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ОглавлениеDer Anfang
Berlin, Deutschland
9. April 1945
Aus den Erinnerungen von Anton von Anselm, Adjutant des Generalmajors Reinhard von Gehlen, zu den Geschehnissen im Führerbunker zu Berlin, drei Wochen vor Hitlers Tod
Wir waren damals schon den ganzen Tag mit unserem Horch 830 unterwegs, dem gängigen Diplomatenwagen des Militärs. Er war grau, schmutzig und in einem absolut desolaten Zustand. Darin saßen Reinhard von Gehlen, mein Kommandant, seine rechte Hand, Oberleutnant Wessel, der Fahrer und ich. Anstrengende Wochen lagen hinter uns. Seit Anfang des Jahres hatten wir alle Dokumente, welche die Spione der Abteilung „Fremde Heere Ost“, die größte und beste Spionageabwehr der Nazis, über die Jahre und Jahrzehnte bis 1945 gesammelt hatten, mit Kameras abfotografiert, entwickelt und die Negative fein säuberlich in Metallkisten archiviert. Obwohl es dünne, moderne Mikrofilme waren, hatten wir etwa 50 große Metallkisten gefüllt, jede mit ungefähr ein Kubikmeter Material. Es war das gesamte Wissen aus tausenden und abertausenden Verhören, bei denen exakt ebenso viele starben. Es waren die Kenntnisse von Millionen toter Russen, Männern, Frauen, Kindern und Geistlichen. Von heute aus betrachtet steckten in diesen 50 Kisten so unendlich viel Leid, Tod, menschenunwürdiges Wissen, beleidigend, belastend, promiskuitiv, wie es nur irgendwie erdenklich ist. Nein, eigentlich ist es das nicht. Kinder, Frauen, Babys … schlimmes Material, über Russen, aber und vor allem auch über die eigenen Leute! Mein Kommandant, der Leiter der FHO, Reinhard von Gehlen, spionierte seit Jahren mit Vorliebe ihm missgünstige Nazi-Größen aus und sorgte für deren Entlassung … oder für Schlimmeres. Das Material war universell einsetzbar und besaß eine unendliche Macht.
Vor einer Woche dann hatten Gehlens engste Mitarbeiter diese 50 Kisten, die „Büchse der Pandora“, in das Lager Maybach I bei Zossen in Bayern abtransportiert. Man hörte, er habe auf einer Alm bei Bad Reichenhall alle Vorbereitungen für eine Übergangszeit getroffen, man wolle dort oben warten, bis der Krieg vorbei war. Und seit dem Abtransport der Kisten waren die gesamte Garnison, die FHO-Leitstelle und die Familien aller Mitarbeiter sukzessive verschwunden.
Auf unserer Fahrt in das zerstörte Berlin hatten wir immer wieder angehalten, uns versteckt, Umwege in Kauf genommen und konnten so, sehr vorsichtig, in die Hauptstadt vordringen. Wir nutzten den letzten dünnen Korridor zwischen München und Berlin, der nicht von Russen oder Amerikanern angegriffen wurde. Bei Leipzig war es sehr gefährlich geworden, mehrfach beschossen sie uns, russische Artillerie und alliierte Jäger. Die Front war nur wenige Kilometer entfernt gewesen, es war die Hölle. All das nahm unser Trupp nur aus einem Grund auf sich: Um sich heute persönlich von Hitler die Entlassung aus der Wehrmacht unterschreiben zu lassen.
Das war nicht nur hoch gepokert, weil zu diesem Zeitpunkt jeder, der nicht mitkämpfte, berechtigte Angst haben musste, sofort standrechtlich erschossen zu werden. Es war auch die einzige Möglichkeit. Reinhard von Gehlens zentraler Befehlsbereich, seine Wirkungsstätte, war nicht mehr existent. Auf seinen persönlichen Befehl hin war alles, was den engen Kreis seiner Getreuen betraf, weggebracht worden,… vergraben, vertuscht, versendet oder vernichtet. Seine Freunde im Stab und ihre Familien, alle hatte er nach Hause geschickt, seine Frau und seine vier Kinder waren in Sicherheit. Deswegen musste heute alles klappen, unbedingt. Die Alternative zu nehmen, wie viele andere und ins Ausland gehen, schien für ihn keine Option zu sein. Er hätte es in Argentinien, Brasilien oder sogar in Jugoslawien besser gehabt. Aber ich denke, Gehlen hatte einfach ein zu großes Sendungsbewusstsein. Egal, wie es um die Nazis stand, sein Kampf musste weitergeführt werden, mit welchen Mitteln auch immer, ein Kampf für Deutschland. Er war ein echter Patriot.
Lange war es im Wagen ruhig gewesen, vor allem als die Kolonne sich durch die Vororte Berlins bewegte und die Zerstörung durch Bombenangriffe nicht mehr zu übersehen war. Die Front war jetzt schon in Berlin. Gehlen ließ das wie immer kalt, oder er ließ es sich nicht anmerken. In Wessels Augen konnte man jetzt erkennen, dass es ihm nicht egal war, dass es ihn berührte. Aber nicht nur das, in seinen Augen sah man viel Angst, denn zum einen musste alles perfekt ablaufen, zum anderen würde er es sein, der so oder so Gehlens Position in Berlin einnehmen musste, tot oder lebendig.
Als wir in Richtung Siegessäule und Tierpark kamen wurde es heftiger, die Einschläge der feindlichen Artillerie waren verdammt nah, es lag ein schlimmer Geruch aus Feuer, Ruß und Tod in der Luft. Ich war verängstigt, hatte eine Höllenangst, doch ich biss die Zähne zusammen.
In die Stille hinein brach Wessel das Schweigen und fragte lapidar: „Ist seine Alte eigentlich immer noch so drauf? Wir haben sie ja länger nicht mehr gesehen.“ Gehlen neigte sich etwas in seine Richtung, wartete einen Moment, dann murmelte er: „Woher soll ich denn das wissen? Außerdem interessiert sie mich nicht … “ Wessel drehte nun seinerseits den Kopf zum Fenster und entgegnete: „Hmm … Ich dachte du weißt alles, … oder etwa doch nicht?“ Gehlen blickte nun aus seinem Fenster in die Leere, man sah, dass er nachdachte. Beide machten alles sehr pathetisch, wie immer, wenn sie ihre Gardeuniform trugen. „Ach, weißt du“, antwortete Gehlen, “sie ist nicht schlimmer als andere … bei ihrem Konsum … aber auch nicht besser. Auf jeden Fall ist sie nicht der Ursprung seines Problems.“ Mehr kam dazu nicht.
Als wir die Siegessäule passiert hatten, wurden wir kontrolliert. Junge Burschen und alte Männer, dazu ein paar Majore, die sich abseits in einem Wagen aufhielten, rauchten und fast schon kindlich lachten, ohne Unterlass. Die Ausweise kontrollierte man zügig und wir bogen am Pariser Platz nach rechts. Nach einer Weile hielten wir direkt vor dem Eingang zum Führerbunker, wir stiegen aus und legten gekonnt unsere Mäntel ab.
Man sah, dass die Uniformen von Gehlen und Wessel perfekt saßen, blitzblank sauber und gebürstet waren, als hätte man sie ihnen gerade erst auf den Leib geschneidert. Für mich kein besonderer Anblick, aber in dieser Wüste aus Stein, Lärm, Rauch und offensichtlichem Chaos wirkten diese Uniformen nicht mehr gewohnt beruhigend, sondern eher verstörend,
wie ein Besuch aus besseren Zeiten.
Nachdem wir die Treppe zum Vorbunker hinabgegangen waren, wurden wir erneut kontrolliert. Das Befehlshabende des Bunkers fragte uns schroff nach unserem Termin, kontrollierte penibel seine Tagesliste, zeichnete ab und forderte uns auf, den Besuch auf der Liste zu unterschreiben. In diesem Moment, als wir die Formalitäten erledigten, als wäre nicht der Sturm über Deutschland hereingebrochen, fiel mir auf, dass alles um uns herum völlig normal wirkte. Ich roch, dass die Luft fein säuberlich gefiltert war, ja, wenn nicht sogar vorteilhaft aromatisiert. Alles erschien sauber und es herrschte totale Ruhe. Mitarbeiter des Stabes huschten elegant über die Gänge.
Wir marschierten durch den großen Mittelbereich, den man auch als Kantine nutzte, als Gehlen plötzlich stehen blieb und nach rechts blickte. Es waren zwei Türen geöffnet, die zu Schlafräumen führten. Gehlen sah hinein und betrachtete Goebbels, wie er persönlich das Ausräumen der Zimmer überwachte. Dabei fuchtelte er mit den Armen und schwadronierte, halb brüllend, über dieses und jenes.
Schon einen kurzen Moment später drehte Goebbels seinen Kopf zu uns, seine Augen weiteten sich, als er Gehlen erkannte, dann fror sein Gesicht schlagartig ein. Er ging forsch die vier Schritte zur offenen Tür und warf diese mit einem lauten Knall zu. Baaam! Man konnte hören, wie er drinnen anfing zu schreien und wie wild zu toben. Der Name meines Kommandanten fiel in Verbindung mit allerlei Schimpfwörtern. Gehlen wiederum drehte sich nur zu uns um und flüsterte kurz: „Er zieht hier ein – und wir gehen nach Hause.“ Und leise zu mir: „Der Idiot wird von den falschen Leuten bezahlt.“
Der Adjutant des Führungsstabes im Bunker bat uns nun eindringlich, unseren Termin wahrzunehmen und winkte uns heran. Wir marschieren also durch eine weitere Gasschleuse in den Hauptbunker hinab, wo wir an einer zentralen Stelle erneut in aller Form kontrolliert wurden.
In diesem Moment kam uns Eva Braun entgegen, auch sie wollte Gehlen nicht kennen. Er sprang aber offensiv auf sie zu und fragte: „Eva, wie geht es dir? Ich hoffe gut, wir haben uns lange nicht gesehen… Euer Besuch bei uns ist ja schon eine Ewigkeit her. Wessel und ich hatten gerade erst im Wagen über dich gesprochen.“ Sie erwiderte nichts, sah ihn auch nicht an, sondern ging stoisch weiter, wie eine wandelnde Ölgötze.
Frau Braun wirkte aschfahl und eingefallen, sie war spindeldürr.
„Wem kann ich Sie melden?“ Der Generalstabsangehörige war uns gegenüber nicht gut gelaunt, aber in erster Linie hatte er von Gehlens Benehmen bereits die Nase voll. „Zu Herrn Hitler.“ gab Gehlen an. Der Offizier starrte Gehlen an, dann stotterte er: „Sie möchten zum … Führer!? Haben Sie denn einen Termin?“ Es war einfach wieder einer von denen, die nicht wussten, wen sie vor sich hatten. Anstrengend! Gehlen platzte auch schon wieder aus allen Nähten, aber man musste ihn kennen, um es zu sehen. Sehr bestimmt forderte er: „So wie's auf der Besucherliste am Bunkereingang steht, so wie's in der Liste des Postens auf der Straße stand und so wie's auf Ihrer Liste steht, guter Mann!“ Dazu brüstete er sich, schob seine Pailletten und Orden in den Mittelpunkt und wiederholte:
„Wir können jetzt also zu Herrn Hitler?“
Sogleich stampfte er einfach unbeirrt darauf los, durchquerte den Warteraum und noch bevor man sich versah, stand Gehlen bereits, zusammen mit mir, in Hitlers Sprechzimmer. Währenddessen blieb Wessel draußen, verwickelte die Adjutanten und Generalstabsvorgesetzten in ein Gespräch und blockte sie ab. Verwirrt blickten sie uns hinterher.
Der Raum war relativ dunkel, die Biedermeier Möbel und das sanfte Licht ließen ihn recht gemütlich wirken. Im Mittelpunkt der rechten Seite stand ein Schreibtisch an der Wand, mit diversen Utensilien und Büsten darauf, eine Figur stellte einen Hund dar. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch kauerte Hitler. Er hatte noch schnell seinen Feldmantel übergeworfen, ich konnte das lose Hemd und die Hosenträger erkennen und er hatte komische Schuhe an, die eher an Pantoffeln erinnerten.
Ich weiß noch, wie lange ich mir überlegt hatte, wie es wohl sein würde, einmal dem Führer gegenüberzustehen. Aber er saß zusammengekauert, komisch ummantelt, völlig surreal vor mir, ja augenblicklich fast unter mir. Sein Kopf hob sich ganz langsam, er hatte einige Arbeitspapiere betrachtet, nun starrten seine Augen uns an beziehungsweise das, was man in den dunklen Höhlen seines eingefallenen Gesichtes als Augen erkennen konnte. Er wirkte sehr alt, war zerfurcht und so derangiert, dass er weder gefährlich noch bedrohlich wirkte. Unter dem Ölportrait von Friedrich dem Großen, das über seinem Schreibtisch hing, wirkte er sehr mickrig und gar nicht mehr überirdisch.
„Ach, … der Gehlen. Totgeglaubte leben länger, aber nicht ewig!“
zischte Hitler und drehte seinen Kopf wieder von uns weg. „Herr Hitler, ich grüße Sie“ sagte Gehlen mit neutraler Stimme. Er klang dabei wie ein Arzt bei der Visite und hob die Hand nicht zum Gruß, erst recht nicht mit gestrecktem Arm, obwohl er nur eine kleine Dokumentenmappe aus verstärktem Karton in der linken Hand hielt. Ohne Gehlen wieder anzusehen murmelte Hitler: „Das heißt »mein Führer«, Sie Arschloch, aber was kann man auch von einem Soldaten erwarten, der nie im Feld gedient hat, … und lediglich das Glück hatte, richtig zu heiraten!“ Er drehte sich noch ein Stück weiter weg, sein ganzer Körper schien allergisch auf Gehlen zu reagieren. Gehlen wiederum legte die Akte auf den Futon, löste die oberen Knöpfe seiner Uniformjacke und ließ sich betont lässig in die Kissen fallen.
Er saß hinter Hitler, blickte aber nur auf den Boden. „Für mich waren Sie, Herr Hitler, nie mein Führer, sondern ein Vorgesetzter; Und davon einmal abgesehen, wie man Ihre Zeit als mein… als unserer Vorgesetzter… im Großen und Ganzen bewerten muss, so bin ich doch vor allem persönlich von Ihnen enttäuscht. Wie viele offizielle Anfragen, Vorschläge, Strategiepapiere und Pläne zur Verteidigung habe ich in der letzten Zeit bei der Heeresführung eingereicht? Wie viele meiner Vorschläge wurden nicht gehört, geschweige denn umgesetzt? Wie viele Erkenntnisse des Fremde Heere Ost haben Sie ignoriert? Sie erkennen ein Genie und einen Patrioten doch nicht einmal, wenn er sich auf Ihr Gesicht setzen würde. Und ich war in Polen sehr wohl im Kampfeinsatz, falls Sie es vergessen haben sollten!“ erwiderte Gehlen kühl.
Jetzt drehte Hitler seinen Oberkörper wieder zurück zu Gehlen. Seinen Stuhl zog er dabei noch etwas näher heran. Gehlen seinerseits lehnte sich ebenfalls nach vorne auf Hitler zu. Auf einmal war kein halber Meter mehr zwischen den Beiden und gefühlt passte jetzt nicht mal mehr ein Papier zwischen die Kontrahenten.
Ich überlegte wie es dazu kam, dass ich mit zwei der führenden Köpfe der Nazis alleine in einem Zimmer war, 12 Meter unter der Oberfläche, mit einer Schicht von über 3,5 Metern reinem Stahlbeton zwischen mir und der übrigen Welt. Und hier waren sie nun, der Größte »Feldherr aller Zeiten« und der »Totale Spion« und sie wirkten, als würden sie sich gleich die Köpfe einschlagen. Zumindest erschien es mir so.
„Der Grund, mein lieber Gehlen, warum Sie heute hier sind, ist, dass man mich geradezu angebettelt hat, Sie vorzulassen… obwohl ich Sie nur erschießen lassen will!“. Das Wort angebettelt sagte er so, als würde er wieder an seinem Rednerpult stehen. Er schüttelte dabei seine rechte Hand mit erhobenem Zeigefinger und schüttelte ebenso die einzelnen Silben des Wortes heraus: an/ge/be/tt/elt. „Es könnte der Eindruck entstehen, man fürchte Sie mehr als mich, mein lieber Gehlen. Ich selbst kann mich nicht einmal an die lächerliche Ernennung Ihrer Person in dieser eminent wichtigen Stellung erinnern.“
Allen war klar, dass er jetzt log. Jeder wusste, dass er zu jener Zeit 1942 gezwungen worden war, Gehlen mit der Position zu betrauen. „Einer meiner Fehler, zugegeben.“, führte Hitler aus: „Bei euch monarchisch-schlesischen Speichelleckern habe ich nicht richtig aufgepasst. Die oberste preußische Militärriege, der Adel und dann sie, die Kirche… sie haben die Mittel, die man ihnen gegeben hat, ausgenutzt und gegen Ihre eigenen Leute gewandt. Sie sind schlimmer als der Jude oder der Russe und kennen nur das eigene Überleben! Sie haben es geschafft, einen Staat im Staate zu fabrizieren, sie haben die eigenen Leute auf höchster Ebene ausspioniert, … anstatt Ihre Mittel gegen den Feind einzusetzen!“ Er merkte offensichtlich selbst, dass er in einen Redeschwall fiel, hörte damit aber nicht auf: „…und damit Sie es wissen, egal was für Freunde Sie haben, lieber Gehlen, es wurde bereits beschlossen, Sie im Anschluss an dieses Gespräch zu liquidieren! Es ist nie zu spät, eine gewisse Ordnung wiederherzustellen! Ihre Impertinenz hat uns lange genug in Atmen gehalten. Angesichts der aktuellen Situation haben wir wichtigere Pläne als uns mit der Suche nach Ihren Metallkisten zu beschäftigen, die ein Parasit begraben hat, der behauptet, er habe Kampferfahrung oder hätte seinen Mann für das Vaterland gestanden, bloß weil er im Polenfeldzug in einer nachrückenden Einheit war, weit hinter der Front.
Es sind Pantoffelhelden und Blender wie Sie gewesen, die den Endsieg verhindert haben!“
Gehlen ließ sich wieder zurück in den Futon fallen. Für einen kurzen Moment erkannte ich eine gewisse Unsicherheit in seinen Augen, als wäre er sich doch nicht so sicher, was und wie viel Hitler wusste. Seine Stimme blieb dennoch sehr bestimmt. „Der Endsieg?“ Er lachte tatsächlich ein wenig. „Der Endsieg? Ich hatte im Baltikum Partisanen, die eine Woche auf ihren Tod warteten, anstatt zu reden. Ich hatte vor den Erschießungskommandos Russen, die uns zuzwinkerten und ukrainische Mädels, die unseren Soldaten die Penisse abbissen. Russen, die sich in Gruppen von Zehntausenden opferten, für ihr Vaterland!“
Der einzige und wahre Feind sei der Russe und der sei schwer auszumerzen. Von einem jemals möglichen Endsieg zu reden sei lächerlich, denn er, Herr Hitler, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, die neue Ordnung, die entsteht. Er, Herr Hitler, habe gegen die Russen und die Kommunisten versagt. Er erkenne nicht, was getan werden müsse, dass sich die Weltordnung ändere und man entsprechend darauf reagieren müsse. Abschließend fügte Gehlen hinzu: „Ich werde diesen Fehler nicht begehen, wenn es sein muss auch mit der Hilfe der Amerikaner!“ Er wurde jetzt ebenfalls lauter und fing an zu schwadronieren. Sie stritten. „Es ist sowieso alles egal“ rief Gehlen „die Oligarchie wird das Heft wieder in die Hand nehmen und der Adel wird sich seiner alten Vorrechte wieder bemächtigen! Und ehrlich gesagt, dieses Gespräch geht mir langsam auf die Nerven…
Sind Sie nicht selbst erschöpft, Herr Hitler? Bei dem Drogencocktail, den Sie täglich zu sich nehmen, ist Ihr Erscheinungsbild ehrlich kein Wunder! Ebenso die Tatsache, dass Sie komplett die Kontrolle über sich, das Militär und das Land verloren haben! Verdammt noch mal, wie konnten Sie das alles so vermasseln? Wie unfassbar inkompetent und naiv kann man agieren? Sie selbst haben doch nur Ihre eigenen Ziele verfolgt!“ Lapidar beendete Gehlen seine Anklage: „So was erkennt man eben doch nur, wenn man auf der Militärakademie war, da können Sie einfach nicht mitreden…“.
Mit einer abwinkendenden Handbewegung fiel Hitler ihm schnippisch ins Wort: „Ach, Herr Gehlen, was soll das? Sie sind doch auch nicht besser, wie viele tausende sind in Ihren Folterkammern gestorben, durch Ihre eigenen Gestapo-Methoden? Wir haben ebenfalls Akten über sie angelegt. Sie stehen unter Drogen und über die Zeiten des »belebenden Pervitins« sind sie schon lange hinaus … und Ihr Stab ist so dauergrinsend Tag und Nacht am Arbeiten oder was weiß ich was … das spricht doch für sich!“ Hitler haspelte und verlor offenbar den Faden. Vor der Tür hörte man Lärm, Männer, Waffen. Hitler fuhr fort: „… ganz im Gegenteil, man sagt mir, bei Ihrer Gefolgschaft läuft alles über eins zusammen. Von Moral und Ehre hat Euresgleichen doch keine Ahnung mehr. Ihr Mitläufer seit dem Herdentrieb unterworfen. Und wenn dann ein etwas größerer Bock wie Sie, Herr Gehlen, das Haupt hebt, haltet Ihr ihn sofort für eine Leitfigur. Ihr seid Witzfiguren und es ist nie zu spät, die Welt von Euch Theoretikern zu befreien!“ Der Tumult vor der Tür war jetzt nicht mehr zu überhören, es waren offenbar eine Menge Menschen.
Gehlen ließ sich einem Moment Zeit, aber nur aus rhetorischen Gründen, dann legte er los: „Ach, Herr Hitler … ja, wir sind über das belebende Pervitin weit hinaus, und ja, dass eine Gruppe von Schafen einem geilen, dummen Bock folgt, das hatten wir bereits. Meine Freunde und ich, wir haben eine Wirkstoffkombination gefunden, die noch das 21. Jahrhundert bestimmen wird. Wir haben sie an tausenden SS-Angehörigen und zehntausenden russischen Gefangenen getestet, bis sie ausgereift war. Es ist eine überragende Kombination aus Hydroxybutansäure, Lysergsäure-Diäthylamid und Pseudoephedrin, dabei gibt es praktisch keine Beeinträchtigung für die Gesundheit, wenn man sich sonst zusammenreißt. Und die Steigerung der kognitiven Fähigkeiten überragt alles, was es bisher gab. Mal abgesehen davon, dass man sich hervorragend fühlt, in jeder Hinsicht!“
Er referierte dabei ganz selbstbewusst und von sich selbst überzeugt.
„Das ist Ihrem Cocktail aus Amphetaminen, Morphemen und klassischem Meth um Jahrzehnte voraus, Mal davon abgesehen, dass Sie davon nichts mehr haben und Ihre neun Gramm Opium und sieben Gramm Heroin, die Sie noch verzweifelt unter Ihrer Bettmatratze verstecken, gemeinsam mit Ihren peinlichen Schmuddel-Bildern, wohl keine Woche mehr reichen werden!“, prophezeite Gehlen ohne Regung, danach schwieg er.
Ich erstarrte und schwitzte am ganzen Körper. Erneut fragte ich mich, ob ich wirklich hierhergehörte oder ob überhaupt noch jemand wusste, dass ich anwesend war. Eine unheimliche Stille lag in der Luft. Die Atmosphäre war zum Zerschneiden und vibrierte förmlich. Hitler sah Gehlen eindringlich und fuchsteufelswild an. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er auf und prustete: „Egal, genug, aus, vorbei! Sie sind jetzt dran, Schluss mit der Sonderbehandlung! Ich werde persönlich dabei sein, wenn man die Erde von Ihrer Pestilenz befreit. Und wenn es verdammt noch mal mein letzter Befehl sein sollte, er gilt Ihrem Tod, Gehlen, man muss die Welt vor Ihnen beschützen! Sie sind ein teuflisches Geschwür!“ Er war schon fast an der Tür, um Gehlen und damit wohl alle, die bei ihm waren, die ihn liebten oder die für ihn gedient hatten, sofort liquidieren zu lassen, da war es Gehlen, der erneut ruhig und gelassen eingriff:
„So, mein lieber Herr Hitler, Sie machen sich jetzt bitte nicht unglücklich! Denken Sie, ich komme ohne Absicherung zu Ihnen? Denken Sie wirklich, dass ich so dumm bin? Bevor Sie sich selbst unsägliches Leid antun bitte ich Sie, in aller Form, sich zuvor diese Akte anzusehen.
Weil ich jetzt keine Zeit und keine Lust mehr auf Ihre Faxen habe! Weil wir alle Idioten wie Sie so leid sind! Bitte glauben Sie mir, mein Tod, oder der Tod irgendeiner anderen Person, wird an dieser Akte und ihren Konsequenzen nichts ändern. Ihre einzige Chance ist es, sich diese Akte anzusehen, unseren Entlassungsbefehl zu unterschreiben und uns gehen zu lassen. Sonst kann ich nichts mehr für Sie tun!“ diagnostizierte er und hielt Hitler die Akte hin. Dabei wirkte er wie ein besorgter Chefarzt beim Verkünden einer schweren Krankheit.
Ich bekam nun endgültig keine Luft mehr, ich konnte nicht glauben, was passierte. Wie er mit ihm sprach! Ich war so damit beschäftigt, mich nicht zu bewegen, nicht aufzufallen, die Situation keinesfalls zu beeinflussen oder zu unterbrechen, dass ich der Leichenstarre nahe war. Hitler stand wie angewurzelt an der geöffneten Türe, draußen sah man mehrere schwerbewaffnete Lanzer, die nun verdutzt hereinblickten.
Man konnte erkennen, dass Hitler grübelte.
Er überlegte, ob er wirklich gerade einen eminent wichtigen Fehler beging, oder ob Gehlen ihn schlichtweg überlistete. Offensichtlich war er dann aber der Überzeugung, dass es wohl besser sei, der Akte wenigstens einen Blick zu gönnen. Er warf die Tür wieder zu, ich hatte Angst, er erwischt die Soldaten draußen. Langsam ging er auf Gehlen zu und entriss ihm die Akte. Ich atmete tief ein. Er öffnete sie, ohne hineinzusehen, sah weiter nur Gehlen an. Schließlich raunte er: „Mal sehen, was Sie Spinner da haben!“.
Und dann blickte er hinein, sehr lange sogar.
Und wenn er zuvor zerfurcht aussah,
dann schien er jetzt vollkommen in sich zusammenzufallen. Hitler erstarrte, er fror regelrecht ein, als würde jede Lebensenergie aus ihm entweichen. Seine Lippen und Hände zitterten, er sah aus, als wolle er weinen! Dann ließ er die Akte fallen. Ich sah, dass drei großformatige Fotos und ein Schreiben herausfielen. Die Gesichter einer hübschen Frau, eines blonden Buben und eines ebenso blonden Mädels, wahrscheinlich Zwillinge, beide etwa vier, fünf Jahre alt, lächelten mich an. Zunächst verstand ich es nicht. Dann plötzlich wurde mir klar, wen ich vor mir sah. Und Sie werden es auch wissen.
Der Führer fiel zurück in den Stuhl.
Er sagte nichts, er sank einfach zusammen. Es war Gehlen, der aufstand und alles wieder zusammensammelte. Er legte die Fotografien in die Akte zurück, das Schreiben für die Entlassung seiner selbst und dem Großteil seines Stabes jedoch oben auf. Er machte einen Schritt auf Hitler zu, legte den Stapel auf den Tisch und holte langsam seinen Füllfederhalter aus der Jacke. Er drehte diesen auf, legte ihn neben den Stapel und flüsterte trocken:
„Die Fotos, Herr Hitler, können Sie behalten. Aber bitte nicht den Füllfederhalter, der ist mir ans Herz gewachsen.“ Hitler beachtete ihn nicht, starrte den Hund auf seinem Schreibtisch an, dann blickte er hilfesuchend zu Friedrich dem Großen, bevor er seine leeren Augen wieder auf den vor ihm liegenden Auflösungs- und Entlassungsbefehl richtete.
Gehlen führte weiter aus: „Mein Nachfolger wird Wessel, er wartet bereits draußen. Er wird alle Ihre Befehle ausführen, wie belanglos sie auch sein mögen und er wird den Rest der Fremde Heere Ost repräsentieren. Wir beide, wir werden uns nie wiedersehen, das verspreche ich. Wenn ich Sie jetzt um die Unterzeichnung bitten darf? Und keine Angst wegen Ihres kleinen Geheimnisses, von denen ich übrigens viele kenne. Informationen verleihen Macht, wieso also sollte ich sie einfach so weitererzählen? Sie müssen sich keine Sorgen machen, das Ehrenwort gebe ich Ihnen als deutscher Soldat, der im Feld gedient hat.“
Hitler reagierte nicht auf das Gesagte, er bewegte sich kaum, als er unterschrieb. Dann legte er den Füllfederhalter wieder hin und faltete seine Hände in den Schoß. Gehlen nahm den Entlassungsbefehl und steckte diesen in die Innentasche seiner Uniform. Während er den Füllfederhalter sorgfältig und langsam wieder zudrehte, sah er zu mir herüber und deutete an, dass wir jetzt doch lieber schnell gehen sollten. Ich stellte mich rasch hinter ihn. Er selbst blickte nochmals zu Hitler und rief: „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Hitler“ als hoffte er auf gute Genesung.
Dann öffnete er die Tür. Waffenstarrende Soldaten musterten uns, man wartete auf den Abtransport zum Standgericht. Als Gehlen öffnete, standen die Lanzer und Stabsangehörigen mit gezogenen Pistolen absolut perplex vor der Tür. Ein Wunder, das sie nicht noch das Ohr an der Tür hatten oder sich versehentlich ein Schuss löste. Alle blickten fragend zu Hitler. Dieser hob nach einem kurzen Moment den Kopf und keuchte:
„Alles in Ordnung meine Herren, Herr Gehlen kann jetzt gehen.“ Die Verwirrung stand jedem ins Gesicht geschrieben, keiner wusste, was er tun oder denken sollte.
In dieser grotesken Situation drückte sich plötzlich Goebbels durch die Gruppe und schrie:
„Können wir das Schwein jetzt erschießen? Ich will es selbst machen!“ Er schaute seinen großen Führer an, die umherstehenden der Leibgarde und die Stabsoffiziere. Er erkannte die Verwirrung, dass hier etwas nicht stimmte, wartete vergebens auf irgendeine sinnvolle Antwort oder Anweisung.
Am Ende war es nur Hitler, der abwinkte:
„Nein, Josef … Nein!“
Gehlen nutzte umgehend die Situation und wir stürzten mit energischen Schritten hinaus. Dabei rumpelte Gehlen gekonnt Goebbels an, wie kleine Jungs auf dem Schulhof. Wir drängten uns an der Gruppe vor der Tür vorbei und hetzten im Stechschritt durch die klinisch reinen Flure zum Vorbunker. Überall gab es verwunderte Blicke, wir sollten hier nicht rausgehen.
Aber es gab niemanden, der uns Einhalt gebot. Ich selbst war zu verwirrt, um klar zu denken, ich folgte nur. Mit Wessel und unserem Trupp gingen wir aus dem Bunker hinaus und stiegen sofort in unsere Wagen. Durch das geöffnete Fenster sagte Gehlen noch zu Wessel: „Halt durch, wo ich kann halte ich meine schützende Hand über dich. Wenn es zu eng wird, setzt dich ab! Du weißt ja, wo du uns findest.“ Wessel nickte, dann salutierte er vor Gehlen. Es war das erste Mal an diesem Tag, das jemand dem anderen die Ehre des Saluts zuteilwerden ließ. Wieder hielt ich eine dieser Erkenntnisse fest.
Mit rasendem Tempo sausten wir davon. Im Auto sah Gehlen mich prüfend an, dann fragte er kühn lächelnd: „Na, mein Lieber, das war ja was, oder?“
Er versuchte lässig zu wirken, rauchte aber schnell eine Zigarette und trank einen Schluck aus einem Flachmann. Ich erwiderte natürlich nichts und er blickte ohne ein weiteres Wort entweder in meine Augen oder aus dem Wagen. Wir redeten auch nichts mehr,
bis ich ihn in Bad Reichenhall ablieferte.
Ich danke Gott dafür, dass er mir die Möglichkeit gegeben hat, diese schlimme Zeit zu überstehen, da ich zu jung war, um zu wissen, dass man nicht im Krieg sterben sollte. Ich danke Gott dafür, dass ich Vorgesetzte und Fürsprecher hatte, die mich 1945 vor späten Einsätzen bewahrt haben. Vielen Dank, Reinhard von Gehlen! Vielen Dank, dass Sie mich aus dem Führerbunker wieder herausgebracht haben! Und fahren Sie zur Hölle, dass Sie mich dorthin mitgenommen haben!