Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 10

5. KAPITEL

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Das kann er doch nicht machen!

Zehn Minuten nach Julias Anruf schritt Jordan auf die Bäckerei von Eddie und Dina Winter zu.

Ein Wagen fuhr vorüber, aus dessen geöffnetem Fenster ein kleiner Arm hing. „Hallo Herr Pastor!“, rief ein Kind.

Jordan winkte und antwortete: „Euch einen schönen Tag, meine Lieben!“

Dann überquerte er die Straße und betrat den Laden. Das Ehepaar Winter stand sich hinter der Theke gegenüber, und sofort spürte der Pastor, dass dicke Luft herrschte.

Dina machte ein geradezu verdrossenes Gesicht. Ihr Mund war zu einem schmalen Strich verzogen, während aus Eddies Augen zornige Blitze schossen und seine Körpersprache signalisierte, dass er kurz davor war, nach irgendetwas zu greifen und damit um sich zu werfen.

„Guten Morgen“, sagte Jordan an beide gewandt. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Doch, alles in Ordnung“, brummte Eddie und verschwand in der Backstube.

Dina zog die Schultern nach oben und wollte gerade etwas sagen, als die Ladentür erneut aufging.

Ein Mann trat ein, ruhig und selbstsicher, mit dunklem, kurzem Haar und auffallend blauen Augen. „Guten Morgen.“ Seine Stimme klang angenehm rau, mit niedersächsischem Einschlag.

„Guten Morgen, Herr Holz“, entgegnete Jordan freundlich, dem nicht entging, dass Dina rot wurde und offenbar nicht wusste, wo sie hinsehen sollte.

In der nächsten Sekunde schon lenkte Margot, die Dorfälteste, die Aufmerksamkeit auf sich, als sie den Laden betrat, was etwas länger dauerte, weil man mit einhundertundeins Jahren halt mal nicht mehr die Schnellste ist. Glücklicherweise griff Edna Gabriel, die zur gleichen Zeit in die Bäckerei wollte, ihr resolut unter die Arme.

Kaum war die Tür hinter den beiden zugefallen, drehte sich die alte Margot in Fritz Holz’ Richtung, was den dünnen, grauen Dutt auf ihrem Hinterkopf bedenklich hin- und herschwanken ließ. Ihr beinahe zahnloser Mund glich nur mehr einer Einbuchtung zwischen Hakennase und vorstehendem Kinn. „Guten Morgen, Fritz. Sag mal, was machst du jetzt eigentlich? Ich meine, jetzt wo dein Chef, der Jürgen, na ja … tot ist und die Schlachterei geschlossen.“

Der Mann mit den blauen Augen hob die Schultern. „Vielleicht mache ich endlich Nägel mit Köpfen und ziehe weg aus Wittenrode. Es gibt überall Arbeit für einen fleißigen Mann. Ich denke nicht, dass ich auf dieses Kaff angewiesen bin. Kein Mensch ist das.“

Die Dorfälteste wandte sich an Pastor Jordan. „Wenn das so weitergeht, bin ich bald die Letzte, die in diesem Dorf noch die Stellung hält. Entweder ziehen die Leute weg oder sie verlassen uns eines natürlichen Todes – oder sie werden umgebracht.“

„Na, na“, machte er.

Betont unbekümmert unterbrach Dina Winter von ihrer Seite der Ladentheke: „Zwei Stück Kuchen, wie immer, Herr Pastor?“

„Natürlich. Eins mit Schokolade und eins mit Kirsche, bitte.“

Sie nickte, griff nach einer Papiertüte und machte sich daran, die Teilchen einzupacken, während Edna Gabriel von Jordan wissen wollte: „Konnten Sie eigentlich schon mit Evelyn sprechen? Sie tut mir so leid. Dass ausgerechnet ihr Sohn so grausam sterben musste …“

Der Pastor nickte und seufzte leise. „Es geht ihr natürlich gar nicht gut. Sie ist zutiefst erschüttert.“

Dina reichte ihm die gefüllte Papiertüte. „Tragisch ist das. Einfach nur tragisch. Und nicht zu glauben. Macht eins achtzig.“

Jordan zählte Kleingeld in seiner Handfläche ab, reichte es ihr und wandte sich dann in Richtung Tür. „Ich muss weiter. Sie wissen ja, viel zu tun.“

„Wer kümmert sich eigentlich um die Beerdigung?“, fragte Edna in seinen Rücken.

„Ich“, antwortete Jordan, ohne sich umzudrehen. „Ich werde mich darum kümmern. Evelyn ist dazu augenblicklich nicht in der Lage …“ Wieder machte er einen Schritt nach vorne und wollte die Tür öffnen.

„Die Beerdigung meine ich nicht“, sagte Edna. „Ich meine die andere. Die von dieser … dieser …“

„Sie meinen die Beerdigung von Kerstin Jakob?“ Nun wandte der Pastor sich doch noch einmal um. „Auch darum werde ich mich kümmern. Immerhin war auch sie ein Mitglied dieser Gemeinde. Und da diese Gemeinde meine Gemeinde ist und ich nicht möchte, dass …“ Er brach ab. „Nun ja, ich habe ihre Freunde bereits verständigt. Sie werden an der Beerdigung teilnehmen. Trotz allem noch einen möglichst angenehmen Tag, meine Damen. Auf Wiedersehen, Herr Holz.“

Die kleine Schockwelle war beinahe hörbar. Alle bemühten sich geflissentlich, einander nicht in die Augen zu sehen.

„Das kann er doch nicht machen!“, entfuhr es Edna. „Das ist doch ein Verbrechen! An Gott, dem Herrn, an …“ Sie brach ab.

„Du siehst doch, dass er es kann.“ Dina wandte sich an Fritz Holz. „Zwei belegte Brötchen, Fritz?“

Er nickte.

„Ja, aber darf er das denn überhaupt?“ Edna wollte sich gar nicht mehr beruhigen. „Ich meine, darf man denn so eine überhaupt christlich beerdigen?“ Sie stockte und fügte hinzu: „Also, normal ist das nicht.“

Weder Dina noch Fritz Holz sagten etwas dazu. Die alte Margot verdrehte die Augen und meinte: „Geht das heute noch weiter? Ich bin über hundert Jahre alt. So viel Zeit hab ich nicht mehr.“

Fritz Holz griff nach der Papiertüte, die Dina ihm reichte, und warf ihr noch einen letzten Blick zu. „Bis bald.“ Dann verließ er den Laden.

Dina sah ihm einen Augenblick versonnen hinterher, dann riss sie sich zusammen und wandte sich an die Dorfälteste: „Zwei Brötchen wie immer, Margot?“

Die Alte nickte. „Weiche Brötchen. Du weißt ja, ich kann nicht mehr so gut kauen.“

Edna Gabriel schaute in der Zwischenzeit zu, wie ein Streifenwagen vor dem Laden hielt und Arnulf Ebeling mit seinem unproportionierten runden Bauch und einem Kopf, der eine bedenkenswerte Ähnlichkeit mit einer Glühbirne hatte, ausstieg.

Wenige Sekunden später trat er durch die Tür und sagte: „Guten Morgen, meine Damen. Gibt’s noch belegte Brötchen, Dina? Schnell bitte, ich hab einen Notfall.“

„Komisch“, brummte Margot, „dass bei dir immer ein Notfall herrscht, wenn es ums Essen geht und du nicht warten willst, Arnulf.“

„Ich bin Polizist“, wandte Ebeling sich an die Alte. „Bei mir herrschen immer Notfälle.“

„Wirklich? Kann mich nicht erinnern, dass du dich je um einen gekümmert hättest. Aber bitte …“ Die Alte seufzte theatralisch. „Esse ich meine Brötchen eben im Himmel, da ich vorher nicht mehr dazu kommen werde.“

„Mit Leberwurst?“, wandte Dina sich an den Dorfpolizisten.

„Natürlich. Wie immer.“ Ebeling kramte in seinen Hosentaschen nach Geld. „Wenn sonst schon nichts so wie immer ist.“

„Pastor Jordan wird die Kerstin christlich beerdigen“, bemerkte Edna hinter ihm.

„Nun ja, das ist sein Job, nicht wahr?“ Der Blick des Dorfpolizisten lag weiterhin auf dem Kleingeld in seiner geöffneten Hand. „Und immerhin ist sie ja jetzt tot.“

„Ja, aber das ändert doch nichts daran, dass …“ Edna suchte ungläubig nach Worten: „Dass sie den Jürgen kaltblütig … Also, ich meine, dass sie ihn ermordet hat. Und dass sie eine …“ Sie senkte die Stimme. „Du weißt schon. So eine war. Eine Satanistin.“

Ebeling schwieg und betrachtete weiterhin die Münzen.

„Hast du heute schon in die Zeitung gesehen?“, schaltete Dina sich in das Gespräch ein.

Jetzt sah Ebeling auf und nickte. „Ich fürchte, die ganze verdammte Welt hat heute Morgen in die Zeitung gesehen.“ Die Schlagzeile hatte sich über die gesamte Breite des oberen Teils der Seite gezogen, die Buchstaben etwa drei Zentimeter groß. Der Bericht beinhaltete einen kleinen Abschnitt über Kerstin Jakob, einen etwas größeren über den ermordeten Jürgen Jakob und einen wirklich großen Teil über das kleine Örtchen Wittenrode in Niedersachsen. Den „Teufelsort“. Das „Dorf des Bösen“. Ein Bild, das sich nun endgültig in alle Köpfe einbrennen würde.

„Man kann so eine … Sache nun mal nicht geheim halten.“

Dina warf Ebeling einen düsteren Blick zu. „Ja. Und jetzt wird alles wieder von vorne losgehen.“

„Nichts wird wieder losgehen“, widersprach er sofort. „Kalis hat sich damals umgebracht. Kerstin ist auch nicht mehr am Leben. Es wird nicht wieder losgehen.“

„Hoffentlich.“

Ebeling bezahlte seine belegten Brötchen und wiederholte: „Es wird nicht wieder losgehen.“

„Hoffentlich“, sagte Dina ebenfalls noch einmal und nahm das Geld entgegen.

Von dem, was sich im Laden abspielte, bekam Eddie Winter nichts mit. Er arbeitete in der Backstube und hing dabei seinen Gedanken nach. Er war immer noch wütend auf Dina, weil sie ihm vorhin widersprochen hatte. Das mochte er nicht. Das mochte er überhaupt nicht. Sowieso hatte er das Gefühl, dass sie sich in den letzten Wochen immer mehr verändert hatte.

Eddie lächelte kühl. Aber nein, das bildete er sich nur ein. Sie war ihm immer noch treu ergeben, wie es ihre Pflicht war als gute Ehefrau.

Er dachte an die Dina, die er vor zwanzig Jahren geheiratet hatte, damals das Prunkstück der ledigen Mädchen in Wittenrode. Zweiundzwanzig war sie gewesen, zwölf Jahre jünger als er, schön und viel eleganter als die anderen dämlichen Weiber im Ort. Außerdem war sie liebenswürdig, zurückhaltend und keine Spur eigensinnig. Eddie hingegen war schon immer geltungsbedürftig und herrschsüchtig. Vielleicht war er gerade deshalb so hingerissen von Dina – abgesehen davon, dass er Geld für seine Schulden brauchte. Dina würde die Bäckerei ihres Vaters erben und das war doch ein Geschäft, oder nicht?

Dinas Vater konnte Eddie nie leiden. Bis zu seinem Tod fand er die Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter mehr als ungesund, was er allerdings nie aussprach. Er war schlau genug und hatte auf den ersten Blick erkannt, dass er Dina nur noch weiter in Eddies Arme getrieben hätte, hätte er gegen ihn vom Leder gezogen. Also war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Eddie gegenüber gestelzt liebenswürdig zu sein und lediglich wie besessen zu husten, wenn er unzufrieden mit der Situation war. Da er ständig unzufrieden war, hustete er beinahe ununterbrochen. Als er dann erfuhr, dass Dina und Eddie heiraten wollten, kam er aus dem Husten gar nicht mehr heraus. Das würde nicht gut gehen. Und bereits die Hochzeit hatte die schlimmsten Befürchtungen auch schon bestätigt.

Eddie war schon bald nach der Trauung nicht mehr in der besten Laune, denn er hatte überhaupt keine Lust auf das ganze „Wittenroder Pack“. Er wollte so schnell wie möglich mit Dina allein sein und sie sich nehmen. Immerhin hatte er ja lange genug darauf gewartet. Deshalb pfiff er auf jede Diplomatie, betrank sich zuerst maßlos und bot den Hochzeitsgästen dann ein Schauspiel, indem er ihnen betrunken entgegenschrie, dass er und Dina jetzt nach Hause gingen, weil er „Lust zu ficken“ hätte. Kurz darauf war er mit ihr verschwunden und riss ihr zu Hause auch tatsächlich wenig romantisch den Schlüpfer herunter, um sie zu entjungfern.

Ob Dina sich ihre Hochzeitsnacht anders vorgestellt hatte, das wusste Eddie nicht. Er hatte sie nicht gefragt. Das tat er bis heute nicht. Wenn er Lust hatte oder sich langweilte, dann war sie zur Stelle. Sie war schließlich seine Frau.

Zusammengefasst könnte man sagen: Eddie liebte Dina gnadenlos und launisch.

Warum sie, die sie doch eigentlich eine grundehrbare und vernünftige Person war, ihn, der er sie beinahe von Anfang an auf jede nur erdenkliche Art und Weise hinterging, nicht längst verlassen hatte, das überstieg die Vorstellungskraft jedes logisch denkenden Menschen. Jedes Menschen, außer Eddie, denn der dachte über so etwas nicht nach. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass die Ehe für Dina schon lange ein Albtraum sein könnte. Noch nicht einmal in dem Moment, in dem sie ihn auf dem alljährlichen Schützenfest hinter einer der Schießbuden dabei erwischt hatte, wie er es mit heruntergelassenen Hosen heftig mit einer anderen Frau trieb … noch nicht einmal da bemerkte Eddie die Anzeichen in ihren Augen. Und dabei hatte er ihr damit zum ersten Mal nicht wie üblich nur einen Nadelstich, sondern gleich einen ganzen Keulenschlag versetzt.

Aber so ist das eben, wenn sich ein Mensch für den Mittelpunkt des Universums hält. Für Eddie war klar, dass es gut war, so wie es war, und dass er und Dina sich niemals trennen würden. Diese Ehe würde nichts und niemand auseinanderbringen.

Zugegeben, dies alles hatte wenig mit Liebe zu tun. Es ging um Besitz. Dina gehörte Eddie, so sah er es und so benahm er sich. Sie gehörte ihm und weiter dachte er nicht darüber nach.

Noch nicht.

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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