Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 7
2. KAPITEL
ОглавлениеGrausiger Fund
Drei Stunden später, um kurz vor Mitternacht, steuerte Arnulf Ebeling, die linke Hand lässig auf das Lenkrad gelegt, den Streifenwagen durch die nächtlichen Straßen Wittenrodes. Ruhig, wie ich es liebe, dachte er zufrieden.
Die Straßenlampen warfen strichförmige Schatten auf der Motorhaube des Wagens. Er drosselte das Tempo, blinkte, bog rechts ab und verließ die Hauptstraße. Nun fuhr er in Richtung Wohnviertel. Vor ihm lag die leere Straße, die langsam breiter wurde, dann kam er bereits zu den ersten Einfamilienhäusern. Es war vollkommen still. So still, dass er den Kies unter den Reifen knirschen hörte.
Wenn er mit der Fahrt fertig war, würde er sich etwas zu essen machen, überlegte er, Brot mit hausgemachter Wurst, und einen Blick in den kleinen Fernseher werfen, den er auf der Wache stehen hatte. Vielleicht würde er sich auch ein kleines Bier gönnen und danach ein Nickerchen machen.
Am Ende der Sackgasse wendete Ebeling den Streifenwagen und während er mit Fernlicht zurückfuhr, kniff er mit einem Mal die Augen zusammen. „Was, zum …?“
Wie aus dem Nichts stand auf einmal eine Frau mitten auf der Straße, mit zerzaustem Haar und wehendem dünnem Kleid. Im Licht der Scheinwerfer konnte der Polizist ihre aufgerissenen Augen erkennen und einen Mund, der offen stand und ein schwarzes Loch bildete.
„Verdammte Scheiße!“ Reflexartig trat Ebeling auf die Bremse. Als er zum Stehen kam, passte keine Zeitungsseite mehr zwischen den Wagen und die Frau.
Sofort sprang er aus dem Auto. Er kannte sie, natürlich. Jeder kannte jeden in Wittenrode.
„Was, um Himmels willen, tust du mitten in der Nacht auf der Straße?“, fuhr er sie an.
Die Frau antwortete nicht, sah ihn nur mit großen, verweinten Augen an, die fast aus den Höhlen zu fallen schienen.
Unsicher leckte Ebeling sich über die Lippen. Dann trat er einen Schritt an sie heran und bemerkte erst jetzt, dass ihr dünnes Kleid voller Blut war. Augenblicklich wich er wieder zurück. „Meine Güte! Was ist passiert?“
Die Zähne der Frau klapperten. „Er liegt … drinnen. Im … Esszimmer.“
„Wer?“
„Jürgen. Ich habe ihn … umgebracht.“
Wäre es besser gewesen, wenn er vorher gewusst hätte, was ihn im Haus erwartete?
Später dachte Ebeling noch oft darüber nach, dass er das Haus vermutlich niemals betreten hätte, hätte man ihm vorher gesagt, was er dort vorfinden würde. So aber machte er einen Schritt nach dem anderen, ließ das Wohnzimmer hinter sich und betrat das Esszimmer.
Und dann sah er. Sprachlos vor Entsetzen starrte er auf den Leichnam, der nackt vor ihm auf dem Boden lag. Sein Blick fiel auf das Messer daneben und auf das viele Blut. Der ganze Raum stank förmlich danach.
Ebeling war so erschrocken, dass es ihm den Atem nahm. Es war, als drücke eine eiserne Faust auf seinen Brustkorb und quetschte ihm alle Luft aus der Lunge.
Der Leichnam lag auf dem Rücken, sein Kopf hing zur Seite, die Kehle war von links nach rechts durchschnitten, das freigelegte Fleisch ein Wirrwarr aus mattroten Farbtönen. Die Augen, weit aufgerissen und blutunterlaufen, blickten erstaunt. Und verraten. Ja, sie blickten verraten. Und dann … Ebeling entdeckte es erst beim zweiten Hinsehen. Unterhalb des Nabels war etwas in den Bauch des Toten geritzt worden: ein Pentagramm.
Erinnerungsfetzen blitzten im Kopf des Polizisten auf. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, sah tanzende Punkte, Schatten und Geister. Keine Täuschung, sondern die Vergangenheit, die zurückkehrte, um die Gegenwart heimzusuchen. Da halfen weder Kopfschütteln noch Blinzeln.
Als er das verstanden hatte, spürte Ebeling einen Brechreiz in sich aufsteigen. Er stürzte rückwärts aus dem Esszimmer und durch die Haustür nach draußen. Vor der Tür beugte er sich nach vorne und übergab sich.
Kriminalhauptkommissar Wolfgang Lange lebte nun schon seit fast fünfundzwanzig Jahren in Wittenrode. Immer noch gebaut wie ein Terrier, mittelgroß, muskulös, kräftiger Nacken, kräftige Arme, mit millimeterkurzen Haaren, war er inzwischen Anfang sechzig und hatte nicht mehr lange bis zur verdienten Pension. Seine Laufbahn bei der Polizei war mustergültig verlaufen, er hatte einen tadellosen Ruf, galt als ehrlich und tüchtig. Vor allem aber war er 1987 dabei gewesen. Vermutlich deshalb war Ebeling der Meinung, dass es niemanden sonst gegeben hätte, den er unter diesen Umständen mitten in der Nacht hätte anrufen können.
Um fünfzehn Minuten nach Mitternacht wählte er Langes Nummer. „Tut mir leid, dass ich störe“, meldete er sich aufgeregt. „Ich bin bei den Jakobs – Jürgen und Kerstin Jakob. Sie hat ihn umgebracht, Wolfgang. Verstehst du? Sie hat ihn umgebracht. Du musst sofort herkommen. Du musst …“
„Ich komme“, antwortete Lange mit gefasster Stimme.
Als er zehn Minuten später auf das Haus zutrat, saß Ebeling auf der Treppe davor, den Kopf in die Hände gestützt.
„Zeig es mir, Arnulf.“
Ebeling ließ die Hände sinken, nickte und erhob sich langsam. Sein Gesicht hatte einen grünlichen Farbton. Wortlos ging er voraus ins Haus und zeigte auf die Leiche, die auf dem blutdurchtränkten Teppich lag.
Lange näherte sich vorsichtig und ging dann in die Knie, um sich den Toten genauer anzusehen. Er berührte das Blut mit dem kleinen Finger, um zu testen, wie trocken es war. Dann sah er wieder auf. „Hast du ihn angefasst?“
„Angefasst?“, stieß Ebeling aus. „Bist du verrückt? Ich bin rein und sofort wieder raus, um mich zu übergeben.“
„Hast du irgendetwas verändert?“
Erneutes Kopfschütteln. „Wie gesagt, ich bin rein und sofort wieder raus.“
„Wir brauchen die Kollegen aus Hannover.“ Lange richtete sich wieder auf. „Wo ist Kerstin?“
„Sitzt völlig paralysiert im Streifenwagen.“ Ebeling deutete in Richtung Fenster. „Ist mir quasi vors Auto gelaufen und will jetzt unbedingt verhaftet werden. Übernimmst du das, Wolfgang? Ich meine, Mord … das ist doch dein Gebiet. Und damals …“
Lange schwieg einen Moment, betrachtete noch ein letztes Mal die Leiche. Dann nickte er. „Ich werde mich darum kümmern.“
„Daran wird sich nur etwas ändern, wenn ihr mich weiterhin wählt.“ Wilhelm Raddatz, dessen Kopf auf dem gedrungenen Körper schon immer viel zu groß gewirkt hatte, trank das Bier in sich hinein, als wäre es das Leben selbst. Dann, als er das halbe Glas geleert hatte, fügte er hinzu: „Ich bin euer Bürgermeister. Niemand sonst interessiert sich für Wittenrode und die Menschen, die hier leben. Genau genommen sind wir denen …“
In diesem Moment stürmte Knut Hagen in die Kneipe. „Der Jürgen ist tot!“
Alle Köpfe wandten sich ihm zu.
„Schnaps. Doppelt.“ Hagen, ein groß gebauter Mann mit gelblich verfärbten Zähnen und viel zu großen Ohren für seinen kleinen Kopf, wartete auf den Alkohol, stürzte ihn dann hinunter und bekam einen Hustenanfall.
„Wenigstens hast du jetzt wieder in bisschen Farbe im Gesicht“, sagte Raddatz. „Und jetzt noch mal ganz langsam und von vorn, Knut.“
„Der Jürgen ist umgebracht geworden.“ Hagen wischte sich Schnaps vom Kinn und sagte zum Wirt: „Noch einen.“ Als das Glas kam, trank er es erneut in einem Zug leer. „Ebeling stand kurz nach Mitternacht mit Blaulicht vorm Haus der Jakobs. Lange war auch dort. Und auf einmal war da das ganze Aufgebot. Alles abgesperrt. Keine Chance mehr, auch nur in die Nähe des Hauses zu kommen.“
Raddatz kratzte sich am Kopf, kniff die Augen zusammen. „Der Jürgen ermordet? Kann ich mir nicht vorstellen. Muss was anderes passiert sein.“
„So? Und warum haben sie dann die Kerstin mitgenommen? Ich red nicht von irgendwas, Wilhelm, ich red von der Kri-mi-nal-po-li-zei, kapierst du das?“ Hagen bestellte sich noch einen dritten Schnaps. „Ich sag euch, jetzt ist es so weit. Das ist das, was wir immer befürchtet haben.“