Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 14
9. KAPITEL
ОглавлениеAlles ganz anders
„Die Edna, die hört das Gras wachsen“, so redeten die Einheimischen über Edna Gabriel, die Putzfrau. Und sie hatten damit nicht unrecht. Während sie den Teppich im Speiseraum der Pension saugte, dachte Edna darüber nach, dass sie gar nicht nachzählen mochte, wie viele Jahre sie in Wittenrode das Gras schon wachsen hörte. Sie saugte in der Ecke und seufzte dabei leise auf. Wie sehr wünschte sie sich ihren verstorbenen Mann zurück, und wenn es nur für ein paar Tage gewesen wäre. Mit wem sollte sie über ihre Ängste und Beobachtungen sprechen, wenn nicht mit ihm? Blieb nur Pastor Jordan. Und das hatte Edna dann auch getan.
Sie war zu ihm gegangen und hatte ihm gesagt, dass sie den Teufel gesehen hatte. Oder … Nun ja, zumindest glaubte sie, ihn gesehen zu haben. Seinen Schatten. Bei sich zu Hause. Im Badezimmer.
Jordan hatte nur die Augenbrauen gehoben und nichts gesagt.
„Ich schwöre“, beharrte Edna. „Ich habe ihn gesehen.“
„Frau Gabriel“, hatte Jordan gedehnt und ohne das kleinste Lächeln angesetzt. Im Grunde war der Pastor ein gut gelaunter Mensch, der gerne lachte, aber wenn es um solche Themen ging, dann war er immer vollkommen ernst und konzentriert. Nun ja, das gebot wahrscheinlich die Ernsthaftigkeit des Themas. Da galt es, höchst aufmerksam und kritisch zu bleiben. „Was macht Sie so sicher, dass er es war?“
„Ich habe es gespürt.“
Jordan nahm den Blick nicht von Edna. „Sie wissen, man sollte vorsichtig sein mit solchen Dingen. Sonst fängt man an, sich auf das zu verlassen, was man zu spüren glaubt, und kann dadurch in die Irre geführt werden. Ich will damit sagen, dass es gefährlich ist, sich auf ein vermeintliches Gespür zu verlassen. Das Gefühl der gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit kann selbst eine Täuschung sein. Wir müssen Disziplin wahren und Gottes Gebote achten, das ist unsere größte Stärke.“
Edna verstand kein Wort, nickte aber heftig.
„Stellen Sie immer Ihre Vernunft über Ihre Intuition“, redete Jordan weiter. „Hüten Sie sich vor Eingebungen.“
„Aber wenn es nun eine göttliche Eingebung ist?“, wollte Edna wissen.
Jordan nahm den Blick immer noch nicht von ihr. „Wie beurteilen Sie, dass sie göttlich ist?“
Edna erstarrte. „Also war es doch der Teufel.“
Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen.
„Was ich sagen will“, setzte Jordan dann noch einmal an, „ist, dass wir uns stets bemühen müssen, den wahren Gott zu erkennen. Das Böse erzählt uns Lügenmärchen. Das Böse erscheint uns plausibel. Wir müssen uns vor allem hüten, was man als Fehlinformation bezeichnen könnte.“
Edna nickte wieder heftig, obwohl sie immer noch nichts verstand.
„Es ist wichtig, das richtige Augenmaß nicht zu verlieren, Frau Gabriel“, redete Jordan weiter. „Wenn wir solche Erscheinungen dramatisieren, wenn wir mit fuchtelnden Armen gegen die Mächte der Finsternis wettern, wenn wir sie zu wichtig nehmen … dann ist das zu viel der Ehre.“
„Sie meinen also, ich habe gar nichts gesehen?“, fasste Edna zusammen.
„Es ist sehr viel passiert in den letzten Tagen“, sagte Jordan und erhob sich. „Trotzdem hätte ich es gerne, dass Sie bei der nächsten Versammlung dabei sind. Vorsorge ist besser als die Sorge danach, nicht wahr?“
Die Rezeption war nicht besetzt. Julia betrat den Frühstücksraum, wo eine hagere Frau in einer blauen Kittelschürze einen Staubsauger über den ausgeblichenen Teppich schob.
Die Wände waren mit braunem Holz vertäfelt und wirkten ausgesprochen bedrückend. Julia konnte sich nur schwer vorstellen, hier mehr Zeit als nötig zu verbringen. Sie rief der Frau in der Kittelschürze etwas zu, aber die hatte ihr den Rücken zugewandt und hörte sie nicht. Erst als sie ihr auf die Schulter tippte, schrak die Frau zusammen und schaltete den Staubsauger aus. „Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!“
„Entschuldigung. Mein Name ist Julia Wagner. Ich hatte heute Nachmittag angerufen, wegen eines Zimmers.“
Edna zuckte mit den Schultern. „Ich bin hier nur die Putzfrau. Warten Sie, ich hole die Chefin.“ Damit verschwand sie in einem Hinterzimmer und kehrte mit einer Frau um die fünfzig, das Haar weißblond und so hell, dass es silbrig schimmerte, wieder. Sie saß in einem Rollstuhl und ihre Beine waren in eine Decke eingeschlagen. Aufmerksam sah sie Julia aus hellen blauen Augen an.
„Julia Wagner“, sagte Julia noch einmal. „Ich hatte heute Nachmittag angerufen, wegen eines Zimmers.“
Die Frau nickte. Mit der Routine eines Menschen, der es nicht anders gewohnt war, bewegte sie ihren Rollstuhl hinter die Empfangstheke. „Mein Name ist Ursula Faber. Sie sind hier wegen der Beerdigung, richtig?“
Julia nickte.
„Das ist eine wirklich tragische Geschichte.“ Während die Besitzerin der Pension ein Buch aufschlug und ein paar Eintragungen machte, fügte sie ohne aufzusehen hinzu: „Ihre beiden Freunde sind im Ort unterwegs.“ Dann reichte sie einen Schlüssel über den Tresen. „Gehen Sie bis zum Ende des Ganges. Dort ist eine Treppe, die nach oben zu den Zimmern führt. Ihres ist ganz hinten links.“
Damit war das Gespräch beendet und Julia machte sich auf den Weg nach oben.
Als sie das Zimmer betrat, stellte Julia fest, dass auch hier schon lange kein Geld mehr für eine Renovierung ausgegeben worden war.
Die Wände zierte eine rosa Blümchentapete, links stand ein altes Holzbett, dessen Bettdecke ein Rosenmuster zeigte, gegenüber eine alte Couch, ein ebenso alter Sessel mit Schottenkaromuster und ein kleiner runder Tisch. Die Lampe an der Decke summte und sirrte und es gab zwei billige Picassodrucke an den Wänden und einen runden Spiegel mit abgeplatztem Goldrand. Auf dem Nachttisch stand ein altertümliches, schwarzes Telefon, das in jedem Agatha-Christie-Krimi eine perfekte Mordwaffe abgegeben hätte. Julia inspizierte das Gerät einen Moment irritiert, dann trat sie hinaus auf einen kleinen Balkon. Der Wald gegenüber wirkte bedrohlich bei dem grauenhaften Wetter.
Vielleicht, überlegte sie, ist das ja alles nur eine Halluzination. Vielleicht spielt sich das alles nur in meinem Kopf ab. Vielleicht wache ich morgen früh auf, bin wieder an der Ostsee, Kerstin ist noch am Leben, und Pastor Jordan hat nie angerufen.
Sie ließ die Balkontür offen, um das Zimmer durchzulüften, ging wieder hinein und betrachtete sich im Spiegel an der Wand. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen wirkten in diesem Moment nicht mehr hellbraun, sondern schwarz. Sie wandte sich ab, schritt zum Bett, ließ sich auf die Kante sinken – und zuckte zusammen, als das Zimmertelefon klingelte.
Einen Moment starrte Julia das Telefon an und das Telefon starrte zurück. Dann nahm sie ab. „Hallo?“
Am anderen Ende war nur ein leises, gleichmäßiges Atmen zu hören.
Falsche Nummer, entschied sie und legte auf.
Zeit, es anzugehen und sich selbst zu einem Teil dieser vermeintlichen Halluzination zu machen.
Gerade wollte Julia das Zimmer wieder verlassen, als das Telefon erneut klingelte. Zornig nahm sie den Hörer noch einmal ab und zischte: „Was?“
Am anderen Ende meldete sich eine männliche Stimme. „Julia?“
„Pastor Jordan? Haben Sie eben schon mal angerufen?“
„Nein.“
„Und woher wissen Sie, dass ich schon da bin?“
„Ich bitte dich, Julia, wir befinden uns in Wittenrode. Die Leute wussten, dass du im Ort bist, noch bevor du es selbst wusstest.“ Er sagte es, als sei es das Natürlichste der Welt. „Wollen wir uns in einer halben Stunde treffen? Ist das in Ordnung für dich?“
„Natürlich. Und wo?“
„Im ‚Eck‘. Das ist die Dorfkneipe, falls du dich noch erinnerst. Dort kann man gut sitzen und reden.“
„Okay“, sagte Julia. „In einer halben Stunde bin ich da.“