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Kapitel 17

04.10.1989 / 09: 30 Uhr / GSG9-Zentrale, St. Augustin, BRD

Erinnerungen von Uwe Dee, Kommandeur der GSG9

Ich lenkte meinen Audi Sport Quattro in die Einfahrt unserer Zentrale. Nach der Überprüfung durch den Wachhabenden an der Schranke fuhr ich zu einem der Parkplätze direkt neben dem Haupteingang. Es war ein gewöhnlicher Tag für mich und die Grenzschutzgruppe 9, wie üblich würden wir trainieren, reparieren und warten. Unsere Spezialeinheit galt ja als Trainingsweltmeister. Das lag zum einen daran, dass wir nur bei Spezialeinsätzen zum Zuge kamen, die nicht alltäglich waren, aber auch deswegen, weil unsere Missionen stets geheim gehalten wurden. Ich leitete als Führungsoffizier und Kommandeur diese Männer, seit unser legendärer Anführer, die unsterbliche Ikone Ulrich Wegener, in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war. In allem was ich tat versuchte ich so gut zu wirken wie er, aber es gelang mir nur mit viel Mühe. Seine Führungsqualitäten waren einmalig gewesen. Er war der renommierte, international bekannte Held von Mogadischu, der Befreier von über hundert deutschen Geiseln aus einer Lufthansa Maschine, aus den Fängen von Terroristen, ohne Verluste auf Seiten der Geiseln und des GSG9. Ich war damals selbst bei dem grandiosen Einsatz dabei gewesen.

In den Folgejahren hatten wir spektakuläre Verhaftungen von deutschen Terroristen vorgenommen und erfolgreich international Personenschutz garantiert. Heute koordinierten wir ein vielfältiges Spektrum an Aufgaben: Überwachungsflüge, Transport wichtiger Politiker, Rettungseinsätze, Evakuierungen oder die Suche nach Personen. Die Männer der GSG9 waren harte Jungs, Spezialisten in jeder Hinsicht, klug, aber nie arrogant. Mit einem soliden Privatleben und einer ausgeglichenen Natur. Es waren Polizisten, keine Soldaten. Im Einsatz konnte sich jeder Einzelne blind auf dem anderen Verlassen. Wegen dieses herausragenden Korpsgeistes liebte ich diesen Haufen so abgöttisch.

Wie immer wirkte die Zentrale der GSG9 in St. Augustin eher leer und unbewohnt, von außen machte sie nicht viel her. Wenn es Trouble gab, dann immer hinter verschlossenen Türen und wenn viele Einsatzkräfte für Trainings oder Briefings anwesend waren, merkte man es draußen nicht. Mit seinen roten Ziegeln und den kleinen Fenstern wirkte das Gebäude, selbst bei seiner Größe, wie ein Vorstadthäuschen, inmitten eines stark bewaldeten Gebietes. Im Anschluss daran fand allerdings etwas ganz anderes statt.

Dort war die GS Fliegerstaffel Nord stationiert, unmittelbar an der Zentrale, im Anschluss an den zivilen Flughafen von St. Augustin. In den Hallen standen knapp hundert Maschinen, SA 330 J Puma, alte Bells, SA318 C Alouette II und die ersten super Pumas, echte Power Maschinen, zu fliegen bei fast bei jedem Wetter. Der technische Dienst des Bundesgrenzschutzes galt als der Beste der Welt, unsere Maschinen sahen auch nach über zwanzig Jahren noch wie neu aus. Wir stellten die Größte polizeiliche Flugstaffel in Europa.

Im Keller des Hauptgebäudes befand sich eine Waffenkammer mit über 2.000 Handfeuerwaffen, das modernste, was zu bekommen war. Dazu Schießstände, Werkstätten und Munitionsdepots. Depots für Zusatzausrüstungen, für Verpflegung, für medizinische Artikel. Alles Unterirdisch, auf höchstem Level. Darüber Trainingshallen, Unterkünfte und Gemeinschaftsräume.

Ich ging die paar Stufen zum Haupteingang hinauf und erkannte dabei schon einige Teilnehmer der anstehenden Sitzung des Aufstellungsstabes. Angehörige der Führungsriege, der Verbandsleitung und des Beirates standen in der Halle mit den Dienstgruppenleitern zusammen und warteten bei einem Kaffee auf den Beginn der Sitzung. Eine verwaltungstechnische Angelegenheit stand an, es ging wie immer ums Geld. Als ich eintrat war es wie ein großes Erwachen, man stand auf, drehte sich zu mir, allseits Erleichterung, dass es jetzt losgehen konnte. Ich begrüßte kurz die Wichtigsten, auch Fox und Weygold waren da. Wir ließen uns alle am großen Tisch im Besprechungsraum nieder, dann beackerten wir Kostenpunkt für Kostenpunkt. Eine zermürbende Angelegenheit. Gegen halb zwei dann landete ich erstmals in meinem kleinen Büro.

Durch meine regelmäßige Absenz stapelten sich allerlei Formulare, Anträge und zu unterzeichnenden Dokumente im Halbkreis um meinen Bürostuhl. Es war anstrengend. Von den legendären Zeiten der Raufereien, Schießereien und Rasereien der 60er und 70er Jahre war das weit entfernt. Aber das störte mich nicht, weil die Langeweile des Friedens immer besser ist, als die tödliche Hektik des Krieges. Ich nahm den ersten Umschlag vom Stapel und öffnete ihn, dazu machte ich den neuen Personal Computer an. Nach einer Weile flimmerte das erste Logo auf dem kleinen Röhrenbildschirm. Diese Geräte waren faszinierend, doch selbst nach allen Schulungen und verzweifelten Versuchen meiner Kinder hatte ich immer noch den Dreh nicht raus. Hilflos schob ich diesen Mauszeiger umher, meist verlor ich ihn aus den Augen. Gespeicherte Daten suchte ich sowieso oft stundenlang. Meine Frau sagte immer augenzwinkernd, vor meinem Tod würde ich es schon noch lernen… es sei halt keine Walther PPK.

Auch nach zweimaligem Durchlesen wurde mir nicht klar, was der vorliegende Antrag sollte, gleich der erste Fall ein gordischer Knoten. In Friedenszeiten war die Verwaltung wahrlich der Feind aller Polizisten. Es ging um eine Anfrage des Sicherheitsausschusses im Kanzleramt, in welcher ich die aktuelle Anzahl unserer Hubschrauber beziffern und eine Bewertung abgeben sollte, ob sich die Anzahl noch mit den Anforderungen der NATO Fallex 64 und Fallex 66 deckte. Auch mein digitaler, kopflastiger Helfer stand mir nicht bei, sondern baute endlose Wasserleitungen durch meinen Bildschirm. Die Antipathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Notdürftig sortiere ich die NATO Fallex-Simulationen gedanklich, aber ich konnte mich nicht recht erinnern. Welche Nummer stand für was? Katastrophenschutz, atomarer Zwischenfall, russischer Großangriff?

Das Telefon klingelte plötzlich, mehr als dankbar nahm ich die Unterbrechung und das Gespräch an. Die BGS-Vermittlung kündigte mir einen dringenden Anruf aus der DDR an, ein Herr Devaux, ob ich annehmen wollte. Wie bitte?

Ohne Zögern stimmte ich zu, es klickte, dann war das Gespräch hörbar da. Mit starkem Rauschen und einem hohen Echo hörte ich Ralf mich begrüßen. Ich grinste kurz, weil ich immer grinsen musste, wenn ich einen von der 59er Strandgruppe am Telefon hatte. Wir plauderten etwas, füllten kurz die vergangenen Jahre, in denen wir uns nicht gehört hatten. Doch Ralfs Stimme klang ungewohnt nervös, eigentlich hatte ich ihn noch nie so gehört, es passte zu einem öffentlichen Anruf. Entsprechend dauerte es auch nicht lange, bis er begann, mir sein Anliegen zu erzählen und ich staunte nicht schlecht.

Ralf berichtete von Aufständen, von gekaperten Kasernen, von besetzten Flughäfen und sogar einigen militärischen Stützpunkten, die in die Hände von Terroristen gefallen seien.

Ungläubig fuhr ich mir mehrfach mit der Handfläche über das Gesicht. Bei den genannten Orten handelte sich um wichtige Einrichtungen der DDR und UdSSR, mit hochkarätigen, modernen und schlagkräftigen Waffen!

Er vermutete, ein Vakuum sei genutzt worden, dass durch die baldigen Feierlichkeiten zum 40.Bestehen der DDR entstanden war. Viele Stützpunkte seien aktuell nur sporadisch besetzt, weil die Truppen bereits für die Paraden und Manöver am 6. und 7. Oktober in Berlin und an der Ostsee zusammengezogen wurden. Das Ausmaß der Krise sei noch nicht absehbar. Anstatt nun aber mit allen Mitteln einzugreifen, habe man beschlossen, die Sache klein zu reden und den Russen zu überlassen. Das machte ihm persönlich Angst, weil die Passivität seiner Vorgesetzten keinen Sinn ergab.

Tatsächlich habe man ihm verboten, Ermittlungen zu starten!

Daher bat er mich eindringlich, die Dienste der BRD ins Spiel zu bringen.

Ich fragte ihn, ob es denn wirklich so schlimm sei.

Verzweifelt stöhnte er nur: „Uwe, ich rufe dich aus meinem Büro, aus dem Hauptdienstgebäude der Staatssicherheit in Ost-Berlin an, über eine öffentliche Leitung. Der Hall und das Rauschen sind kein Zufall.

Also was denkst du?“

Sobald wir das Gespräch beendet hatten, musste ich kurz innen halten und mich sammeln. Dann hob ich den Hörer wieder ab und rief den Diensthabenden der Einsatzzentrale an. Ich befahl ihm die sofortige Notsitzung des Stabsbereiches Einsatz in einer Stunde, in Anwesenheit des Kanzleramtes, des Innenministeriums und der Bundeswehr. Ich machte den Umschlag mit den Antragsdokumenten zu, warf ihn auf den Stapel zu seinen Freunden, dann machte ich den Personal Computer aus. Widerwillig beendete er seine Rohrarbeiten.

Bevor ich meinen Arbeitsplatz ins Lagezentrum verlegte, rief ich noch meine Frau an. Ihr brauchte ich nichts zu sagen, schon der Anruf machte ihr klar, dass ich heute nicht nach Hause kommen würde.

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