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ОглавлениеKapitel 7
12. Juli 1959 / Schönberger Strand
Erinnerungen von Ralf-Peter Devaux
Unsere Gruppe saß noch lange in einem der Zimmer unserer kleinen Herberge. Wir scherzten und unterhielten uns immer wieder über das Geschehene. Rudi, Harald und ich disponierten um, damit wir bei unseren neuen Freunden bleiben konnten. Die Stimmung war gut, wir tranken etwas Wein und Bier. Nur wenn jemand über den blonden, kleinen Hitzkopf und seine Attacken vom Strand sprach, ließ sich eine gewisse Bedrücktheit erkennen. Er war eben nicht normal gewesen, dieser Bursche, ohne jede Vernunft, sodass es einen immer noch das Mark in den Knochen gefrieren ließ.
Im Osten gab es so etwas nicht. Gerade wenn es einer ganzen Gesellschaft schlecht geht, schweißt das zusammen und die Spreu wird vom Weizen getrennt. Es liefen ja auch schon genug Menschen davon. Matthias und Michael legten sich zuerst schlafen, danach Harald.
So blieben Uwe, Rudi, Inge und ich alleine sitzen.
Jeder erzählte etwas von sich. Rudi konnte reden wie ein Wasserfall, er fand dabei immer die richtigen Worte. Ich mochte ihn immer schon, auch was er sagte, aber unser Kontakt war aktuell eher locker. Meine Eltern wollten nicht, dass ich zu viel Zeit mit ihm verbrachte, weil sein Vater wegen Aufwiegelei gegen die DDR inhaftiert worden war. Deswegen hatte es einen ungenannten Grund, dass wir uns doch noch hin und wieder sahen. Uwe schien ein Mordskerl zu sein. Er sah aus wie ein blonder Teutone, wenn auch nicht so kräftig wie Matthias. Und Inge, nun, die hatte ich ja inzwischen etwas besser kennengelernt. Sie war sehr interessant für mich.
Inge schien sich bei uns sehr wohl zu fühlen, so, als wäre sie noch nie Menschen wie uns begegnet. Ihre Augen glühten wie Christbaumkugeln im Kerzenschein und je nachdem, wer gerade redete, dem hing sie an den Lippen und saugte jedes Wort auf. Irgendwann flüsterte sie es auch, ganz vorsichtig: „Ich habe noch nie Leute wie euch getroffen. Ihr wirkt so offen und ohne Hintergedanken, ehrlich und freundlich …“
Uwe war es etwas peinlich, er unterbrach sie: „Du passt aber gut zu uns Inge! Wir sind die weißen Ritter. Möchtest du Teil unseres magischen Quartetts werden? Eine Gruppe edler Ritter?“ Rudi Dutschke lachte, er amüsierte sich über den Schelm, aber Inge strahlte indessen von Ohr zu Ohr.
Sie war Teil von etwas, vielleicht das erste Mal.
Strahlend flüsterte die Kleine: „Ja!“.
Sie freute sich weiter, legte ihren Kopf auf meine Schulter, nahm meinen Oberarm mit beiden Händen und drückte mich ganz fest. Ich küsste ihr auf die Stirn und flüsterte: „So machen wir’s, wann immer uns jemand angreift, dann rufen wir Inge mit den Steinen. Sie ist die glorreiche Verteidigerin unseres Quartetts: Uwe, Rudi, Ralf und Inge!“ Dabei drückte ich sie weiter an mich, während sie fast Tränen vergoss, weil sie ganz offensichtlich so gerührt war. Etwas lauter verkündete ich mit fester Stimme: „Wir machen es so! Ab jetzt treffen wir uns jedes Jahr hier am Strand und veranstalten einen Wettkampf im Steine-Weitwurf.“ Dazu lachte ich herzlich.
„Wir können ja den Wahnsinnigen vorher anrufen, vielleicht stellt er sich als Ziel zur Verfügung!“ rief Rudi und anschließend Uwe: „Ein jährlicher Kampf der Knöpfe, wir kommen über sie wie John Wayne.“ Dabei feuerte Uwe mit den Fingern nach links und rechts! Wir lachten alle. „Lieber wie Romy Schneider als guter Engel“ schob Inge noch hinterher.
Sie konnte schon goldig sein.
Soweit wurde es doch noch ein richtig schöner Sommerabend. Wir gingen irgendwann schlafen und Inge begleitete mich. Es war so, als würden wir uns bereits ewig kennen. Sie war äußerst liebevoll und sehr erfahren. Nie würde ich diese Nacht vergessen, aber das hatte viele Gründe, unter anderem auch deshalb:
Es dürfte kurz vor Mitternacht gewesen sein, als plötzlich und vollkommen unerwartet die Polizei unser Hotel stürmte! Sie brachen sogar die Tür unseres Hotelzimmers auf, als seien wir gefährliche Halunken!
Wir wurden überwältigt und festgenommen!
Als sie uns die Handschellen anlegten, sah ich in Inges Augen: Sie schaute, als wäre ihr von Anfang an klar gewesen, dass das Gute von begrenzter Dauer war und das Schlechte augenblicklich um die Ecke kommen würde.
Ein Blick, so voller Enttäuschung, Trostlosigkeit und aufkeimender Wut!
Man schleppte uns mit, ohne dass wir die Chance hatten, uns anzukleiden. Von Inge kam kein Seufzer, kein Wort. Ich überlegte sofort, was ich tun könnte. Zunächst war ich noch etwas perplex, weil man uns herumzerrte und komischerweise als »Kommis« und »Sozis« beschimpfte. Jemand musste meine Familie verständigen, so viel war klar. Mein Vater musste sofort informiert werden, vielleicht war er das indirekte Ziel. Ich hatte keine Ahnung, was man mit uns vorhatte, aber es wirkte sehr gefährlich.
Schnell entsann ich mich: Die letzte Chance würde die Dame sein, die hier als Angestellte nachts die Stellung hielt. Ich hatte sie heute gut kennengelernt, wir hatten schnell einen gewissen Draht zueinander aufgebaut. Und ich hatte Glück, denn sie war da. Sie sah mich und ich konnte ihr kurz zurufen: „Das ist nicht recht, rufen Sie die Telefonnummer im Hotelregister an, meinen Vater! Ich bitte Sie inständig, Sie werden es nicht bereuen!“ Sie hörte zu, verstand und nickte, sogar so, dass es die Polizisten nicht mitbekamen. Wäre ihr Anruf nicht erfolgt,… wer weiß, wie unsere Zukunft ausgesehen hätte …
Im Polizeiwagen befanden sich dann auch die anderen, die ganze Gruppe. Jeder hatte die Hose voll, alles in allem waren wir nur Jugendliche. Es war die Hölle für uns. Vor allem die beiden Begleiter von Uwe, dieser Michael und Matthias, jammerten wie Kinder. Selbstverständlich war uns vollkommen klar, warum wir alle verhaftet wurden. Deswegen redeten wir auch nicht. Uns flatterten regelrecht die Knie. Nur bei Inge war es anders. Die Fünftzehnjährige sah aus, als würde sie sich für das, was kommen konnte, sammeln; Als machte sie sich zum Kampf bereit, trotz Handschellen. Da waren kein Weinen, kein Stöhnen und kein irres Geschwätz. In der Polizeistation nahm man unsere Personalien und Aussagen auf. Sie fragten, wie lange wir Inge kennen, ob wir wüssten, wer die anderen in der Gruppe waren, wer die Steine warf, wer Anstifter und wer Provokateur war und ob wir in linken Studentenbewegungen seien. Es waren immer unterschiedliche Personen im Revier unterwegs, mal in edlen maßgeschneiderten Anzügen, dann wieder in Militäruniformen. Mir kam das gleich komisch vor und ich konnte nur hoffen, dass meine liebe Portierin auch tat, was sie angedeutet hatte. Gegen 02: 00 Uhr morgens ließ man uns dann in Ruhe in den Zellen liegen. Durch den Gang fragten wir uns gegenseitig, ob es allen gut ginge. Wir redeten darüber, was jeder gesagt hatte. Witziger Weise hatten wir alle tatsächlich ein und dasselbe erzählt. Niemand hatte Inge geschont, sie sich selbst auch nicht. Die „West-Jungs“ hatten nach ihren Aussagen auch ihre tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht und dass sie unter Umständen Inge sogar ihr Leben verdankten. Keiner konnte dann schlafen, jeder erzählte weiter, wir redeten uns praktisch den Dreck von der Seele. Nur eine Person nicht: Inge, die schlief bereits.