Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 5

PROLOG

Оглавление

August 1987

Samstag, kurz nach Mitternacht

„Sicher, dass sie hier entlanggelaufen ist? Ich kann, verdammt noch mal, nichts sehen!“

„Ich bin mir sicher. Weiter!“

Sie hörte die Stimmen und schlug die Augen auf. Obwohl es fast vollständig dunkel war, erkannte sie die Schatten der Bäume um sich herum, kalt und unheimlich. Kleine Lichter kreisten ein Stück entfernt und verschwanden dann wieder.

Erneut die Stimmen.

„Sie steckt hier irgendwo, ich weiß es.“

„Schneller.“

Es dauerte noch einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es sich bei den Lichtern um Taschenlampen handelte und dass sie in einem Wald auf dem Boden lag. Und bis sie endlich begriff: Sie suchten sie.

Eine Serie von Bildern schwirrte durch ihren Kopf. Sie hatten sie entführen wollen und sie hatte sich befreit. Irgendwie war es ihr gelungen zu fliehen. Und jetzt waren sie auf der Suche nach ihr.

Schritte waren zu hören. Körper schoben Äste beiseite. Die Lichtkegel der Taschenlampen fegten über Boden und Bäume. Als einer der Kegel über sie hinwegglitt, wurde sie für einen Moment in weißes Licht getaucht.

„Warum hast du sie auch abhauen lassen?“

„Du hast auch nicht aufgepasst.“

Sie zwang sich, ganz ruhig liegen zu bleiben, sich nicht zu bewegen, selbst das Atmen verbot sie sich.

Dann herrschten für einen Augenblick wieder Dunkelheit und Stille. Eine Stimme in ihrem Kopf befahl ihr zu laufen. So schnell wie möglich. Sie richtete sich auf, schwankte, taumelte.

„Ich seh sie. Da ist sie!“

Sie bündelte all ihre Energie, alles was sie noch an Kraft in sich hatte, doch gerade als sie sich in Bewegung setzen wollte, wurde ihr schwarz vor Augen.

„Ich hab sie. Hab ihr eine vor den Latz geknallt!“

„Gut. Halt sie fest!“

Körper warfen sich auf sie und drückten sie zurück auf den Waldboden. Instinktiv schloss sie die Augen, weil sie in diesem Moment spürte, dass es ab jetzt keine Hoffnung mehr gab.

Gleich darauf fühlte sie einen feuchten, heißen Mund an ihrem Ohr: „Warum bist du weggelaufen? Du weißt doch, dass du nicht entkommen kannst. Du bist auserwählt.“

Die Stimme war so scheußlich, so kalt, so grausam, dass sie die Augen doch noch ein letztes Mal öffnete. Sie hätte es nicht tun sollen. Denn so war das Letzte, was sie in ihrem viel zu kurzen Leben sah, das Gesicht des Teufels, das überlegen grinste.

Sonntag

9:36 Uhr

Wenn es einen Tag gab, der nicht für die Lebenden gemacht war, dann war es dieser. Überall Blaulicht und Streifenwagen, außerdem ein Notarztwagen, und die Spurensicherung war auch schon bei der Arbeit.

Kriminalhauptkommissar Wolfgang Lange ließ den Wagen ausrollen und zog die Handbremse an. Es hatte angefangen zu regnen. Er stieg aus und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

„Da bist du ja.“ Sein Kollege Ta Quok wandte sich zu ihm um, als er ihn kommen hörte.

Lange kratzte sich am Kinn. „Was haben wir?“

„Das Opfer ist weiblich. Mitte zwanzig. Nackt. Das Gelände wird gerade nach ihrer Kleidung und persönlichen Gegenständen abgesucht, aber bis jetzt haben wir noch nichts gefunden. Sicher ist bis jetzt nur, dass es sich um eine Urlauberin handelt.“ Ta Quok setzte sich in Bewegung, hielt das Absperrband in die Höhe und sie liefen nebeneinander durch den Wald.

„Wie bei den anderen beiden?“, fragte Lange.

„Ja. Auch ihr wurde die Kehle durchgeschnitten.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Eine Spaziergängerin. Oder besser: der Hund einer Spaziergängerin. Die beiden haben den Schock ihres Lebens bekommen.“

„Verständlich. Welcher Rechtsmediziner?“

„Madame.“

Lange zog die Augenbrauen hoch. „Wie ist ihre Laune?“

Ta Quok lächelte dünn. „Sprich sie nicht an, ehe sie dich anspricht.“

Wenige Meter entfernt standen uniformierte Polizisten und unterhielten sich gedämpft. Dahinter bewegten sich Beamte der Spurensicherung in weißen Overalls auf Händen und Knien langsam über den Boden. Ein weiterer hantierte mit einem Scheinwerfer. Als er die beiden Kriminalbeamten entdeckte, kam er auf sie zu und sagte: „Der Täter muss ziemlich viel Blut abgekriegt haben. Vielleicht hat er eine Spur hinterlassen, die uns zu ihm führt. Der Fährtenhund ist gerade dort drüben.“ Er deutete in Richtung des dichten Waldes. „Und versucht, die Blutspur zu verfolgen.“

„Welcher Staatsanwalt ist zuständig?“, wollte Lange wissen.

„Wagner“, antwortete Ta Quok. „Dieses Mal hat er es sich nicht nehmen lassen, sich die Sache persönlich anzusehen. Müsste jeden Augenblick hier sein.“

Beim Tatort angekommen, rieb Lange sich über die Augen, doch als er die Hand wieder senkte, war das Bild vor ihm immer noch dasselbe: Über einem provisorisch aufgebauten Altar thronte ein schwarzes, auf dem Kopf stehendes Kreuz, mit einem Jesus, der düster zu ihnen heraufsah, als könne er selbst nicht glauben, was sich letzte Nacht direkt vor seinen Augen abgespielt hatte. Auf dem Altar lag eine nackte Frau, Hände und Füße mit Klebeband fixiert – wobei ihre Finger ineinander verschränkt waren, als würde sie ein letztes Mal beten –, und starrte mit leeren Augen in die Baumwipfel. Ihre Kehle war von links nach rechts durchschnitten und es schien keinen Zentimeter um sie herum zu geben, der nicht voller Blut war.

„Ist sie so gefunden worden?“, wollte Lange wissen.

Ta Quok nickte.

„Wurde sie missbraucht?“

„Dem ersten Anschein nach nicht. Allerdings hat der Mörder wieder seine … Markierung hinterlassen. Siehst du? Er hat es mit einem Messer in ihren Bauch geritzt.“

Lange nickte langsam. „Ein Pentagramm.“

„Jepp. Das Zeichen der Seelenräuber.“

Die Luft um sie herum schien geradezu erfüllt von Grauen und nervöser Ratlosigkeit. Beide waren sie sich sicher, den Herzschlag des Bösen im Wald hören zu können.

„Ich versteh das einfach nicht“, sagte Ta Quok nach ein paar Sekunden. „Ein Serienmörder, ausgerechnet in Wittenrode? In dem Kaff, in dem die Zeit stillsteht?“

Lange warf ihm einen düsteren Blick zu.

„Entschuldige, aber ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet hierher gezogen bist. Ich meine, hier gibt es nichts. Eine Straße führt rein und wieder raus. Die heiraten nur untereinander und bleiben durch und durch unter sich. Unglaublich, dass es so ein Nest in der Nähe einer Stadt gibt. Wie weit ist Hannover von hier entfernt? Zwanzig Kilometer?“

„Achtundzwanzig“, sagte Lange. „Und immerhin ist dieses Nest, wie du es nennst, bei Urlaubern sehr beliebt. Die Ferienhäuser, direkt am Wittenroder See gelegen, sind jedes Jahr ausgebucht.“

„Waren“, gab Ta Quok zurück. „Drei bestialische Morde innerhalb von zwölf Stunden dürften erst einmal das Ende des Wittenroder Tourismusbooms bedeuten.“

„Ja“, gab Lange zu. „Da hast du wohl recht.“

„Wissen Sie“, hörten sie eine Stimme hinter sich, „ich bin kein Kirchgänger und ich bin auch nicht wirklich gläubig, aber ich hab immer an die Existenz des Teufels geglaubt. Daran, dass er in der Welt ist und Böses tut. Und wenn ich das jetzt sehe, dann weiß ich, dass ich recht hatte.“

Lange und Ta Quok wandten sich um und sahen sich einem groß gewachsenen, schlanken Mann Anfang vierzig gegenüber, mit dunklen Haaren und markantem Gesicht.

„Herr Staatsanwalt“, grüßten sie, fast wie aus einem Mund.

Unruhig zog Sven Wagner an einer Zigarette, deren Asche er in die linke Handfläche schnippte, um den Tatort nicht zu kontaminieren. Mit starrem Gesicht betrachtete er die Leiche. „Zwar handelt es sich dieses Mal um eine Frau, aber wir sind uns wohl einig, dass es sich um denselben Täter handelt.“

Lange nickte. „Auch ihr wurde die Kehle durchgeschnitten, auch ihr wurde ein Pentagramm in den Bauch geritzt.“

„Außerdem der gleiche Altar“, fügte Ta Quok hinzu. „Das gleiche auf dem Kopf stehende Kreuz …“

„Und der gleiche Hass“, vollendete Wagner, „soweit ich das verstehe. Oder auch nicht verstehe.“ Er zog wieder an seiner Zigarette und inhalierte tief.

Frau Dr. Strickner kam auf sie zu und blieb bei ihnen stehen. „Wohl bekomm’s, Herr Staatsanwalt“, bemerkte sie in seine Richtung. „Ich dachte, Sie hätten aufgehört zu rauchen.“ Dann drehte sie sich so, dass sie alle drei ansehen konnte. „Bisher gibt es nichts, was diesen Mord von den beiden vorherigen Morden unterscheidet. Sieht man davon ab, dass das erste Opfer ein Kind war, das zweite Opfer ein junger Mann und dass es nun eine junge Frau getroffen hat, ist der Mörder seinem Muster treu geblieben. Er scheint nach der Tat wieder in Richtung Wald gelaufen und später im Wittenroder See verschwunden zu sein. Wenn es so war, dann wird auch diese Spur in einer Sackgasse enden.“

„Diese Abgebrühtheit“, murmelte Wagner. „Das jagt mir einen echten Schrecken ein.“

Nächster Tag

9:34 Uhr

„Also gut“, begann Diplompsychologe Dr. Hans-Peter Machleid und blinzelte in die Runde. „Die größte Zielgruppe für ritualisierende Satanisten sind Frauen. Sie können es aber auch auf Kinder und – wie in unserem Fall – auf Männer abgesehen haben. Das Böse lässt sich nicht eindeutig heterosexuell festlegen.“ Da sich sein Gesicht bei der letzten Bemerkung keinen Millimeter verzog, war schwer abzuschätzen, ob sie in irgendeiner Form mit Ironie versehen war. „Die Opfer wurden vermutlich im Vorfeld beobachtet und verfolgt“, sprach er weiter. „Der Täter kannte ihre Gewohnheiten und wusste, dass es eine Gelegenheit geben würde, sie alleine zu erwischen. Der Tatort – ein Wald – ist in diesem Fall nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Im Gegenteil, es wurde ein abgelegener Ort benötigt, damit er sich mit den Opfern die nötige Zeit lassen konnte. Ich würde davon ausgehen, dass sich der Mann – und wir können uns mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit auf einen Mann als Täter festlegen – in der Gegend auskennt. Vermutlich lebt und wohnt er in Wittenrode – oder in der näheren Umgebung des Ortes – und beobachtet aufmerksam das Voranschreiten der Ermittlungen, wie Serientäter es häufig tun.“

„Was ist mit den Opfern?“, warf Ta Quok ein. „Wir konnten keine Verbindung zwischen ihnen feststellen. Ist das nicht ungewöhnlich? Ich meine, sie unterscheiden sich im Alter und im Geschlecht. Ein Kind, ein Mann, eine Frau. Sie kamen aus völlig unterschiedlichen Gegenden Deutschlands. Die einzige Gemeinsamkeit ist die, dass sie alle am Wittenroder See Urlaub machten.“

„Es gibt immer irgendetwas, was die Opfer eines Serienmörders miteinander verbindet“, antwortete Machleid. „Hier dürfte es der Ort sein, an dem sie ihm begegneten.“ Er sah in die Runde. „Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, meine Herren, ist getrieben von der Lust am Töten und ausgeprägter innerer Kälte. Er sieht seine Opfer nicht als Menschen, sondern als Vieh. Er genießt die Macht, über sie zu herrschen, über ihr Leben zu bestimmen, sie zu schlachten, wenn es ihm beliebt.“

Niemand sagte etwas. Fast schien es so, als würden alle den Atem anhalten.

„Was ihn antreibt“, erklärte Machleid weiter, „ist der Eindruck, den er hinterlassen will. Diese drei Verbrechen wurden sorgfältig inszeniert, um bei denjenigen, die sich das Szenario anschließend ansehen mussten, eine möglichst traumatische Wirkung auszulösen.“

„Das hat er geschafft“, murmelte Ta Quok.

„Gleichzeitig ist er ausgestattet mit überdurchschnittlicher Intelligenz und kühler Logik. Er ist voller Selbstvertrauen und scheint keine Angst zu haben. Vor allem, weil er sehr geordnet vorgeht. Um Ihnen das näher zu erklären: Im Allgemeinen lassen sich Tatorte in zwei Kategorien einordnen: geordnet oder chaotisch. In diesem Fall haben wir es mit einem geordnet vorgehenden Mörder zu tun, der die Taten plant und sich die Opfer sorgfältig aussucht. Das Fesseln mit Klebeband entspricht den Elementen der Kontrolle und der Planung.“

„Warum hat er die Opfer nicht missbraucht?“, schaltete Staatsanwalt Wagner sich ein. „Ich meine, geht es bei diesem Satanistenkram nicht eigentlich um Sex, Macht und Gewalt? Hier aber hat keinerlei sexuelle Penetration stattgefunden, bei keinem der Opfer. Es fand sich kein Sperma an den Tatorten, was bedeutet, dass der Täter auch nicht masturbiert hat, es sei denn in ein Kondom. Aber auch dieses Gefühl habe ich nicht.“

„Aller Wahrscheinlichkeit nach ist genau das Fehlen dieser sexuellen Handlungen der Schlüssel“, sagte Machleid. „Vielleicht wollte unser Mann, konnte aber nicht. Vielleicht wurde er unterbrochen.“

Ta Quok strich sich durch die kurzen, dunklen Haare. „Aber dass die Opfer nicht vergewaltigt wurden … könnte das nicht doch bedeuten, dass es sich bei dem Täter um eine Frau handelt?“

„Ich kann mir eine Frau als Täterin nur schwer vorstellen“, wandte der Psychologe sich an ihn. „Zum einen erforderte das Überwältigen der Opfer einen ziemlich großen Kraftaufwand und vor allem beim zweiten Opfer – Ronald Süß – dürfte es für eine Frau sehr schwer gewesen sein, ihn zu überwältigen. Zum anderen werden solch sadistische Verbrechen fast ausschließlich von Männern begangen. Weibliche Serientäter gibt es kaum, und wenn doch, sind es sogenannte ‚schwarze Witwen‘, die vorzugsweise mit Gift oder anderen heimtückischen Methoden arbeiten.“ Machleid wandte sich wieder an alle. „Begehen Sie nicht den Fehler, nach einem verrückten Einzelgänger zu suchen, meine Herren. Untersuchungen haben ergeben, dass rund die Hälfte dieser Männer verheiratet sind. Und fast alle haben Kinder.“

Stille stieg über den Köpfen auf und breitete sich im Raum aus.

So lange, bis Machleids Stimme erneut erklang: „Ich gehe davon aus, dass auch das nähere Umfeld unseres Täters nichts von seinem Hobby, dem Satanismus, weiß. Wahrscheinlich ist er der große Held in seinem Sportverein, ein liebevoller Vater und Ehemann. Er arbeitet vermutlich in einem Beruf, bei dem er mit anderen Menschen in Kontakt kommt, also ist er begabt im Umgang mit anderen. Möglicherweise hat er sich früher einmal asozial verhalten, aber das muss nicht unbedingt schwerwiegend genug gewesen sein, um aktenkundig geworden zu sein. Er besitzt ein gepflegtes Auto, ein schönes Haus. Alles schön sauber und ordentlich. Wenn Sie einen Durchsuchungsbefehl haben, dann achten Sie auf Gegenstände, die in Zusammenhang mit sexuell brutalem Verhalten stehen: Pornohefte, Videos. Er könnte seinen Opfern nicht nur die Kleidung, sondern auch andere persönliche Gegenstände entwendet haben. Suchen Sie auf jeden Fall nach Tagebüchern oder anderen Aufzeichnungen. Vielleicht enthalten sie Einzelheiten über die Opfer, über Fantasien, ja vielleicht sogar über die Verbrechen selbst.“ Machleid brach ab und holte tief Luft.

„Wird er es wieder tun?“, wollte Staatsanwalt Wagner wissen.

„Es ist anzunehmen. Vielleicht zieht er sich ab jetzt aber auch wieder zurück. Diese Möglichkeit besteht ebenso. Aber wenn Sie mich fragen, dann würde ich sagen, dass er seinen nächsten Schachzug bereits gründlich vorbereitet. Wenn Sie ihn nicht vorher erwischen, meine Herren, dann wird er einen wirklich großen Abdruck in der Geschichte der Verbrechen hinterlassen. Einen Abdruck, der für immer sichtbar sein wird.“

Drei Tage später

10:06 Uhr

Mit ausgesprochen schlechter Laune griff Polizeichef Kämmerer nach einer der Zeitungen auf dem Tisch und hielt sie in die Höhe.

„Herrschaften! Wir wissen ja, was wir von den Schmierfinken zu halten haben, die diesen Mist hier verzapfen. Aber wir müssen, verdammt noch mal, etwas dagegen unternehmen. Nur wie üblich zu verkünden, dass die Ermittlungen auf Hochtouren laufen, wird hier nicht reichen. Ich hatte heute Morgen bereits ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten. PERSÖNLICH! Natürlich zweifelt niemand an Ihnen und Ihrer Arbeit, aber Sie sollten sich auch im Klaren darüber sein, wie sehr der Ruf der niedersächsischen Polizei auf dem Spiel steht. Von jetzt an gehen wir alle mit mindestens 150 Prozent Einsatz an die Sache heran, damit das klar ist.“ Mit blitzenden Augen sah Kämmerer in die Runde. „Davon abgesehen sollte man ja meinen, dass es nicht allzu schwierig sein dürfte, einen solchen Verrückten dingfest zu machen, wenn wir erst einmal einen Verdächtigen haben. Wenn wir einen Verdächtigen haben.“

Lange meldete sich zu Wort: „Wir sind vollauf damit beschäftigt, sämtliche verfügbaren Unterlagen der letzten Jahre über Straftäter mit satanistischem Hintergrund zu sichten, die auf unseren Täter passen könnten.“

„Und kam etwas dabei heraus?“, wandte Kämmerer sich an ihn.

„Bruno Kalis.“ Lange schob eine Akte über den Tisch. „In Wittenrode aufgewachsen, im Waisenhaus. Machte nach seinem Abgang verschiedene Aushilfsjobs dort in der Gegend, ist aber nirgendwo lange geblieben. Hat zurzeit ein Zimmer auf einem Bauernhof, wo er auch arbeitet, etwa einen Kilometer von den Tatorten entfernt. Und: Er ist bekennender Satanist.“

„Vorstrafen?“

„Ja. Bitte sehen Sie sich die Akte an.“

Unter anderen Umständen wäre das Vorstrafenregister von Bruno Kalis mit ziemlicher Sicherheit belanglos erschienen. In diesem Fall jedoch war alles anders. Mit zwölf Jahren war er das erste Mal aufgefallen, als er einen seiner Mitschüler krankenhausreif geschlagen hatte. Keiner seiner Lehrer konnte sich den plötzlichen Gewaltausbruch erklären. Bis dahin war er nach mehrfach übereinstimmenden Aussagen ein stiller und zurückhaltender Junge gewesen. Lediglich seine schulischen Leistungen waren schon immer miserabel. Mit fünfzehn wurde Kalis bei einem Einbruch erwischt. Mit siebzehn der erste Raubüberfall, dann einige Zeit nichts mehr. In letzter Zeit allerdings war er wegen Störung der Totenruhe ein paar Mal aufgegriffen worden.

Mit dem Segen und Einverständnis von Staatsanwalt Wagner erhielten Lange und Ta Quok einen Durchsuchungsbefehl noch für denselben Morgen.

Fünf Stunden später

15:05 Uhr

Die angespannte Situation hatte sich nicht gerade positiv auf Bruno Kalis’ Erscheinungsbild ausgewirkt. Er war ohnehin schon kein schöner Mann, die Natur hatte ihm nicht viel geschenkt, nur ein mageres Gesicht mit hohlen Wangen und schmalen farblosen Lippen. Nun mischten sich zu all dem auch noch Schweiß und Angst. Reglos wie eine Statue verharrte er auf der Schwelle zum Vernehmungsraum.

Sie hatten ihm zu Hause nur ein paar Minuten gegeben, um das Nötigste zusammenzupacken, dann hatten sie ihn zum Auto gebracht. In Hannover wurde er dann in eine Zelle gesteckt, in der er beinahe vier Stunden lang auf der Kante einer Pritsche gesessen und gewartet hatte. Mehrmals trat er zwischendurch an das vergitterte Fenster und schaute hinaus. Dann ging er in der Zelle auf und ab, ehe er sich wieder auf die Pritsche setzte und weiter wartete. So waren die vier Stunden zu einer einzigen Wanderung zwischen Fenster und Pritsche geworden. Niemand war gekommen, um nach ihm zu sehen oder um ihm zu sagen, worum es eigentlich ging.

Jetzt schob ihn der Polizist weiter in den weißen, kahlen Raum, der keine Fenster hatte, hin zu einem Tisch und einem von zwei Stühlen. Widerwillig ließ Kalis sich darauf nieder.

Ta Quok betrat kurz nach ihm den Raum und stellte einen Pappbecher auf den Tisch. „Hier. Bitte.“

Kalis blickte gequält. „Danke. Darf ich … Kann ich eine Zigarette haben?“

„Nein.“

„Hören Sie, Sie schulden mir wenigstens eine Erklärung. Sie können doch nicht einfach bei Leuten einfallen und sie verhaften.“

Ta Quok ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder. „Sie wissen nicht, warum Sie festgenommen worden sind?“

„Nein.“

Ein Moment Stille.

Dann redete Ta Quok mit freundlicher, neutraler Stimme weiter: „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Kalis. Ich habe ein sehr gutes Gefühl und auf mein Gefühl konnte ich mich noch immer verlassen.“

„Ich verstehe nicht …“

„Wir sammeln jetzt alle Fakten, fügen ein Bild zusammen, und die Schlinge um Ihren Hals zieht sich enger und enger. Aber, wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen, denn alles wird sehr schnell gehen. Rein in den Gerichtssaal, eins, zwei, drei, und – hast du nicht gesehen – sind Sie wegen dreifachen Mordes verurteilt und dürfen sich für den Rest Ihres Lebens auf Staatskosten den Wanst vollschlagen.“

„Was?“ Wie von der Tarantel gestochen fuhr Kalis in die Höhe. „Nein!“

„Setzen Sie sich wieder hin.“

Widerwillig tat Kalis wie geheißen.

„Also, womit fangen wir an?“ Ta Quok öffnete die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Wie wäre es mit Grazia Habisch?“

„Wer ist das?“

„Das dritte Opfer.“

„Kenn ich nicht.“

Ta Quok seufzte und schüttelte nun doch eine Zigarette aus der Packung. Dazu fischte er ein Feuerzeug aus der Hosentasche. Beides reichte er an Kalis weiter. „Ich habe heute meinen netten Tag. Genießen Sie es, solange Sie es noch können.“

Kalis zündete sich die Zigarette an und zog heftig daran. „Was faseln Sie da von Mord? Ich hab niemanden ermordet.“

„Wir haben aber die sicheren Beweise dafür, dass es doch so ist. Also, sagen Sie mir, nach welchen Kriterien Sie Ihre Opfer ausgesucht haben.“

„Ich hab gar niemanden ausgesucht. Das ist eine Verwechslung. Sie müssen mich verwechseln.“

Ta Quok strich sich übers Kinn. „Sie sollten die Gelegenheit jetzt unbedingt nutzen, Herr Kalis, und beweisen, dass Sie diese Chance auch wirklich verdienen. Die drei getöteten Menschen hatten keine. Also, kommen Sie, erleichtern Sie Ihr Gewissen und …“

„Halten Sie den Mund! Ich hab ein reines Gewissen, da gibt’s nix zu erleichtern. Das ist beschissene Polizeiwillkür!“

Ta Quok deutete auf die Tätowierung, die Kalis’ Hals von links nach rechts überzog: EVIL. „Nette Tätowierung.“

Kalis schwieg.

„Sie sind als Vollwaise im Heim aufgewachsen, richtig? Haben Ihre Eltern nie kennengelernt.“

Kalis schwieg weiter.

„Das war eine verdammt schwierige Zeit, oder?“

Kalis widerstand dem Impuls, unbehaglich auf seinem Stuhl herumzurutschen. „Ja. Kann man so sagen.“

„Gelernt haben Sie nichts. Ich meine, einen Beruf?“

„Nein.“

Ta Quok schwieg einen Moment, dann sagte er: „Es heißt, Sie würden gerne mal einen über den Durst trinken. Und nicht nur einfach so, aus Genuss. Nein, Sie trinken so lange, bis Sie einen Blackout haben.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich Blackouts habe? Ich hab seit ewigen Zeiten nichts mehr getrunken, und wer was anderes behauptet, der lügt.“

Ta Quok sah aufrichtig verblüfft aus. „Aber warum sollte das jemand tun?“

„Ich hab keine Ahnung. Stellen Sie die Frage dem Lügner, nicht mir.“ Kalis brach ab, als er begriff. „Sie wollen mir anhängen, ich hätte im Suff gemordet, richtig?“

„Sie können sich doch nicht erinnern, haben Sie gerade gesagt.“

„Spielen Sie keine Spielchen mit mir, okay? Sie haben gesagt, ich hätte Blackouts. Ich habe gesagt, dass ich seit ewigen Zeiten nicht mehr trinke. Und wenn ich das sage, dann ist das so. Und wenn ich sage, ich hab niemanden umgebracht, dann ist das auch so. Ende der Durchsage.“

Ta Quok beugte sich etwas nach vorne. „Ich spiele keine Spielchen, Herr Kalis. Ich bin weit davon entfernt. Es geht hier um drei Menschen, die ermordet wurden. Nein, nicht nur ermordet. Sie wurden dem Teufel geopfert.“

„Ich hab damit aber nichts zu tun. Ich will jetzt mit einem Anwalt sprechen.“

Ta Quok setzte sich wieder zurück, machte sich ein paar Notizen und ließ Kalis so eine Weile schmoren. Dann sah er wieder auf und sagte: „Wenn Sie es nicht waren, dann beweisen Sie uns Ihre Unschuld. Wir wollen ganz genau wissen, was Sie zu den Tatzeiten gemacht haben. Wir wollen bis auf den Zentimeter genau jeden Ihrer Aufenthaltsorte wissen.“

„Scheiße, ich will jetzt einen Anwalt. Sie basteln sich das jetzt alles grad so zurecht, wie Sie’s brauchen, damit ich da auch wirklich nicht mehr rauskomme. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und hatte eine beschissene Kindheit, okay. Im Dorf bin ich der Außenseiter, okay. Und ich interessiere mich für schwarze Messen, okay. Aber das ist ja wohl noch kein Verbrechen.“

Ta Quoks Stimme veränderte sich nicht. „Nein, aber Mord ist ein Verbrechen. Sagen Sie mir, was ist das für ein Gefühl, einem Menschen den Hals durchzuschneiden? Ist das ein ganz besonderer Kick? So eine Art Orgasmus obendrauf?“

Kalis atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe.

„Wir haben die Kleidungsstücke der Opfer bei Ihnen gefunden“, setzte Ta Quok hinterher. „Sind Sie sich im Klaren darüber, was das für Sie bedeutet?“

„Das Zeug muss mir untergeschoben worden sein.“

„Aber natürlich.“

Noch einmal atmete Kalis tief durch. „Egal, was ich sage, Sie glauben mir sowieso nicht. Ich will jetzt mit einem Anwalt sprechen.“

„Sie werden einen Anwalt bekommen, keine Sorge. Und Sie haben recht, ich glaube Ihnen tatsächlich nicht. Ich glaube nämlich nicht an Zufälle. Sie hätten weiter Ihre schwarzen Messen abhalten und Hühner köpfen sollen, oder was auch immer Sie dabei sonst so veranstalten, aber das mit den Menschenopfern, das war ein Fehler. Davon abgesehen … Wenn es diesen mysteriösen Dritten tatsächlich gäbe, von dem Sie behaupten, er hätte Ihnen die Kleidungsstücke untergeschoben – um wen könnte es sich dabei wohl handeln?“

Kalis saugte den letzten Rest Nikotin aus dem Stummel und drückte ihn dann im Aschenbecher aus. „Ja, das finden Sie mal raus. Sie sind doch die Polente. Kann ich noch eine Zigarette haben?“

Ta Quok schüttelte noch eine Zigarette aus der Packung und reichte sie an ihn weiter. „Das ist jetzt wirklich Ihre letzte Chance. Wir nageln Sie so oder so fest. Aber wenn Sie reden, Kalis, dann können Sie vielleicht noch etwas von Ihrer Ehre retten, falls Sie so etwas haben. Zeigen Sie Reue, das kommt bei den Richtern immer gut an. Wenn nicht, wird man denken, dass Sie ein perverses Arschloch sind, das es verdient hat, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen.“

„Sagen Sie mal, hören Sie mir zu? Ich hab niemanden umgebracht!“

„Glauben Sie im Ernst, dass Sie jetzt noch davonkommen, Kalis? Wir brauchen Ihr Geständnis nicht. Im Gegenteil, wir haben alle Beweise, die wir brauchen.“

Speichel sprühte aus Kalis’ Mund. „Ich war es nicht! Und das könnt ihr mir, verdammt noch mal, auch nicht anhängen!“

Am 13. Januar 1988, zwei Tage nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft plus anschließender Sicherheitsverwahrung, erhängte Bruno Kalis sich in seiner Zelle.

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

Подняться наверх