So wie für das, was ich fühle. Und das beunruhigt mich sehr.“
„Gut, wir gehen in mein Arbeitszimmer“, sagte Bruder Michael und zog Tomasio am Arm hinter sich her.
Das Arbeitszimmer, wie Bruder Michael es genannt hatte, sah beinahe genauso aus, wie der andere Raum, aus dem sie gerade gekommen waren. Die Einrichtung war ähnlich. An der Wand stand etwas, das so aussah, als könnte man darauf sitzen. Vielleicht war es auch ein Nachtlager, so wie das, worin er geschlafen hatte, allerdings ohne dass Decken darauf lagen.
Bruder Michael forderte Tomasio auf, sich zu setzen.
„Bist du bereit?“, fragte Bruder Michael.
„Ich bin geboren worden, um bereit zu sein. Ich weiß nur leider überhaupt nicht wofür.“
„Es wird dein Leben verändern.“
„So wie das von Enzo?“
„Ja, ich hoffe nur, ich mache es bei dir besser.“
„Kann man denn etwas falsch dabei machen?“
„Offensichtlich. Enzo hat es ausgereicht.“
„Es wird nichts nützen, ich muss es tun und ich muss jetzt alles wissen.“
Tomasio zog aus der Tasche seiner Hose einen Stein, der nur so groß war, dass er in die Innenfläche seiner Hand passte, und streckte ihn wie eine Trophäe in die Luft. Bruder Michael setzte sich neben ihn, den Ärmel seines Pullovers bereits nach oben geschoben. Man konnte ihm ansehen, wie unwohl er sich fühlte und dass er dieses Ritual nicht noch einmal über sich ergehen lassen wollte.
Aber so wie Tomasio wusste, was seine Pflicht war, so konnte sich auch Bruder Michael dem nicht entziehen. Es war seine Aufgabe und er war sein ganzes Leben ebenso darauf vorbereitet worden, wie die Farletti, nur mit dem Unterschied, dass er ein gewöhnlicher Mensch war.
Tomasio sah den Stein in seiner Hand an und umschloss ihn vollkommen mit seinen Fingern. Kaum hatte er das getan, begann der Stein zu leuchten. Die Strahlen drangen durch die Lücken seiner Faust und seine gesamte Hand schien zu strahlen. Er schloss seine Augen und griff mit der anderen Hand nach Bruder Michael.
Der zuckte zusammen, als ihn Tomasio berührte und fing an, leicht zu stöhnen. Auch er schloss seine Augen. Zu schmerzlich würde das alles sein, was er gleich erleben würde und doch hoffte er, dass Tomasio gnädiger mit ihm sein würde als Enzo.