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1. KAPITEL

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Nie gedacht

29. März 2010

20:30 Uhr

Es kam ohne Vorwarnung. Er verstand es noch nicht sofort. Erst als er das Messer in ihrer Hand sah und den starren, entschlossenen Blick, da begriff er und es erfüllte ihn mit Entsetzen. Er wollte sich wehren, wollte nach dem Messer greifen, doch es war zu spät. Es gab kein Entrinnen mehr, keine Möglichkeit, den Tod noch abzuwenden.

Seine Knie gaben nach, ihm wurde schwindlig. Er wusste, er hatte verloren, wehrte sich nicht mehr, nahm sein Schicksal an, und dann kam es ihm vor, als treibe er in der Tiefe eines Ozeans und fern über ihm schimmerte das Sonnenlicht auf dem blauen Wasser.

Endlich Stille.

Endlich Frieden.

Endlich schwiegen die Dämonen in ihm.

Kurz bevor sein Herz aufgab, nahm er noch einmal all seine Kraft zusammen und sagte den Namen der dritten Person im Raum. Er wusste, dass er den Namen aussprach, doch er hörte seine eigene Stimme nicht mehr.

Sein Herz hörte auf zu schlagen.

Es war vorbei.

Ihr Atem ging heftig, als sie zuerst auf das Messer in ihrer Hand und dann auf die Leiche zu ihren Füßen starrte. „Das … Das …“ Der Anblick war ihr unerträglich. Der Anblick seiner entstellten Leiche. Der Anblick seiner leeren Augen. Der Anblick des vielen Blutes auf dem Teppich, das sich immer weiter unter seinem leblosen Körper ausbreitete. Sie musste wegschauen.

„Du hast ihn umgebracht, Kerstin.“

Der Raum um sie herum schien zu schrumpfen. Sie machte den Mund auf und schloss ihn wieder, wollte sich irgendwo festhalten, aber sie fand keinen Halt. Sie schwankte.

Sofort stand er hinter ihr und fing sie auf. „Du musst dich setzen.“

„Ich habe … ihn umgebracht.“ Sie hörte den weinerlichen Klang ihrer eigenen Stimme. Ihre Unterlippe zitterte.

„Ja“, sagte er. „Du hast ihn umgebracht, Kerstin.“

Olivia Klose saß zur gleichen Zeit an ihrem Wohnzimmerfenster, die Hände im Schoß gefaltet, während ihr Gehstock an der Armlehne ihres Sessels lehnte. Von hier aus hatte sie einen guten Ausblick auf alle Häuser der Nachbarschaft. Ein Ausblick auf die anderen Menschen in Wittenrode, auf deren Alltagsleben, die großen und die kleinen Dinge, die das Leben so mit sich brachte.

Olivia selbst verbrachte mit ihren zweiundsiebzig Jahren die Zeit nur noch damit, hier am Fenster zu sitzen und zu warten. Eigentlich auf den Tod, doch der hatte sich leider noch nicht blicken lassen. Dafür kam Pastor Jordan hin und wieder vorbei und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

Bei seinem letzten Besuch hatte Olivia ihm erklärt, dass sie nach ihrem Tod so wenig Feierlichkeit wie möglich haben wollte. Am besten gar keine Feierlichkeiten. Sie wusste nicht einmal, ob sie einen Pastor bei ihrer Beerdigung haben wollte. Am besten auch keine Nachbarn. Niemand aus dem Dorf. Und schon gar keine Gebete.

„Wirklich, Frau Klose, sind Sie sich da ganz sicher?“, hatte Jordan gefragt, dem es zusehends unbehaglicher wurde.

Olivia hatte entschlossen genickt und hätte nun, bei der Erinnerung an die ehrliche Erschütterung im Gesicht des Pastors, eigentlich lächeln müssen. Doch sie tat es nicht. Kein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie war viel zu zornig.

Zornig, weil sie Hildchen nie wiedersehen würde.

Zornig, weil das Schicksal sie in diesem Teil der Welt geboren hatte.

Zornig, weil Gott sie nicht einfach sterben ließ.

Zornig, weil er all das hatte geschehen lassen.

Olivia ballte die knochigen Fäuste. All die Jahre hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Edna. Obwohl Edna, die drei Mal in der Woche bei Olivia putzte, eine gute Seele war. Sie arbeitete fleißig und besaß ein freundliches Wesen. Jedenfalls meistens. Gute Arbeit, gutes Herz.

Nur wenn Olivia hin und wieder Dinge vergaß, was in der letzten Zeit öfter vorkam, dann wurde Edna auch wütend. Dann erinnerte sie sie mit ihrem mahnenden Blick daran, dass sie alt war und gebrechlich und dass es an der Zeit war, darüber nachzudenken, das Haus aufzugeben und in ein Heim zu gehen.

Aber das würde Olivia niemals tun. Niemals würde sie dieses Haus verlassen. Nicht lebend. Sie würde hierbleiben, bis sie starb. Das sollte ihre Strafe sein.

In dieser Sekunde sah Olivia etwas im Haus gegenüber, was sie abrupt aus ihren Gedanken riss.

Unwillkürlich richtete sie sich auf. Blinzelte, griff nach ihrer Brille und setzte sie auf.

Konnte das wirklich sein? Oder spielte ihr altes, verkalktes Gehirn ihr nur wieder einen Streich?

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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