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Kapitel 4

Gleicher Tag / Eckernförde

Erinnerungen von Inge Viett

Auf einem kleinen Kutter nahe der Küste bei Eckernförde standen wir mit unseren Fahrrädern und schleckten Eis, das er eben für uns gekauft hatte. Wir waren in zwei Stunden von Arnis nach Eckernförde mit den Fahrrädern gefahren und hatten dann eine Gelegenheit mit dem Boot nach Kiel gefunden. Von dort aus würden wir zügig nach Schönberg kommen. Der Kapitän schloss auch nicht aus, für uns die Kieler Bucht zu kreuzen und auf der anderen Seite bei Laboe anzulegen, dann hätten wir nur noch einige Kilometer zu fahren. Ich war immer noch wie verzaubert.

„Was machst du denn so?“, frage ich. Bisher hatten wir nur über Alltägliches geredet, über die Landschaft oder über die Kindheit, nicht aber über ernstere oder tiefergehende Fragen. „Ik‘ bin Berliner und studiere an da Humboldt Uni, ne!“ schlackste Ralf. Ich lachte. „Ne wirklich jetzt, red‘ kein Stuss! Was machst du so?“ Wir sahen uns immer noch dauernd an, so dass mir laufend ganz heiß war, auch da, wo keine Sonne hinkam. „Ne wirklich, ik‘ studiere an der Uni in Berlin und werde wohl dem Staat in irgendeiner krassen Sache hölfen“. Bestätigte der in astreinem Berlinerisch. Er lächelte dazu sanft, ich dagegen nicht mehr. Das Kasperletheater funktionierte nicht mehr. Was für ein Spießer, rumorte es, naja, aber Berlin war cool. „Wau! Echt heftig. Hätte ich nicht erwartet. Bist aber trotzdem ein Netter!“, gestand ich Augen zwinkernd. Was er so tat war mir eigentlich egal.

„Ja ich bin ein Netter, ehrlich…“ gab er jetzt in normalem Hochdeutsch zur Antwort. „weißt du, meine Familie besteht auf viele Dinge. Man kann sich nicht allem entziehen. Mein Weg ist derzeit recht weit gezeichnet. Aber das macht mich nicht trübsinnig. Es gibt mir Sicherheit und Gelegenheit, Reisen wie diese zu machen. Und im Osten ist halt alles nicht so einfach. Aber wir arbeiten alle hart und werden es schaffen, dass wir wieder blühende Landschaften haben. Es lebe der echte Sozialismus!“

Ralf grinste, als er das sagte, und kommentierte: „Ne aber ohne Witz, ist mir wichtig. Das wird schon bei uns da drüben! Und ich mag es dort einfach, ich liebe meine Heimat! Von ganzem Herzen.“

Ich starrte ihn an. Er konnte reden und er war intelligent; Auch wenn er Stuss laberte. Und scheinbar war er nur ein halber Spießer. Eher ein Mini-Rocker, ich war sofort verknallt. Das verwunderte mich, weil Jungs eigentlich immer Arschlöcher waren und ich eigentlich bisher eher Sex mit Frauen hatte. Ein Thema, das für mich damals aber keins war. Es war eben so,.. und jetzt war es scheinbar anders. Er war zwei Köpfe größer als ich und da ich es jetzt ernst mit ihm meinte, blickte ich wie ein hilfsbedürftiges Mädchen von unten zu ihm herauf, denn ich wollte ihn. „Was starrst Du mich so an? Nicht einverstanden?“ Plötzlich beugte er sich etwas nach vorne und drückte mir einen dicken Schmatzer auf. Dann flüsterte er: „Das war jetzt nicht geplant!“ Mehr fiel ihm nicht ein? „Ist das alles?“ fragte ich.

„Ähhhh … darfst du das überhaupt schon?“ wollte er wissen.

So ein Arschloch! Ich wurde stinksauer und rief: „Jaaa! Und …“

Er unterbrach mich, in bester Manier, in dem er mich ganz fest an sich zog, leicht anhob und mich so richtig intensiv küsste. „Das kann er auch noch!“ dachte ich. Mir wurde ganz schwindlig. Das Boot schunkelte umher und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Wie verderblich, eintönig und im Allerlei gefangen hatte der Tag, nein, mein Leben begonnen. Und wir herrlich hatte sich heute alles entwickelt!

Gleicher Tag - Erinnerungen von Ralf-Peter Devaux

Während wir eng umschlungen gemeinsam auf das offene und beruhigende Meer blickten, unterhielten wir uns über alles Mögliche. Als Kind einer ruhelosen Stadt schätzte ich das sehr. Zuhause war alles starr und konform. Ich war auf dem Weg, eine makellose, militärisch geprägte Diplomatenkarriere hinzulegen, so wie es meine Eltern von mir erwarteten und planten und hatte auch nicht wirklich etwas dagegen. Es war so, wie ich es Inge sagte: Es gab mir Freiheiten. Egal, in welche Schachtel man gesteckt wird, egal, welche Uniform man trägt, man kann im Geiste immer frei sein.

Und ich sah gar nicht ein, warum ich nicht frei sein sollte! Mein nach außen getragener Optimismus hinsichtlich der Zukunft meiner Heimat war allerdings zum großen Teil gespielt. Jeder, der etwas Einblick hatte, wusste, dass 1959 ein, mit Verlaub, miserables Jahr für die Deutsche Demokratische Republik war. Dennoch: Tief in meinem Innersten gab es einen gewissen Glauben an das, wofür wir lebten und arbeiteten. Dieser Glaube war aber nie frei von Zynismus,… und alles in allem war es natürlich der Glaube jener, die auf der Sonnenseite des Systems standen, wie ich selbst eben auch.

Ich hatte bereits die erweiterte Oberschule und den Militärdienst abgeschlossen; Das jetzt anstehende Studium würde mich noch einmal etwa drei Jahre beschäftigen. Danach wartete die Schule der Hauptverwaltung Aufklärung, Jackpot! Tatsächlich sah ich es auch nicht als ausgeschlossen an, im Kollektiv etwas Positives bewirken zu können. Was das System brauchte, waren frische Kräfte, Pragmatismus und mehr Flexibilität. Es sprach nichts gegen eine staatliche Planung, sofern sie Planauflage gut war. Fakt ist, die Leute klauen die Kartoffeln nicht, wenn es ihnen gut geht. Wenn es eine tolle Jahresendprämie gibt.

Doch die aktuelle Zukunft bereitete mir mehr sorgen:

Gerüchte von einem antifaschistischen Bollwerk, von einer Mauer, gingen um, die uns angeblich schützen sollte. Es gab ebenso Gerüchte darüber, dass die Russen Atombomben ins Land gebracht hätten.

Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen.

„Was denkst Du?“ fragte sie verträumt, weil sie gesehen hatte, wie stark ich abwesend gewesen war. Ich erzählte ihr nicht, was ich dachte. Die Kleine war süß, aber so viel Zucker hatte ich nicht erwartet. Als ich ihr begegnete, und auch danach, war sie »tough« gewesen, blies ordentlich ins Horn. Das hatte ich sofort bewundert und mich deswegen auch unmittelbar angezogen gefühlt. Aber schon nach einer Weile fühlte ich mich bereits wie in einer langjährigen Beziehung. Noch nie hatte ich im Leben jemanden aufgelesen. Wie, wann und woher auch? Es musste diese enorme Hitze gewesen sein. Anders war es nicht zu erklären. Ich fühlte mich nicht so souverän, erst recht nicht, wie ich es hätte sein können und wollen. „Weißt du Inge, die Zeit an der See ist doch immer die Schönste. Ich genieße das. Diese herrliche Luft, die kräftigen Farben und die Unbändigkeit der Natur. Und dann schaue ich gern verträumt zum Horizont und genieße den Moment … mit Dir!“ Ich lächelte sie an und wir küssten uns erneut. Sie bemerkte wohl nicht, dass ich sie gerade zum ersten Mal angelogen hatte.

Gleicher Tag - Erinnerungen Inge Viett

Wir waren an Land gegangen und nahmen die Route über Schönberg, trafen dort zwei von Ralfs Freunden. Sie waren ihm nicht unähnlich: Schlaksig, aber athletisch, hart, aber auch smart, umgänglich und in jedem Fall zu nett. Einerseits fand ich es schade, dass wir jetzt nicht mehr alleine waren, andererseits befand ich mich nun gleich in der Gesellschaft von drei Kerlen. Während wir südlich von Schönberg in Richtung Meer fuhren, quetschten Ralfs Freunde, sie hießen übrigens Rudi Dutschke und Harald Jäger, uns aus, wie es dazu kam, dass ich mit dabei war. Sie waren einigermaßen überrascht, freuten sich aber und waren zu allerlei Scherzen aufgelegt. Meine dunklen Gedanken verschwanden immer mehr. Seit sehr langer Zeit war ich nicht mehr so ausgelassen gewesen. Das Wetter war herrlich, mein neuer Geliebter küsste gut und ich war sehr begierig zu erfahren, was er sonst noch konnte. Er machte Lust darauf, es auszuprobieren, vielleicht würden wir die Nacht am Schönberger Strand verbringen.

Im Ort kauften wir auch zwei Flaschen Wein und etwas Bier. Und jeder trank direkt im Ort bereits eines der herrlich kühlen Bier. Ich war etwas angetrunken, auch weil es so heiß war und weil ich auch noch nichts gegessen hatte. Wir lachten und scherzten, während die Landschaft mit ihren weitläufigen Feldern an uns vorbeizog.

Gleicher Tag - Erinnerungen Matthias

Ich stand bis zum Bauch im kalten Wasser, bereits seit zehn Minuten, aber meine Beine bemerkten die Kälte nicht. „Gott, bist du schön, bist du liebreizend!“ Mehr dachte ich nicht. Ihre naturblonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen zusammengebunden und nachdem sie ihre Brille abgenommen hatte, strahlten mich zwei große eisblaue Augen an. Man sah ihr an, dass sie um ihr Aussehen wusste, aber sie ließ es sich so nicht anmerken. Sie war freundlich und zuvorkommend, hieß Christa und war mit einer großen Sportgruppe auf dem Campingplatz. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf das Meer und funkelten in tausend Lichtern. Sie stand vor mir wie Aphrodite persönlich, ihr schlanker, göttlicher Körper entblößt und strahlte mit der Sonne um die Wette.

Sie war mein Glücksstern!

Zum Thema Glück fielen mir sogleich ihre Begleiter ein, ich wollte sie unbedingt wiedersehen, jedoch mein Glück nicht allzu sehr herausfordern. Wie könnte es mir dennoch gelingen, dass sie mit mir einen Kaffee trinken ging? „Was habt ihr die nächsten Tage hier noch so vor?“ flüsterte ich ganz vorsichtig, um den Moment nicht zu zerstören.

„Eine Menge Sachen, unsere Trainingsgruppe ist fortlaufend mit Kursen und Aktivitäten zugekleistert“ antwortete sie kokett, während ihre Augen mich anglühten. Dann fügte sie hastig hinzu: „Wir können uns sehen, aber du musst sofort hier weg. Morgen Nachmittag beim Minigolf am Campingplatz Bonanza?“ - „Perfekt“ unterbrach ich sie hastig, „da wollten wir morgen auch hin!“ Während ich das säuselte verschwand plötzlich das Lächeln meiner Angebeteten und ihr Gesicht verzog sich.

Fragend drehte ich mich halb um, damit ich in die gleiche Richtung wie sie blicken konnte. Verdammt, die Truppe war zurück und kam zügig auf uns zu. Einer der Typen schnauzte bereits die an, die ursprünglich dageblieben waren. Offensichtlich, weil sie nicht bemerkt hatten, dass ich mit ihrer Christa im Wasser war. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich ebenfalls wahr, dass Uwe und Michael aufgesprungen waren, um den Strand herunter zu kommen. „Macht euch doch mal locker, Jungs. Freie Marktwirtschaft, oder? Keine Konkurrenz gewohnt?“ dachte ich und drehte mich lässig wieder zu Christa, die unglaublicher Weise Tränen in den Augen hatte.

„Ach herrje, was soll das denn jetzt? Sie werden mich ja nicht umbringen, oder?“ feixte ich und musste dabei innig lachen, bis ich erkannte, dass ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute war.

„… das ist ein Jux, oder?“ stöhnte ich fassungslos.

Sie wimmerte: „Hör zu, es tut mir leid, wir hätten nicht reden dürfen. Ich dachte wirklich, sie sind länger weg. Renn weg, solange du kannst. Bitte, sofort!“ und drückte dabei meine Hand. Das war töricht, denn es sah so aus, als würden wir Händchen halten. Davon zu laufen war in diesem Moment sinnlos. Ich war viel zu weit im Wasser, mein Fluchtversuch wäre sofort erkannt worden. Außerdem bräuchten sie nur etwas locker zu laufen, um mich an der Wasserlinie abzupassen.

Es sollte wohl so sein.

Ich drehte mich um und marschierte rudernd und ruhigen Schrittes im Wasser in die Richtung der Gruppe, die herangerauscht kam. Christa rief mir noch hinterher „Prügel dich nicht mit ihnen, bitte! Wir sind alle vom Bund Deutscher Jugend und bei der Abteilung Technischer Dienst dabei. Wir waren auch in Eckernförde bei den Kampfschwimmern zum Training

…sie sind einfach zu gefährlich!“

Ich hielt inne, überlegte erneut und drehte mich noch einmal zu ihr um: „Weißt du, Christa, eine so schöne Frau kennenzulernen, muss offensichtlich schmerzhaft sein. Aber trotzdem noch ein Hinweis:

In so einer Begleitung wie der deinen sollte man vielleicht besser gar niemanden ansehen.“ Ihr fiel der Kiefer herunter und der Ärger in ihren Augen stand ihr, offen gesagt, weit weniger gut. Mein Adrenalin stieg ins Unermessliche, als ich mich wieder in Richtung Strand orientierte. Meine innere Stimme versuchte mich zu beruhigen: „Erinnere dich an deine letzte Schlägerei, profitiere von deiner Schnelligkeit! Und sei keine Memme! Niemand stirbt so schnell, es gibt nur reichlich Schmerzen …“.

Ich sah, dass meine Freunde sich zum Kampf bereitmachten und auch ich war nur noch wenige Meter von den herannahenden Sportlern entfernt. Meine innere Stimme sprach weiter: »Technischer Dienst« was? »Bund Deutscher Jugend«? Was sollte das sein? Und warum sind in einem Technischen Dienst junge Männer zwischen 15 und 20? Und warum trainieren die bei der Bundeswehr, bei den Kampfschwimmern in Eckernförde?

Um die Situation zu entschärfen rief ich mit gekonnter Lässigkeit: „Hey, Jungs, tut mir leid. Ich habe nur ein kleines Schwätzchen gehalten. Ich pisse nicht in euer Revier und verzieh‘ mich auch gleich. Kein Stress also, nichts für ungut“. Ich versuchte locker, aber auch verbindlich zu wirken. Es gelang mir kaum, der Stress war mir zweifelsohne anzumerken.

Sogleich brüllte mein Gegenüber los.

Er war der Kleinste in der Gruppe, aber bei den Riesenkerlen, die er bei sich hatte, musste er sich keine Sorgen machen. Er war blond und hätte Christas Bruder sein können. Aber auch diese Schweinebacke hat kein Gramm Fett am Körper! Er legte sofort los: „Was soll das, he? Macht man sich an Mädchen anderer Leute ran, da wo du herkommst? Du verkackter Schürzenjäger? Ich würde sagen, du bist ein ganz schönes Arschloch. Ich finde wir sollten dir mal Manieren beibringen!“

Seine Stimme war fest und ohne Vibrationen. Ich konnte keine Emotionen in seinen Aussagen feststellen. Was er vorhatte, das hatte er eben vor. Und die wahren Emotionen, die den Anlass für seine Aggression gaben, betrafen nicht mich oder Christa, sondern etwas, das tief in ihm drin Teil seines Charakters war.

Meine innere Stimme erschien wieder: „Du musst dich also abreagieren. Gut. Ich werde Dir dabei helfen …“. Patsch! Gerade in dem Moment, als ich in Reichweite kam, schlug der Stöpsel, der bestimmt gut einen Kopf kleiner war als ich, mir gekonnt und blitzschnell mitten ins Gesicht. Das Adrenalin durchspülte meinen gesamten Körper. Jeder Muskel spannte sich an, die Zeit schien still zu stehen. Der Treffer war gut, aber der Schlag letztlich schwach. Genervt blickte ich auf das kleine Arschloch, auf die zwei, die neben ihm standen,… und auf den Rest dahinter. Dann holte ich aus und brach dem blonden Zwerg vom Technischen Dienst die Nase.

Gleicher Tag - Erinnerungen Uwe Dee

Michael und ich waren auf halben Weg, als die Situation im Wasser eskalierte. Erst schlug der Knirps, der in der Mitte stand und brüllte, auf Matthias ein, fast schon zeitgleich schlug Matthias zurück. Aufgrund seiner Masse und seiner Größe konnte man ihn leicht unterschätzen. Er sah gar nicht so muskulös aus. Der Zwerg hätte ihn mal besser nach seinen großen Händen bemessen sollen. Als nämlich seine riesige Faust auf den Sportler traf, platzte seine Nase. Das Blut spritzte und er taumelte zurück.

Einer der Dahinterstehenden stützte ihn irrgläubig. Alle standen für einen Moment unter Schock. Für einen Bruchteil der Sekunde konnte man denken, dass jemand den Film angehalten hätte. Dann ging alles sehr, sehr schnell. Die beiden Schränke, die am nächsten bei Matthias waren, stürzten sich auf ihn, während vier der Jungs sich am Strand auf den Weg zu uns machten. Sie waren unterschiedlicher Statur, aber keiner sah so aus, dass man mit ihm scherzen sollte. Wie von magischer Hand teilten sie sich auf und griffen uns an.

Mit den ersten Schlägen schrie die Hübsche im Wasser wie am Spieß. Auch die beiden am Strand verbliebenen Mädchen der Gruppe fingen an, wie Sirenen zu heulen. Matthias wich der ersten Faust seines zur rechten Seite stehenden Kontrahenten aus und verpasste ihm eine, was dem anderen genug Zeit gab, ihn schnell und fest zu umklammern. Der Kerl, den er getroffen hatte, erhob sich und schlug zurück.

Uns ging es viel schlechter. Kein Schlag, kein Austeilen, schon gingen wir zu Boden, obwohl wir es versucht hatten. Schon bekamen auch wir einen auf die Mütze. Es vollzog sich unerwartet schnell, aber ein schnelles Ende würde es vermutlich nicht geben. Als der Kerl im Wasser das Gesicht von Matthias zwei, drei Mal demoliert hatte und mit dem Ergebnis zufrieden war, schleppten sie sich alle an den Strand, wo die anderen Angreifer uns bereits sorgfältig am Boden in Schach hielten. Mein Kopf dröhnte von den Schlägen.

Beiläufig erkannte ich, dass die Gruppe gar nicht so homogen war, wie ich anfangs gedacht hatte. Einige schienen wesentlich älter, wenn man sie näher betrachtete. Durch ihre Sportlichkeit und ihren wahrscheinlich gesunden Lebensstil sahen sie auf den ersten Blick sehr jung aus. Jetzt war es offensichtlich, dass einige mit Sicherheit schon um die dreißig Jahre alt waren.

„Aksel, halt seine Füße fest! Wir werden ihm jetzt ein kleines Andenken verpassen“, schnaubte der Zwerg,

dem das Blut den ganzen Körper herunter lief, während er sich die Nase hielt. „Und kann mir bitte jemand etwas für meine Nase geben? Ein Handtuch vielleicht?“ fauchte er wie wild, während er weiteres Blut spuckte.

„Du Muschi heißt Aksel? Wie ist dein Nachname? Haar?“ keifte Matthias nicht unweit von mir. Mutig, aber dämlich! Auch ihm rann das Blut herab, einen Cut hatte er über dem Auge, seine Lippe war aufgesprungen und auch aus der Nase kam Blut. Angesichts des dummen Spruches nahmen sie sich Matthias noch einmal vor. Mein innere Stimme schrie: „Was soll das? Ich verstand es immer noch nicht. Sind wir Staatsfeinde? Haben wir was mit deiner Freundin gemacht? Nein! Also was soll das hier?“ Wie zum Beweis und als Antwort auf meine Fragen rammte dieser Aksel, während er ihn mit beiden Händen festhielt, den Kopf auf Matthias sein Gesicht, so dass die Nase von Matthias erneut so knackte, als würde sie in tausend Stücke brechen.

Ein Mädchen brachte heulend ein Handtuch für den Knirps, der sich säuberte und das Handtuch vor die Nase hielt. Er schnaubte wie ein spanischer Stier. Mit irrem Blick keuchte er vor sich hin. Dann ging er ein paar Schritte, um einen ziemlich großen Stein zu holen, bestimmt zehn Kilo schwer und schlenderte damit lässig zur Gruppe zurück. Das Geheule der Mädchen stieg ins Unermessliche und auch wir fingen jetzt an, wie wild zu brüllen. Matthias seine anfängliche Lässigkeit war verschwunden! Er schrie sich die Seele aus dem Leib! Panik machte sich aller Orten breit, weil jetzt klar war, dass diese Jungs hier einen Sprung in der Schüssel hatten.

So hatten die überhaupt nicht ausgesehen. Ich dachte wir raufen kurz miteinander, ich fang eine, und dann ist gut. Früher lief das so. Aber das? Das war irre! Sie brachten ihn um!

„Bist du wahnsinnig, du Arschloch?“, schrie Matthias.

Ein Auge war vom Blut zu, das andere fixierte den Knirps, der sich wie der Beelzebub über ihn beugte. Sein Blut begann auf Matthias hinab zu tropfen und auch sein zweites Auge zu ertränken. „Ich werde dir zeigen, wie wahnsinnig ich bin…!“

Genau in diesem Moment traf den Knirps selbst ein Stein am Kopf.

Er war nicht sehr groß gewesen, aber kam sehr schnell geflogen!

Und wenn er bisher dachte, dass er geblutet hätte, würde er wohl jetzt sehen, was es heißt, eine echte Kopfwunde zu haben. Er kippte um, während bereits einen Daumen dicker Strahl tiefroten Blutes aus seinem Kopf schwappte. Es herrschte Fassungslosigkeit. Nur das Schreien ging weiter.

Ich konnte erst nichts sehen und mich auch nicht drehen. Woher kam der Stein? Was war los? Dann drehten sich alle verwundert in die Richtung um, aus der der Stein geflogen kam und auch ich erkannte zu meiner großen Verwunderung ein kleines, dunkelhaariges Mädchen auf ihrem Fahrrad, das vor uns auf einer Anhöhe stand.

Keiner hatte ihr Kommen bemerkt.

Sie selbst sah gar nicht verwundert oder verunsichert aus, sondern sehr böse. Wie eine Walküre thronte sich auf dem Hügel über uns.

Stand aufrecht, bereit zu kämpfen, mit loderndem Haar.

Ich konnte meine Gedanken immer noch nicht sortieren. Es war zu bizarr, was für eine Szenerie! Wieder hatte jemand den Film angehalten. Das Entsetzen stand inzwischen auch in den Gesichtern unserer Angreifer. Was, in drei Gottes Namen, war hier los? Das hier ist doch Deutschland, oder? Eines der Mädchen der Gruppe half einer anderen, sich erneut um den blutenden Knirps zu kümmern, während der eine Typ in unglaublicher Geschwindigkeit auf das schwarzhaarige Mädchen zu raste, sie anschrie und mit allerlei Schimpfwörtern bewarf. Das Mädchen zeigte immer noch keine Angst, keine Regung … dann konnte ich auch erkennen, woran das möglicherweise lag: In diesem Moment erschienen hinter ihr drei weitere männliche Begleiter.

Gleicher Tag - Erinnerungen von Inge Viett

Ich konnte das Meer schon sehen, es trennte uns nur noch einige Hügel vom Strand. Umso mehr stieg ich in die Pedale und nahm Fahrt auf. Meine Männer brüllten hinterher und lachten, weil ich versuchte sie abzuhängen. Ich ließ mich nicht beirren, trat in die Pedale, mein Kleid wehte im Wind und entblößte immer wieder meine jungen, glatten Beine. Die Haare wurden von einer Seite zur anderen geworfen und ich selbst lachte vor Freude. So ein schöner Tag, lasst uns doch gleich noch ein Bier aufmachen!

Doch mit Bier aufmachen war nichts. Wie angewurzelt blieb ich auf der letzten Anhöhe vor dem Strand stehen, ganz ruhig, aber mein Lachen war verschwunden. Meine Augen fokussierten das Gebiet unter mir, taxierten das Umfeld und die handelnden Personen. Erst hatte ich gedacht, es wären einfach nur verschiedene Gruppen Jugendlicher am Strandabschnitt. Dann aber bemerkte ich, dass etwas im Gange war.

Es war eine große Gruppe Jungs, die sich offensichtlich von der kleineren Gruppe bedroht fühlte. Auf jeden Fall hatte der Kerl im Wasser gerade eine gefangen und auch am Strand ging jetzt eine Keilerei los.

Niemand hatte mich bemerkt, ich stand einfach ganz seelenruhig da. Der Wind wehte immer noch durch mein Haar, warf es abwechselnd nach links und rechts. Doch dazwischen stachen zwei graublaue Augen heraus, die jetzt keine Fröhlichkeit mehr kannten. So was Gemeines! So ein schöner Tag und jetzt sowas! Zu meiner Verwunderung ging das Gemetzel erst richtig los. Der Anführer war nun dabei, einen großen Stein zu holen, um den am Boden liegenden Jungen ernsthaft zu verletzen. Fiese Arschlöcher! Neun gegen drei und auch noch älter gegen jünger.

Ich beschloss ernsthaft einzugreifen.

Die Meute da unten sollte nicht glauben, dass es keine Menschen mit Moral gab, Menschen mit Wertvorstellungen. Ich war kein »Alles-ist-mir-einerlei-Häschen«. Nachdem ich einen Stein aufhoben und ihn zwei Mal in der Hand hin und her bewegte hatte, war es soweit: Der kleine blonde Zwerg am Strand unter mir hob seinerseits den großen Stein an, um diesen auf den anderen Jungen herab prasseln zu lassen!

„Na dann, mein Lieber, hier kommt deine Lektion!“ dachte ich und warf meinen Stein dem Kerl genau an den Kopf. Mit meiner Schwester hatte ich im Wald oft tagelang um die Wette geworfen. Ich konnte das.

Der Typ fiel um wie eine Schießbudenfigur. Das Blut spritzte aus seinem Gesicht und während er in den Sand stürzte, blickte er noch geschockt in meine Augen. Das Geschrei am Strand nahm rasant krassere Züge an, einer der Jungs rannte unter lautem Getöse und Geschreie auf mich zu. Ich lächelte. „Na warte, du kommst mir auch gerade recht.“

Gleicher Tag - Erinnerungen Ralf-Peter Devaux

Meine Freunde und ich unterhielten uns locker, während wir Inge hinterherradelten. Sie war weiter vorne zum Stehen gekommen, hatte das Fahrrad zwischen die Beine genommen und starrte auf den Strand. Sie wirkte plötzlich wie eingefroren und rührte sich keinen Millimeter mehr. Im nächsten Moment nahm sie einen Stein und warf ihn an den Strand. Verdutzt hörte ich viele Stimmen, allerlei Geschrei und aufgeregtes Weinen, das sich seinen Weg durch den Wind und die Brandung schlug.

Was zum Teufel ging da vor?

Ich wusste, dass ich mit der Kleinen noch böse Überraschungen erleben würde. Also trat ich in die Eisen, beschleunigte, meine Freunde hatten auch etwas gehört und sputeten sich ebenfalls. Als ich neben Inge Halt machte, erkannte ich, was vorgefallen war. Ich sah einen Kerl, der den Strand herauf kam und ins Stocken geriet, als er mich erblickte. Zu meinem Entsetzen nahm Inge bereits einen weiteren Stein zur Hand. Plötzlich war das kleine verliebte Mädchen verschwunden, vor mir stand unverhofft eine brutale Bestie. Sie kniff ihre Augen zusammen und in den Schlitzen blitzten hellblaue Feuer, absolut kalt und emotionslos. Ihr Mund war zu einem leichten Schmunzeln verzogen, das einfach nur Angst machte. Und bevor ich irgendetwas sagen oder tun konnte, holte Inge erneut aus, um den Kerl, der den Strand heraufkam, ebenfalls mit einem aufmerksamen Geschenk zu beglücken .

Zu seinem Pech hatte sich dieser auch kurz umgesehen, vermutlich, um nach Verstärkung zu rufen. Krack!

Der Stein schlug auf seinem Hinterkopf auf. Das Knacken konnte nichts Gutes bedeuten. Auch er fiel einfach um. Erschrocken drehte ich mich wieder zu Inge, die aber bereits den dritten Stein warf.

Dieser verfehlte sein Ziel, Gott sei Dank.

„Bis du verrückt?“ schrie ich sie an und schlug ihr den vierten Stein aus der Hand. Wie hatte sie den so schnell in die Hand bekommen? Sie sah mich ungläubig an, wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte. Tiefe Wut keimte in ihren Augen auf. Willkür und Hass! Wo war das Mädchen geblieben, das mich geküsst hatte? Sie war etwas anhänglich und sehr zahm gewesen, aber eben auch lieb und fröhlich. Nichts war davon mehr da.

Sie sah aus wie die dunkle Kopie ihrer selbst. „Das ist also dein Problem. Du trägst etwas in dir, eine Bestie, etwas Dunkles!“ Ich hatte schon so böse Vorahnungen, was sie anging. Ich hielt sie mit beiden Armen fest, während Rudi und Harald sich um uns scharrten.

„Was ist passiert?“, rief Rudi entsetzt. „Scheiße! Hab‘ den Jungs mal gezeigt, wie man das bei uns so macht. Miese Schweine … gehen einfach auf die Kleinen da los! Sowas macht man nicht!“ murmelte sie stoisch, während sie mit den Augen jeden am Strand abwechselnd fixierte. Ich war weiterhin fassungslos und überrascht. Ihre Ziele waren ja nobel, aber verdammt nochmal, man schmeißt doch nicht einfach mit Steinen um sich! „Hey ihr!“ rief ich der Gruppe am Strand zu „Wir gehen jetzt alle wieder getrennte Wege. Es muss nicht noch mehr geschehen an diesem Nachmittag. Ihr habt die Jungs zugerichtet, meine Begleiterin hier hat euch eine verpasst. Lasst es gut sein! Mit uns wollt ihr euch nicht anlegen.“ Ich machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Denn wir haben hier oben noch mehr Steine!“.

Natürlich flachste ich. Wie zum Beweis hob ich aber einen ziemlich dicken Stein auf, meine Kumpels ebenfalls. „Steine werfen könnt ihr, … ihr Pisser!“ schrie der Zwerg vom Strand her, wohl der Anführer der Gruppe. Jemand hatte ihn verarztet und sein freier Oberkörper war blutverschmiert. „Hey, ihr Schweine, wir werden euch fertigmachen!“ brüllte er weiter und meinte es fürchterlich ernst. Wir stellten uns auf mehr ein, aber es war seine Gruppe, die sich etwas ungläubig zu ihm umdrehte.

Sie waren wohl nicht ganz seiner Meinung.

Einer der Älteren, der einen der Jungs am Boden in Schach hielt, kommentierte sehr leise: „Hans-Peter, lass es gut sein! Du weißt doch sowieso, was Christas Vater hiervon halten würde, oder? Und du hattest deinen Spaß, also lass uns verschwinden, sofort! Ich sage dir eindringlich: Das hier ist nicht gerne gesehen. Wir wollen nicht auffallen!“ Er sah diesen Knirps, der offensichtlich auch noch Hans-Peter hieß, dabei sehr eindringlich an.

Es hörte sich eigentlich wie ein Befehl an.

Dieser Hans-Peter stand da, ein Handtuch an seinem Kopf, mit getrocknetem und frischem Blut an seinem Körper. Er atmete schwer, rang nach Luft und seine Augen loderten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie es ganz sicher zu Ende gebracht. Aber sie rappelten sich auf, nahmen langsam ihre Sachen, während sie sich immer wieder umdrehten und vergewisserten, was Inge tat. So schnell es begonnen hatte, so schnell war es vorbei. Sie waren bereits einige Schritte gegangen, als Inge schrie: „Und merkt euch das, ihr Arschlöcher, so eine Scheiße könnt ihr da machen, wo ihr herkommt, aber nicht mit uns, also verpisst euch, ihr Wichser!“. Ich drehte mich erneut ungläubig zu ihr und fuhr sie an: „Halt jetzt verdammt noch mal den Mund! Inge!? Ruhe jetzt!“

Keiner der Davonziehenden blickte bei Inges Worten zurück. Keine Reaktion. Mit geschlagenem und gesenktem Kopf stampften sie durch den Sand. Ich bemerkte aber, wie dieser Hans seine Hände zu Fäusten ballte und ein anderer ihm verständnisvoll den Arm auf die Schulter legte. Auch wenn der Typ ein Arschloch war, die Arschlöcher untereinander verstanden sich offensichtlich sehr gut. Jeweils zwei halfen den Verletzten, während andere dafür mehr Gepäck schulterten. Es waren komische Kerle, wie aus einem Film, wie Agenten oder eine militärische Einheit. Die Art, wie sie miteinander redeten, wie sie sich mit Blicken verständigen konnten, war furchteinflößend. Wir sollten uns besser schnell vom Acker machen, das hätte ganz anders laufen können. Eins musste man Inge jedoch lassen: Ihre resolute Aktion hatte den Jungs da unten eine Menge Schmerzen, Schweiß und Sorgen erspart.

Gleicher Tag - Uwe Dee´s Erinnerungen

Sie rückten ab, in Formation. Nichtsdestotrotz schrie die Kleine auf dem Fahrrad ihnen noch ein paar nette Worte hinterher. Man konnte jetzt schon ganz objektiv vom Umgang mit ihr abraten. Ich ließ die Situation Revue passieren, während ich mich erstmals erhob und mir den Sand aus Ohren, Mund, Nase und anderen Öffnungen entfernte. Es war unglaublich schnell gegangen. Zack! Und es war schon wieder vorbei … Jeder von uns plante eine Karriere bei Arbeitgebern, die uns das Kämpfen wohl noch beibringen würden. Jetzt konnte von einem Kampf keine Rede sein. Man hatte uns fertiggemacht und beinahe hätte es extrem böse Folgen gegeben. Ich schaute Michael und Matthias an und ihre Blicke sagten das Gleiche: Wut, Erschöpfung, Angst, Zweifel und neues Misstrauen,… und Ärger darüber, dass ein Tag im Juli so enden konnte!

Langsam sammelten wir unsere sieben Sachen und fünf Sinne wieder ein. Wir reinigten unsere Blessuren und stecken uns Fäden von Taschentüchern in die Nasen. Das Waschen im Meerwasser brannte höllisch. Als wir uns also gesammelt hatten, gingen wir den Strand hinauf, um unsere Retter kennenzulernen.

„Ich glaube, wir geben dem Mädchen ein Eis aus, was meint ihr?“, rief ich in die Runde und prompt hatten wir ein erstes Schmunzeln auf den Lippen. „Ja, ich glaube, das hat sie sich verdient, immerhin hat sie meinen Arsch gerettet“, fügte Matthias hinzu.

„Nee, sie hat nicht deinen Allerwertesten, sondern deine Fresse gerettet“, konterte Michael. Wir lachten und taten so, als wäre nichts gewesen, denn die eintretenden Schmerzen an Kopf und Gliedern waren weitaus besser als alles, was sonst passiert wäre. Das Gesicht von Matthias sah nicht gut aus, aber die Nase war wohl nur angeknackst. Und jeder, der eine Situation wie diese einmal erlebt hatte, der weiß, wie befreit man ist, wenn man sie einigermaßen gut durchgestanden hat, denn nach dem nachlassenden Adrenalin folgen reichlich Endorphine.

„Also dann, auf geht’s Jungs, nach jedem Kampf wird gefeiert, auch und erst recht dann, wenn man ihn verloren hat. Ich geb‘ Euch eine Sinalco aus!“ Jetzt lachten wir wirklich.

Gleicher Tag - Erinnerungen von Inge Viett

Als die Gruppe der Sportler außer Sichtweite war, fing ich an, mich zu entspannen. Ich ließ vom Strand ab und richtete den Blick auf meinen schönen Ralf. Er sah etwas komisch aus. Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit, Faszination und Abscheu, keinesfalls aber Zuneigung oder gar Liebe. So kam prompt zu meiner Traurigkeit eine tiefe Enttäuschung hinzu, denn es war klar, dass er sobald nicht mehr verliebt schauen würde. Männer. Weicheier! Nicht zu gebrauchen! „Was?“, fragte ich also Ralf, „noch nie eine Frau gesehen, die kämpfen kann? Hätten wir zuschauen sollen? Uns wegdrehen? So tun, als wäre nichts geschehen? So bin ich nicht! Natürlich kannst du das nicht wissen und ehrlich gesagt, so genau weiß ich das auch erst seit fünf Minuten. Ich habe mich auf den restlichen Tag mit euch gefreut; Ich fühle mich sehr wohl in deiner Nähe und hoffe, dass du weißt, dass ich mehr bin als eine Steine Werferin bin!“.

Eine Träne lief verlassen meine Wange hinunter und ran über meine bebenden Lippen. Es war mein Ernst. Er würde mir mehr als fehlen, mehr aber noch der Tag, so wie ich ihn mir ausgemalt hatte. Und ich hoffte, dass er mich nicht einfach so stehen lassen würde!

Harald, der Freund von Ralf, der bisher wenig gesagt hatte, kam einen Schritt auf mich zu und meinte: „So, wie ich das mitbekommen habe, kennt Ralf dich kaum. Der Rudi und ich kennen dich noch weniger. Was gerade wirklich passiert ist, weiß ich nicht. Die Moral scheint auf deiner Seite zu stehen, aber nicht unbedingt das Recht!“ Was war das denn? Der sprach wie ein verdammter Beamter. Ralf aber sah mir in die Augen und nickte dabei. „Inge, das war eine sehr heftige Aktion, hast du sowas schon öfters gemacht? Sollten wir noch etwas wissen?“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, ehrlich. Bis heute wusste ich gar nicht, was in mir steckt!“ grinste ich schelmisch, weil er es jetzt auch tat. Ralf konterte: „Ich glaube jetzt schon, Inge, dass du im falschen Deutschland lebst.“ witzelte er und schaute dabei seine Jungs schlitzäugig an.

Harald stieg ein: „Ja, so eine Kämpfernatur brauchen wir bei uns im Osten, um den real existierenden Sozialismus zu stärken. Ich denke, wir werden dich gleich mal als Mitarbeiterin anlegen.“ Ralf lachte und offenbarte: „Das wäre ja dann wohl eher meine Aufgabe“ und Rudi brüllte: „IM Steinbraut, das wäre lustig!“ Ich grinste mit ihnen um die Wette, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ein »IM« war, und schon gar nicht, was sie meinten.

Heute weiß ich natürlich, dass Ralf genau das machte, nach seiner Rückkehr in die DDR: Mich als IM anzulegen, als inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, also als Spion der Staatssicherheit.

Und das mit knapp fünfzehn Jahren!

Ich blickte den Strand hinunter und erkannte, dass die anderen Drei, gründlich gewaschen, den Hang heraufkamen. Als sie einige Schritte weg waren, hoben sie die Hand zum Gruße und lächelten.

Wir taten es ihnen gleich. Als wir uns schließlich begegneten, begrüßten wir uns sehr überschwänglich. Es hatte etwas von einer ehrlichen und aufrichtigen Brüderlichkeit nach einem schweren Gefecht. Jeder stellte sich mit Vornamen vor, jeder drückte dem anderen die Hand, dann übernahm dieser Matthias das Reden: „Inge, ich kann dir nicht genug danken. Dein beherztes Eingreifen hat mich und wahrscheinlich auch meine Freunde vor dem Schlimmsten bewahrt… selten habe ich jemanden gesehen, der so gut Steine werfen kann!“ Er blickte dabei grinsend in die Gruppe und alle lachten herzlich.

„Gern geschehen“, erwiderte ich, „wir haben gerade gesagt, dass ich selbst nicht wusste, was in mir steckt.“ - „Dann sind wir sehr froh, dass du es heute hier herausgefunden hast“ fügte Uwe hinzu, „… und um ehrlich zu sein, wir hatten das gar nicht erwartet. Matthias wollte lediglich etwas sülzen und der Rest von denen, vor allem aber dieser kleine Zwerg Hans, die hatten da wohl etwas dagegen.“

Ralf blickte etwas ernster drein: „Ihr hattet wirklich Glück, dass wir zufällig vorbei kamen. Ey sag mal, der wollte wirklich dein Hirn mit diesem riesigen Stein zertrümmern?“ Alle nickten, dann schüttelten die alle fassungslos den Kopf. Ein Wahnsinn!

„Ein Irrer, echt der Hammer“, stöhnte Matthias, „aber zwischenzeitlich“, und dann blickte er mich an, „dachte ich, wir sind von lauter Irren umgegeben“ und schmunzelte. Der Rest lachte wieder.

Matthias fuhr fort. „Echt stark auf jeden Fall, was? Wie wäre es, wenn wir euch auf ein Eis einladen? Ich denke das ist das Mindeste, was wir tun können. Habt ihr Lust mitzukommen?“ Er blickte in die Runde, Ralf ebenso, jeder starrte den anderen kurz an und alle nickten. „Na dann, auf geht’s!“ rief Matthias und die Gruppe setzte sich in Richtung Schönberger Strand in Bewegung.

Die Prometheus Initiative

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