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Kapitel 10

12. Juli 1959 / Eckernförde, BRD

Erinnerungen von Inge Viett

Ich weiß noch, dass ich plötzlich ganz alleine war. Ich stand am Bahnhof und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Alle waren weg, als wären sie für ein Theaterstück eingeflogen worden und dann verschwunden, nachdem der letzte Vorhang gefallen war. Es gab keinen Szenenapplaus, niemand drängte nach vorn zur Bühne um zu gratulieren oder vielleicht Blumen zu überreichen. Es waren genau zwanzig Stunden vergangen, seit ich Ralf am Bootssteg getroffen hatte, aber es kam mir vor wie ein halbes Leben. So eine verrückte Welt. So verrückte Menschen. Die Welt hatte mich mit einem Schlag auf ihre große Bühne katapultiert, heraus aus dem letzten Loch vor Nimmerland und hinein in das Spiel der Mächtigen. Da gab es für mich nichts, was nicht glasklar offensichtlich war: Spionage, Militär, Menschen, die die Polizei im Griff hatten, übermächtig und beeindruckend.

Vor einer Stunde hatte ich mich von Ralf verabschiedet, wir hatten Zärtlichkeiten und Küsse ausgetauscht und standen lange Zeit eng umschlungen am Bahnhof. Matthias, Uwe und Michael hatte man bereits vor zwei Stunden mit einem Wagen abholen lassen. Der Vater von Matthias kam inklusive Chauffeur. Offensichtlich war seine Familie stinkreich, was er gut zu verstecken wusste. Ich dachte viel nach. Es war alles so seltsam, letzte Nacht war viel passiert, ich knabberte daran, die Dinge zu sortieren.

In der früh war plötzlich der Wachtmeister der Polizeistation zu uns gekommen, hatte die Zellen und die Hintertür des Gebäudes geöffnet, jedem zwanzig Mark in die Hand gedrückt und war wieder verschwunden. Wir alle hatten uns nur kurz angesehen, dann waren wir losgerannt. Es war egal, warum man uns die Freiheit schenkte, wir nahmen die Chance sofort an. Wir spurteten durch die Straßen der Stadt, bis wir uns sicher fühlten, dann trennten wir uns. Am Bahnhof traf ich Ralf wieder. Nach der Freude, sich in Freiheit wiederzusehen, kamen mit dem Verabschieden auch einige Tränen. Ich mochte ihn wirklich! Wir versprachen uns, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. Er sicherte mir zu, mich einmal zu besuchen.

Aber das war‘s dann auch, so oder so.

Tja, und so atemberaubend das Theaterstück gewesen war, jetzt zirpten wieder nur die viel zu gut gelaunten Grillen. Ich fand noch eine Zigarette in meiner Tasche, setzte mich und rauchte sie. Die ganze Zeit war ich nicht mal ansatzweise auf die Idee gekommen, mir eine anzustecken. Tatsache! Der Rauch tat gut, es war der zeremonielle Abschluss einer eintägigen Achterbahnfahrt. Wieder dachte ich an Ralf, großer starker Ralf, mit seinem Rock’n’Roll Oberteil, so unnahbar und geheimnisvoll, zärtlich und verbindlich. In seinen Armen könnte ich ewig versinken.

Nach einer Weile merkte ich, dass ich echt keine Ahnung hatte, wo ich mit mir hin sollte. Nicht nach all dem! Ich wusste zwar, dass ich strenggenommen zurück nach Arnis ins Jugendaufbauwerk musste, aber der Gedanke daran war unerträglich! Mir war klar, dass ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen musste!

Wie ich so dasaß und die Zigarette fertig geraucht war, kam zu meiner großen Überraschung noch Rudi Dutschke zum Bahnhof. Auch wir fielen uns in die Arme. Er fragte mich, ob es mir gut ginge. Mit Freude antworte ich, dass alles prima war. Wunderschön, dass er nochmal auftauchte. So hatte es doch eine Zugabe in diesem Theaterstück gegeben und das Publikum wurde nicht im Dunkeln stehen gelassen. Während wir über alles redeten fiel mir wieder auf, wie gewandt und selbstsicher Rudi war. Mehrfach schweifte er beim Reden auf Allgemeines ab oder bestätigte Erlebtes mit allgemeingültigen Grundsätzen.

Ich fragte ihn: „Warum sitzt du nicht mit Ralf und Harald im Zug?“ Darauf sagte er nichts, scheinbar hatte ich einen Nerv getroffen. Also hakte ich nach: „Willst du es nicht erzählen? Du weißt, dass du der Inge alles anvertrauen kannst, oder? Wollen sie dich vielleicht nicht dabeihaben?“

Rudi fuhr dazwischen: „Ralf schon! Aber seine Eltern sehen das anders… wir waren mal gut befreundet. Dann sind ein paar Dinge passiert… mein Vater erhob sich gegen die Stasi und wurde verhaftet. Er gilt als Feind der Republik. Seitdem sehen Ralfs Eltern es nicht mehr gern, wenn wir Zeit zusammen verbringen. Ich soll ihn wohl nicht auf abwegige Ideen bringen. Hierher bin ich auch allein angereist. Und da er jetzt von Mitarbeitern seines Vaters abgeholt wurde, konnte ich erneut nicht mit.

Aber ich bin ihm nicht böse, weißt du …“

Der Arme. Ich drückte ihn und strich ihm durch die Haare, beruhige ihn: „Rudi, jetzt hast du jemanden, der immer zu dir hält. Die Inge lässt dich nie im Stich. Hast du verstanden? Egal was kommt, ich bin für dich da und du darfst immer bei mir mitfahren!“ Rudi lachte, ich küsste ihn dazu auf die Stirn. So saßen wir da, eine 15-Jährige, die einen 19-Jährigen tröstet.

Ich fragte: „Was hast du jetzt vor?“ Rudi dachte nach, runzelte die Stirn und wirkte auf einmal viel älter. Er flüsterte: „Ich werde nach Westdeutschland gehen und dort studieren, dafür mache ich das Abitur.

In der DDR hält mich nichts mehr.

Vielleicht schaffe ich es in zwei Jahren.“

Ich sagte: „Ich will auch nach Berlin, irgendwann, vielleicht sehen wir uns dort. Ansonsten schreibe ich dir nach Schönefeld.“ Rudi nickte und seine Augen sahen versöhnlicher aus, doch die Traurigkeit darin blieb. Auch er nahm mich in den Arm, mittlerweile saßen wir auf der Bank wie ein altes Ehepaar, das sich gegenseitig Halt gab.

Erst nach Stunden trennen wir uns,… für eine sehr lange Zeit.

Die Prometheus Initiative

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