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4. Rechtsbildung durch die Prätoren, insb. Formularprozess
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Der weitaus wichtigste Teil der Rechtsfortbildung in der Zeit der Republik wurde durch die Prätoren (Rn. 80) kraft ihrer Amtsgewalt (iurisdictio) bewirkt. Da sie immer nur für ein Jahr in ihr Amt gewählt waren, ließen sie sich sicher auch von rechtskundigen Männern beraten.
Anfangs geschah die Rechtsfortbildung offenbar in der Weise, dass die Prätoren den Richtern Prozesse zur Entscheidung überwiesen, obwohl der Sachverhalt von den in iure vor dem Prätor durch die Parteien aufgesagten Klagformeln (legis actiones) gar nicht gedeckt war, so im Falle der abgeschnittenen Weinreben (Rn. 115).
Dann aber erteilten die Prätoren – wohl zuerst in Verfahren mit Nichtrömern – den Parteien auf Grund des freien Sachvortrags schriftliche Klageformeln (formulae), ohne dass es des Aufsagens einer legis actio bedurfte. Im Rahmen dieser Anweisungen hatte dann der Richter (iudex) den Prozess zu entscheiden. Die lex Aebutia erkannte dieses Formularverfahren Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. dann auch unter römischen Bürgern als ziviles Verfahren an, was die allmähliche Zurückdrängung der Legisaktionen bewirkte. Abgeschafft wurde das ältere Verfahren aber erst unter Augustus (Rn. 140).
Ähnlich wie die Prätoren wirkten die kurulischen Ädile (und in den Provinzen die Statthalter) in ihrem Amtsbereich, also auf dem Markt, wo es um das Kaufrecht ging.
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Die von den einzelnen Prätoren (oder ihren Mitarbeitern) erfundenen Formeln wurden am Beginn des jeweiligen Amtsjahres als edictum auf weißen Holztafeln (album) publiziert. Dadurch konnte man sich informieren, welche Klagen und Einreden der Prätor anerkannte. Eine lex Cornelia de iurisdictione (67 v. Chr.) stellte klar, dass der Prätor den in seinem Edikt verheißenen Rechtsschutz im Einzelfall nicht verweigern durfte. Weitere Neubildungen waren aber möglich.
Die Nachfolger im Amt übernahmen die bewährten Formeln ihrer Vorgänger in ihr eigenes Edikt (edictum tralaticium, überliefertes Edikt). Auf diese Weise entstand allmählich eine eigene Rechtsmasse, das ius praetorium, also das prätorische oder auch Amtsrecht (ius honorarium):
Papinian Dig. 1, 1, 7, 1:
Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam.
Übersetzung:
Prätorisches Recht ist das, was die Prätoren eingeführt haben, um das Zivilrecht zu unterstützen, zu ergänzen oder zu korrigieren im Interesse des öffentlichen Wohls.
Diese Form der Rechtsfortbildung endete erst in hochklassischer Zeit (Rn. 155). Das prätorische Edikt ist (ebensowenig wie die übrigen Edikte) im Ganzen überliefert. Die moderne Wissenschaft hat versucht, es aus wörtlichen oder sinngemäßen Zitaten in der späteren Rechtsliteratur zu rekonstruieren. Die letzte und anerkanntermaßen beste Rekonstruktion ist die von Otto Lenel.[15]
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Auch inhaltlich ergab sich das Bedürfnis für die prätorische Rechtsbildung wohl zuerst im Hinblick auf den Rechtsverkehr mit und unter Fremden (peregrini). Das römische Zivilrecht war ja auf römische Bürger und Latini, Inhaber des commercium sowie des connubium (Rn. 42) beschränkt. Fremde hatten zwar grundsätzlich ihr eigenes Heimatrecht. Die Römer gingen jedoch nicht den Weg moderner Rechtsordnungen, die sog. Kollisionsnormen schaffen, um die jeweils anwendbare Rechtsordnung zu bestimmen (sog. internationales Privatrecht, IPR, Rn. 395). Vielmehr entwickelten sie neben dem (alten) ius civile eine Anzahl römischer Rechtssätze, die von den römischen Gerichten auf den Verkehr zunächst zwischen Römern einerseits und Nichtrömern andererseits, bzw. Nichtrömern untereinander, aber schließlich auch zwischen Römern angewendet wurden. Man nennt ihre Gesamtheit das ius gentium (nicht zu verwechseln mit dem modernen Völkerrecht). Außerrömisches Recht haben die Römer nur ausnahmsweise anerkannt, z. B. die chirographa und syngraphae, griechische Schuldurkunden.
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Besondere Bedeutung haben die aus dem Bereich des ius gentium stammenden Konsensualverträge. Das sind Verträge, die ohne weitere Formerfordernisse allein durch geäußerte Willensübereinstimmung (consensus) zustande kommen. Für uns heute ist der Grundsatz der Formfreiheit eine Selbstverständlichkeit. Er ist jedoch erst das Ergebnis einer sehr langen Entwicklung, die hier ihren Anfang nahm.
Nach römischem Recht gehörten zu den Konsensualverträgen emptio venditio (Kauf), locatio conductio (Rn. 131), societas (Gesellschaft) und mandatum (Auftrag). Im klassischen Recht erscheinen die Konsensualkontrakte dann als Bestandteil des Zivilrechts.
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Im Sachenrecht tritt die rei vindicatio (dingliche Herausgabeklage) an die Stelle der legis actio sacramento in rem. Ihre Formel lautete:
Titius iudex esto. Si paret fundum Cornelianum (hominem Stichum) qua de re agitur, ex iure Quiritium Auli Agerii esse, neque ea res Aulo Agerio arbitrio iudicis restituetur, quanti ea res erit, tantam pecuniam iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass das Cornelianische Grundstück (der Sklave Stichus), worum es sich handelt, nach quiritischem Recht dem Aulus Agerius gehört, wenn diese Sache nicht dem Aulus Agerius nach dem Schiedsspruch des Richters zurückerstattet wird, wieviel die Angelegenheit (wert) sein wird, zu soviel Geld soll der Richter den Numerius Negidius an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Zuerst wurde ein Richter bestimmt, an den die Sache im zweiten Abschnitt des Verfahrens überwiesen wurde. Aulus Agerius (A.A.) war ein Blankettname für den Kläger (wörtlich: der reiche Kläger), Numerius Negidius („der zahlen soll und sich weigert“) einer für den Beklagten. An diese Stellen wurden die Namen der tatsächlichen Prozessbeteiligten eingesetzt. Ebenso wurde das Grundstück oder die begehrte Sache bezeichnet, um die geklagt wurde. Der Richter musste dann aufgrund der vorgelegten Beweise feststellen, ob die Sache tatsächlich dem Kläger gehörte. War dies der Fall, erhielt der Beklagte die Chance, sie an den Kläger herauszugeben. Tat er dies nicht, so kam es zur Verurteilung in Geld, auch im dinglichen Prozess. Konnte der Kläger hingegen sein Eigentum nicht nachweisen, wurde die Klage abgewiesen.
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Die Verurteilung zu einer Geldzahlung ist der Grundsatz des römischen Zivilprozesses: omnis condemnatio pecuniaria est (jede Verurteilung geht auf Geld). Seinen Ursprung dürfte er in der Ablösung der persönlichen Rache durch Sühneleistungen in Geld haben (Rn. 69). Der Geschädigte bzw. seine Familie durften mit der zunehmenden Verrechtlichung nicht mehr direkt auf die Person des Schädigers zugreifen, sondern erhielten nach einem Gerichtsverfahren (nur) materiellen Ausgleich.
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Die Vollstreckung setzte eine neuerliche Verurteilung des Beklagten aufgrund der actio iudicati voraus. Neben der Personalvollstreckung (Rn. 60) entwickelte sich die Vermögensvollstreckung (Realexekution), die grundsätzlich als Generalexekution stattfand, also in das gesamte Vermögen ging. Sie wirkte infamierend, d.h. der zahlungsunfähige Beklagte verlor seine Ehre, wurde von allen Ämtern ausgeschlossen und verlor auch die Antragsbefugnis in Prozessen. Mit anderen Worten: er war gesellschaftlich erledigt. Sein Vermögen wurde vom Prätor beschlagnahmt und es erfolgte eine öffentliche Bekanntmachung (proscriptio), durch welche andere Gläubiger aufmerksam gemacht wurden. Sie mussten innerhalb einer kurzen Frist ihre Forderungen anmelden, wollten sie diese nicht verlieren. Concursus creditorum bedeutet wörtlich das Zusammenlaufen der Gläubiger. Daher hat das Konkursrecht (Insolvenzrecht) seine Bezeichnung.
Der erfolgreiche Kläger wurde vorübergehend als Verwalter in dieses Vermögen eingewiesen (missio in bona), was den Verkauf durch Versteigerung ermöglichte. Es wurde jedoch kein fester Kaufpreis gezahlt, sondern derjenige erhielt den Zuschlag, der bereit war, den Gläubigern die höchste Quote zu zahlen.
Die Vollstreckung in einzelne Vermögensgegenstände (Spezialexekution) war zunächst die Ausnahme. Erst nachklassisch entwickelte sie sich zum Regelfall und ist es bis heute. Nur bei Überschuldung (Insolvenz) findet ein Konkursverfahren statt.
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Im römischen Sachenrecht gab es keinen rechtsgeschäftlichen Erwerb vom Nichtberechtigten kraft guten Glaubens wie heute gemäß §§ 932 ff BGB für bewegliche Sachen und nach § 892 BGB für Grundstücke. Dafür spielte die Ersitzung (usucapio) fremder Sachen eine wesentlich größere Rolle als heute. Wenn jemand eine fremde Sache über eine längere Zeit wie ein Eigentümer hatte, erschien es den Römern sinnvoll, die scheinbare Rechtslage mit der tatsächlichen wieder zusammen zu führen. Unser sofortiger gutgläubiger Erwerb – der den Erwerber stärker schützt, als den (ehemaligen) Eigentümer, der sein Eigentum verliert – stammt hingegen aus dem germanischen oder mittelalterlichen deutschen Recht (Rn. 414).
Die Ersitzung nach römischem Recht dauerte ein Jahr bei beweglichen Sachen (Mobilien) und zwei Jahre bei Grundstücken (Immobilien). Gestohlene Sachen waren von alters her von der Ersitzung ausgenommen. Funktional entspricht dem heute § 935 BGB: auch der gutgläubige Erwerb ist ausgeschlossen, wenn die Sache abhanden gekommen war.
Hatte beispielsweise ein ahnungsloser Käufer vom Nichteigentümer eine Sache gekauft und war daher die Übereignung unwirksam, so musste der Käufer zwar auf die rei vindicatio des Eigentümers (Rn. 121) diesem die Sache heraus geben. Gegenüber Dritten aber schützten die Prätoren den Besitzer während der Ersitzungszeit mit einer besonderen actio Publiciana:
Titius iudex esto. Si quem hominem Aulus Agerius bona fide emit et is ei traditus est, anno possedisset, tum si cum hominem eius ex iure Quiritium esse oportoret, si is homo Aulo Agerio arbitrio iudicis non restituetur, quanti ea res erit, tantam pecuniam iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn A.A. diesen Sklaven in gutem Glauben gekauft hat und er ihm übergeben worden ist, wenn er ihn ein Jahr besessen hätte (und) dann dieser Sklave nach quiritischem Recht ihm gehören würde, wenn dieser Sklave dem A.A. nach dem Schiedsspruch des Richters nicht zurückerstattet wird, zu soviel Geld soll der Richter den N.N. an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Im Laufe der Zeit bildeten sich für diesen Erwerb vom Nichtberechtigten aufgrund von Ersitzung (usucapio) die folgenden Voraussetzungen heraus: res habilis (ersitzbare, d.h. nicht „gestohlene“ Sache), titulus (Rechtsgrund für den Erwerb, z. B. ein Kaufvertrag), fides (guter Glaube), possessio (Besitz). Mit Ablauf des tempus (der Ersitzungszeit) wurde der Erwerber, wenn des commercium teilhaftig, zivilrechtlicher Eigentümer (Eigentümer nach quiritischem Recht).
Ein weiterer Fall der Anwendung der actio Publiciana war der, dass dem Erwerber eine res mancipi (Rn. 67 f) nicht manzipiert, sondern nur formlos übergeben worden war. Auch hier wurde der Erwerber zivilrechtlicher Eigentümer nach Ablauf der Ersitzungszeit. Vorher war er durch die actio Publiciana gegenüber allen Dritten, die ihm die Sache wegnahmen, geschützt. Man spricht hier von prätorischem Eigentum, d.h. nach ius civile war man zwar noch nicht Eigentümer, erhielt aber dennoch Rechtsschutz nach dem Recht der Prätoren.
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Verlangte der Verkäufer selbst nach formloser Übergabe (traditio) einer res mancipi an den Erwerber die Sache heraus, so gewährte der Prätor dem Erwerber-Käufer eine exceptio rei venditae et traditae (Einrede der verkauften und übergebenen Sache). Mit ihrer Hilfe konnte der Käufer die Klage des Veräußerers, also die rei vindicatio, abwehren, obwohl der Verkäufer nach Zivilrecht noch Eigentümer war und ihm diese Klage theoretisch zustand. Zu einer solchen Konstellation konnte es etwa kommen, wenn der Käufer den Kaufpreis nicht bezahlt hatte und der Verkäufer „seine“ Sache zurück haben wollte. Die Einrede wurde folgendermaßen in die rei vindicatio des Verkäufers eingefügt:
Titius iudex esto. Si paret equum, qua de re agitur, Auli Agerii esse ex iure Quiritium, si non eum equum Aulus Agerius Numerio Negidio vendidit et tradidit, neque ea res Aulo Agerio arbitrio iudicis restituetur, quanti ea res erit, tantam pecuniam iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass das Pferd, worum es sich handelt, dem A.A. nach quiritischem Recht gehört, wenn nicht A.A. dieses Pferd dem N.N. verkauft und übergeben hat, und wenn diese Sache nicht dem A.A. nach dem Schiedsspruch des Richters zurückerstattet wird, wieviel diese Angelegenheit wert sein wird, zu soviel Geld soll der Richter den N.N. an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Die exceptio war eine Anweisung an den iudex, den Beklagten unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu verurteilen (Ausnahme vom Kondemnationsbefehl).
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Aufgrund formloser traditio war der Erwerber einer res mancipi nach prätorischem Recht praktisch wie ein ziviler Eigentümer geschützt. Damit wurde die aufwendige, förmliche mancipatio (Rn. 68) bereits in der klassichen Zeit an sich überflüssig, verlor in der Praxis jedenfalls stark an Bedeutung. Trotzdem blieb sie als Rechtsgeschäft noch bis in die spätklassische Zeit hinein üblich, allerdings nur beurkundet, nicht mehr wirklich vollzogen. In dogmatischer Hinsicht wandelte sich mit dem Aufkommen des Konsensualkaufs (Rn. 120) ihre Funktion von der eines formellen Barkaufs, der Grund- und Erfüllungsgeschäft in sich vereinigte, zu der eines abstrakten Übereignungsgeschäfts, das der Erfüllung aller möglicher Grundgeschäfte dienen konnte. Hier liegt eine der Wurzeln unseres sog. Abstraktionsprinzips.
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Weite Bereiche des zivilen Schuldrechts deckte die actio certae creditae pecuniae (condictio certae creditae pecuniae) ab, die Kondiktion (Rn. 56) im Formularverfahren, wörtlich: Klage auf einen bestimmten „kreditierten“ Geldbetrag (creditum von credere = anvertrauen, glauben):
Titius iudex esto. Si paret Numerium Negidium Aulo Agerio sestertium decem milia dare oportere, iudex Numerium Negidium Aulo Agerio sestertium decem milia condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass Numerius Negidius dem Aulus Agerius 10 000 Sesterzen (aufgrund des römischen Zivilrechts) geben muss, soll der Richter den N.N. an A.A. zu 10 000 Sesterzen verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Dare oportere als Verpflichtung des Beklagten ist ein technisch zu verstehender Ausdruck für das Schulden aus einem zivilrechtlichen Grunde, insbesondere aus Schuldversprechen (stipulatio, Rn. 72), Darlehen (mutuum) oder Übereignung (datio) ohne Rechtsgrund. Auch aus Verbrauch (consumptio) einer fremden Sache – die der ehemalige Eigentümer ja nun nicht mehr mit der rei vindicatio (Rn. 121) heraus verlangen konnte – stand ihm stattdessen die condictio zu (vgl. Rn. 379 f).
Die Anfänge einer Haftung wegen ungerechtfertigter Bereicherung gehen weit in die Zeit der uneingeschränkten Herrschaft des Legisaktionenprozesses (Rn. 56 ff) zurück. Allerdings ging diese Klage nicht wie heute, § 818 III BGB – auf die Herausgabe der noch vorhandenen Bereicherung, sondern grundsätzlich auf das Erlangte.[16] Einzelheiten sind nicht überliefert, aber der Ausgangstatbestand war wohl der, dass jemand quiritisches Eigentum ohne einen rechtfertigenden Grund erlangte. Durch datio erfolgte also eine wirksame, aber hinsichtlich des Behaltendürfens rechtsgrundlose Übereignung. Der Erwerber war dann auf Grund der legis actio per condictionem – kurz condictio – zur Rückerstattung gehalten.
Der Darlehensnehmer hingegen hatte nur einen zeitlich begrenzten Grund, das ihm übereignete Geld zu behalten, und war nach Ablauf der Darlehensfrist ebenfalls mit der condictio in Anspruch zu nehmen. Das mutuum ist im Übrigen ein sog. Realkontrakt, also ein Vertrag, für dessen wirksame Bindung die Hingabe einer Sache (res) nötig war. Als weitere Realverträge nennen die nachklassischen Quellen[17] commodatum (Leihe), depositum (Verwahrung) und pignus (Verpfändung). Die ebenfalls mit condictio klagbare Stipulation (vgl. auch Rn. 72) eines bestimmten Leistungsgegenstandes (certum) hingegen war ein Verbalvertrag, weil sie durch Worte (verba) zustande kam.
Das Besondere an der condictio ist nun ihre Abstraktheit, d.h. sie nennt – anders als alle anderen zivilrechtlichen Klagen – den ihr zugrunde liegenden konkreten Grund nicht. Der Richter musste die möglichen zivilrechtlichen Schuldgründe kennen, um über den Vortrag bzw. Beweis der Parteien entscheiden zu können. Die Klage enthielt auch – anders als beispielsweise die Klage aus Kauf (Rn. 131) – keinen Hinweis darauf, dass der Richter bei seiner Entscheidung das Prinzip von Treu und Glauben (heute § 242 BGB) beachten sollte. In das ursprünglich so strenge, formale, römische Recht ist dieses generelle Prinzip erst verhältnismäßig spät aufgenommen worden.
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Cicero berichtet anschaulich anhand eines praktischen Falles, sein Kollege C. Aquilius Gallus (wohl als Prätor im Gerichtshof gegen Wahlbestechungen) habe die doli formulae (Formeln wegen Arglist) aufgebracht.[18] Dazu ist die exceptio doli (Einrede der Arglist) zu zählen, hier eingefügt in eine actio certae creditae pecuniae:
Titius iudex esto. Si paret N.N. A.A. sestertium decem milia dare oportere, si in ea res nihil dolo malo Auli Agerii factum sit neque fiat, iudex N.N. A.A. sestertium decem milia condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass N.N. dem A.A. 10 000 Sesterzen geben muss, wenn in dieser Angelegenheit nichts auf Grund böser List des A.A. geschehen ist oder geschieht, soll der Richter N.N. zur Zahlung von 10000 Sesterzen an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Eine Einrede – deren Voraussetzungen nicht vorliegen dürfen, damit die Klage erfolgreich ist – wurde vom Prätor im konkreten Einzelfall zum Schutz des Beklagten (vor einer ungerechten Verurteilung) in die Formel eingefügt. Hatte also beispielsweise der klagende Agerius den beklagten Negidius durch Täuschung zur Abgabe einer Stipulation veranlasst oder klagte er, obwohl der Stipulation ein Rechtsgrund fehlt, so wies der iudex (Richter im zweiten Verfahrensabschnitt, Rn. 55) die Klage ab.
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Eine andere häufige Einrede war die exceptio pacti (Einrede wegen einer Nebenabrede), hier wiederum in die abstrakte Klage auf eine bestimmte Geldsumme eingefügt:
Titius iudex esto. Si paret Numerium Negidium Aulo Agerio sestertium decem milia dare oportere, si inter Aulum Agerium et Numerium Negidium non convenit, ne ea pecunia intra quinquennium peteretur, iudex Numerium Negidium Aulo Agerio sestertium decem milia condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass N.N. dem A.A. 10 000 Sesterzen geben muss, wenn zwischen A.A. und N.N. nicht vereinbart worden ist, dass dieses Geld nicht innerhalb von fünf Jahren eingeklagt werden darf, soll der Richter den N.N. an A.A. zu 10 000 Sesterzen verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Beide hier aufgeführte Einreden sind in Klagen aus sog. strengrechtlichen Rechtsgeschäften (iudicia stricti iuris) eingefügt. Der Beklagte selbst musste in iure darauf achten, dass der Prätor die exceptio gewährte. Ohne exceptio konnte der iudex die Arglist oder das pactum nicht mehr berücksichtigen.
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Keiner solchen Einfügung einer exceptio doli oder pacti bedurfte es, wenn die Klagformel bereits von sich aus gebot, nach Treu und Glauben zu entscheiden. Man spricht dann von einem bonae fidei iudicium. Das bedeutete ursprünglich, dass die bloße bona fides[19] verbindlich machte und dass sich auch der genaue Inhalt der Verpflichtung daraus bestimmte. Daraus folgte, dass der Richter mehr Ermessen bei der Beurteilung des Rechtsverhältnisses hatte als bei den älteren Klagen strengen Rechts.[20] Die Klagen aus Treu und Glauben entstanden im Amtsrecht (ius honorarium) der Prätoren (Rn. 117 ff). Zu diesen iudicia gehörten vor allem die Klagen aus den Konsensualkontrakten (Rn. 120). Als Beispiel wird hier die actio empti (Kaufklage) angeführt:
Titius iudex esto. Quod Aulus Agerius de Numerio Negidio hominem Stichum emit, qua de re agitur, quidquid ob eam rem Numerium Negidium Aulo Agerio dare facere oportet ex fide bona, eius iudex Numerium Negidum Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Im Hinblick darauf, dass A.A. von N.N. den Sklaven Stichus gekauft hat, um welche Angelegenheit es sich handelt, was wegen dieser Sache N.N. dem A.A. geben oder tun muss nach guter Treue, dazu soll der Richter N.N. an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Primär ging die actio empti des Käufers auf Erfüllung des Kaufvertrages, also Übergabe des Sklaven und Gewähr für das Behaltendürfen. Aufgrund der bona-fides-Klausel in der Klageformel konnten nun auch Nebenabreden zur Erweiterung der Verpflichtung eingeklagt werden. Bei strengrechtlichen Verträgen hingegen, z. B. beim Darlehen (mutuum), konnten solche Zusatzverpflichtungen nur durch Stipulation begründet werden.
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Bemerkenswert ist ein weiterer, neben dem Kauf sehr häufig verwendeter Vertrag. Die locatio conductio umfasste im römischen Recht diejenigen Vereinbarungen, die wir heute als Dienst-, Arbeits-, Werk-, Miet- und Pachtverträge differenzieren. Der gemeinsame Gedanke war, dass ein locator etwas „hinstellte“ (von lat. locare – legen, stellen) und die faktische Verfügungsmacht darüber einräumte. Konkret war es derjenige, der eigene oder fremde Dienste anbot, die Anfertigung eines Werkes nachfragte indem er Stoff zur Verfügung stellte, oder einen Miet- oder Pachtgegenstand gab. Der conductor war hingegen derjenige, der das Hingestellte mit sich nahm (lat. conducere – mitführen), also der Dienstherr, der Werkunternehmer, der Mieter oder Pächter. Auch die beiden Klagen aus locatio conductio, also die actio locati auf (Miet-/Pacht-)Zinszahlung bzw. Leistung des Werkes oder der Dienste und die actio conducti auf Überlassung der Sache bzw. Bezahlung der Leistung sind bonae fidei iudicia.
Die locatio conductio war schon in der Antike ein Vertrag mit faktisch besonders häufig vorkommenden sozialen Problemen.[21] Diese Tatsache kann man durch die Überlegung erklären, dass wer ein Grundstück pachten oder eine Wohnung mieten muss, regelmäßig kein oder zu wenig Eigentum hat und wer sich selbst gegen Geld „verkauft“, dies in der Regel aus wirtschaftlichen Erfordernissen tut. In Rom wurde es als Zeichen von Armut und eines freien Bürgers unwürdig angesehen, wenn man seine Dienste gegen Geld anbot.[22] Ehrenhaft waren nur höhere Dienste (operae liberales), die besondere Kenntnisse erfordern oder dem öffentlichen Wohl dienen, wie Medizin, Architektur oder Unterricht.
Juristische Beratung war bei den Römern zunächst reiner Freundschaftsdienst, allenfalls unentgeltliches mandatum.[23] Das honorarium als Anerkennung (ursprünglich kein Lohn!) ist erst mit der Niederlassung griechischer, nicht vermögender Gelehrter als Gegenleistung üblich und später in der außerordentlichen, kaiserlichen Gerichtsbarkeit (extraordinaria cognitio) klagbar geworden (Rn. 157). Erst das Christentum brachte die allgemeine Wertschätzung von Arbeit (labor) in dem Sinne, dass es keine Schande ist arbeiten zu müssen.
Die mittelalterlichen Juristen (Rn. 379 ff mit Fn. 46) entwickelten die Dogmatik der locatio conductio weiter. Als Ende des 19. Jahrhunderts das BGB entstand, wurde insbesondere die – liberale oder soziale – Ausgestaltung der hier erwähnten Vertragstypen diskutiert. Auf sie bezog sich der Vorwurf Otto v. Gierkes, es fehle ein „Tropfen sozialistischen Öles“ (Rn. 734).
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Wir haben bisher drei Elemente des römischen Vertragssystems kennen gelernt: Verbalkontrakte (Rn. 72), Realkontrakte (Rn. 127), Konsensualkontrakte (Rn. 120). Das vierte Element waren die Litteralkontrakte, keine schriftlichen Verträge, sondern Schuldbegründungsakte, die sich aus der römischen Buchführung ergaben. Durch bestimmte Eintragungen in den Geschäftsbüchern entstanden offenbar „abstrakte“ Obligationen. Der spätrömische Kaiser Justinian (insb. Rn. 216 ff), der für die Überlieferung des römischen Rechts eine große Rolle gespielt hat, nahm den Litteralkontrakt nicht in seine Zusammenstellung der römischen Quellen auf, und so sind wir über ihn nur unzulänglich unterrichtet. Jedenfalls gab es im römischen Schuldrecht keine Vertragsfreiheit wie heute nach § 311 BGB. Klagbar waren grundsätzlich Verpflichtungen aus bestimmten typisierten Verträgen und diese Klagen wurden in das Edikt des Prätors aufgenommen.
Ob man jedoch von schuldrechtlichem Typenzwang sprechen sollte (wie wir ihn heute nur im Sachenrecht akzeptieren), erscheint fragwürdig.[24] Die Systematisierungsbestrebungen sind wahrscheinlich erst später aufgekommen. Jedenfalls sorgten die Prätoren mit ihrer Rechtsfortbildung dafür, dass entsprechend den praktischen Bedürfnissen anerkennenswerte Vereinbarungen auch eingeklagt werden konnten oder – sofern dies dienlicher war – daraus eine Einrede (exceptio) gewährt wurde. So gab es besondere (prätorische) Klagen gegen Schiffer (nautae) wegen des ihnen anvertrauten Gutes, gegen Bankiers (argentarii) sowie gegen Herbergs- und Stallwirte (caupones, stabularii) wegen der von den Gästen eingebrachten Sachen (Vorläufer der §§ 701 ff BGB) und auch eine Klage aus formlosem Schuldanerkenntnis (constitutum debiti). Man spricht hier von pacta praetoria.
Zusätzliche Erweiterungen der Klagemöglichkeiten folgten in klassischer Zeit in Gestalt sog. Innominatrealkontrakte (Rn. 188). Pacta legitima betrafen Schenkungen und sind spät- oder nachklassisch (Rn. 189). Vorher benutzte man die Stipulation, um ein Schenkungsversprechen klagbar zu machen. Handschenkungen hingegen, also sofort vollzogene Schenkungen, waren nach klassischem Recht formlos gültig, soweit nicht die Übereignung der Sache einer Form (mancipatio, Rn. 68) bedurfte. Diese Klagen, die alle nicht in das Vertragssystem passen, sowie im Einzelfall gewährte Klagen (actiones in factum, actiones utiles) deckten die Bedürfnisse der Praxis ab, sodass das Fehlen der Vertragsfreiheit im heutigen Sinne zu keinen Unzuträglichkeiten führte. Am besten vermeidet man unsere moderne Terminologie sogar in diesem Zusammenhang.
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Durch die Stellvertretung entsteht rechtliche Bindung zwischen einem selbst nicht Handelnden (Vertretener, Prinzipal) und einem Vertragspartner durch Einschaltung eines Vertreters. Stellvertretung wird gelegentlich als „rätselhafte Rechtsfigur“ oder „juristisches Wunder“ bezeichnet und ist keinesfalls so selbstverständlich, wie sie uns heute in den §§ 164 ff BGB entgegen tritt. Das römische Recht kannte sie grundsätzlich nicht. Vielmehr galt der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Obligationen, d.h. eine schuldrechtliche Bindung setzte grundsätzlich das persönliche Aktivwerden der beteiligten (freien) Personen voraus. Aus dem gleichen Grunde gab es auch keine Abtretung von Forderungen, sondern diese mussten zwischen dem Schuldner und dem neuen Gläubiger neu begründet werden.
Die Vorteile der Stellvertretung zeigen sich in einer arbeitsteiligen Wirtschaft. In Rom war es jedoch durch die Gewaltunterworfenen möglich, ähnliche Ergebnisse, aber mit ganz anderen rechtlichen Konstruktionen, zu erzielen.
Hauskinder und Sklaven erwarben unter gewissen Voraussetzungen Besitz und Eigentum für ihren Familienvater (pater familias) bzw. Herrn (dominus). Sie konnten ihm auch Ansprüche gegen Dritte mittels Stipulation verschaffen. Mit den sog. adiektizischen Klagen gestattete der Prätor, dass der Geschäftspartner, der mit einem Untergebenen kontrahierte, dessen Herrn, Vorgesetzten oder Vater auf das verklagte, was der Untergebene dem Partner versprochen hatte. Ob der Untergebene (auch) selbst schuldete, hing davon ab, ob er frei war. Sklaven konnten nicht rechtlich, sondern nur „natürlich“ schulden. Wirtschaftlich interessanter war in jedem Fall die Haftung des Vaters oder Herrn.
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Die adiektizischen Klagen waren die folgenden: Hatte der Gewalthaber seinem Hauskind oder Sklaven ein sog. peculium (Sondervermögen, etwa einen Gewerbebetrieb oder einen landwirtschaftlichen Hof) zur selbstständigen Bewirtschaftung überlassen, so haftete er auf Grund der actio de peculio den Vertragspartnern des Hauskindes oder Sklaven. Die actio de peculio (Klage wegen eines Sondervermögens) lautete:
Titius iudex esto. Quod Aulus Agerius apud Stichum, qui in postestate Numerii Negidii est, mensam argenteam deposuit, qua de re agitur, quidquid ob eam rem Stichum, si liber esset, ex iure Quiritium Aulo Agerio dare facere oporteret ex fide bona, eius iudex Numerium Negidium Aulo Agerio dumtaxat de peculio et si quid dolo malo Numerii Negidii factum est, quominus peculii esset, vel si quid in rem Numerii Negidii inde versum est, condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn sich herausstellt, dass A.A. dem Stichus, der in der Gewalt des N.N. ist, einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat, worum es geht, was wegen dieser Angelegenheit Stichus, wenn er frei wäre, nach quiritischem Recht dem A.A. geben oder tun müsste nach guter Treue, dazu soll der Richter den N.N. an A.A., soweit das Sondervermögen reicht, und wenn durch böse List des N.N. geschehen ist, dass etwas (daraus) dem Vermögen des N.N. zugewendet worden ist, verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Stichus ist ein üblicher Blankettname für einen römischen Sklaven. Es geht in dem konkreten Beispiel um eine actio depositi (Verwahrungsklage). Der Sklave Stichus soll für den Kläger einen silbernen Tisch verwahrt haben. Beklagter ist jedoch der (unbeteiligte) Herr des Stichus, weil der Sklave nicht verklagt werden konnte. Mittels sog. Subjektumstellung wird erreicht, dass der Herr zu dem verurteilt wird, wozu sich sein Untergebener Stichus, wäre er frei, hätte verpflichten können. Allerdings beschränkt sich die Haftung des Herrn grundsätzlich auf den Bestand des dem Sklaven zur Bewirtschaftung überlassenen Sondervermögen (peculium). Manche Sklaven führten mittels dieses Sondervermögens selbstständig Geschäfte. Das peculium gehörte zwar formal dem Herren, haftete aber den Geschäftspartnern.
Bei selbstständiger Betriebsführung einer Gastwirtschaft oder eines Ladens durch einen institor wurde die actio institoria gewährt. Jünger war die actio quod iussu (Klage wegen Ermächtigung) auf Grund einer Ermächtigung (iussum) zur Vornahme eines Einzelgeschäfts. Sie wurde zunächst nur bei Ermächtigung von Hauskindern erteilt, in spätklassischer Zeit auch bei der von Vermögensverwaltern (Prokuratoren) welche typischerweise Freigelassene waren. Und mit der actio exercitoria (Reederklage) klagte der Vertragspartner eines Schiffskapitäns gegen den Reeder. Der Spätklassiker Papinian dehnte dann die Haftung des Geschäftsherren auch auf Freie aus (Rn. 170) und legte damit die Grundlage für die Entwicklung der modernen Stellvertretung.