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8. KAPITEL

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Das Spiel beginnt

Wittenrode hatte nur etwa vierhundert Einwohner (davon über fünfzig Prozent dem Tod näher als dem Leben und die Kinder vom Waisenhaus mitgezählt, die Statistik würde sonst noch düsterer ausfallen) – trotzdem reichte es aus, um sich zu verfahren. Julia musste an einem verfallenen Bauernhof wenden, fand dann endlich die Abzweigung, die in die Ortsmitte führte, bog nach rechts ab und fuhr an einem Gebäude vorbei, auf dessen Front in bedrohlichem Schwarz stand: GRUNDSCHULE.

Sie fuhr weiter, einen Schotterweg entlang, überholte einen Traktor, und dann, endlich, tauchte die schmale Hauptstraße vor ihr auf. Sie passierte ein paar Geschäfte, wie sie in jedem kleineren Ort zu finden sind: ein Friseur, eine Bäckerei, eine Kneipe, eine – geschlossene – Schlachterei, und musste hart abbremsen, als ein paar Kinder gedankenlos die Straße überquerten.

Julia blinzelte, gab wieder Gas und dachte erneut an Kerstin. Wie lange hatte es wohl gedauert, bis sie tot war? Und was hatte sie dabei empfunden? Hatte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde gefragt: Was, zum Teufel, mache ich hier eigentlich? Hatte sie vielleicht doch noch nach Halt gesucht? Eben bist du noch am Leben, in der nächsten Sekunde bist du tot. Ein Schritt genügt. Aus.

Aber es gab noch viel mehr Fragen, die Julia beschäftigten. Zum Beispiel, ob Kerstin neue Freunde gefunden hatte, nachdem das „Kleeblatt“ sich in alle Richtungen zerstreut hatte? Und ob sie ihrem Mann alles – wirklich alles – von sich erzählt hatte? Hatte sie all ihre Geheimnisse mit ihm geteilt? Julia glaubte nicht daran. Irgendetwas hielt jeder zurück. Bei dem einen war es vielleicht nur etwas ganz Kleines, bei dem anderen war es ein regelrechter Dämon, der irgendwo tief in der Seele vergraben saß. Jeder Mensch tat sein Bestes, aber nicht alle waren dazu geschaffen, mit Schuld leben zu können. Kerstin war es offenbar nicht.

War sie einsam gewesen? Sie war einsam gestorben, das stand fest. Julia seufzte. Einsam, aber mutig, denn Kerstin musste große Angst vor dem gehabt haben, was nach ihrem Tod auf sie zukommen würde. Sie waren im Waisenhaus im Glauben an den Himmel erzogen worden und an sein Gegenstück, die Hölle, die gleich große und entgegengesetzte Kraft. Selbstmord war ihnen als Sünde verkauft worden. Und was geschah mit einem Sünder? Trotzdem hatte Kerstin keinen anderen Ausweg gesehen und von ihrem Leben Abschied genommen. Für immer.

Wie viele Geheimnisse hast du mitgenommen, Kerstin? Wie viele Geheimnisse, von denen nun niemand erfahren wird?

Als sie fünf Minuten später ihren Wagen auf einem Parkplatz abstellte, der „Nur für Gäste der Pension“ reserviert war, blieb Julia noch einen Moment im Wagen sitzen und blinzelte in den schräg fallenden Regen. Das Gefühl, das sich ihr in den nächsten Sekunden aufdrängte, war gleichzeitig vertraut und fremd: ein inneres Feuer, ein regelrechter Brand. Es kam von einem Punkt zwischen Magen und Brustkorb und legte alles in Schutt und Asche.

Unfassbar, dachte sie bei sich. Unfassbar, dass ich tatsächlich wieder hier bin.

Sie versuchte eine Zigarette an den Mund zu führen, doch ihre rechte Hand gehorchte ihr immer noch nicht. Sie versuchte die Finger zu spreizen, aber nicht das geringste Zittern verriet, dass das Signal des Gehirns durchdrang. Nichts.

Und so blieb sie sitzen, zwei Minuten, drei, bis sie sich förmlich dazu zwang auszusteigen – und sofort spürte sie Blicke auf ihrer Haut.

Sie drehte sich um, doch es war nirgendwo jemand zu sehen. Nur eine schwarze Katze, die durch die leere Straße streunte.

Instinktiv suchte Julia mit den Augen die Fenster der umliegenden Häuser ab.

Lieber Himmel! Ich bin noch keine fünf Minuten wieder hier und drehe schon durch.

Entschlossen straffte sie die Schultern und betrat die Pension.

Wenn sie gewusst hätte, wie recht sie mit ihrem Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Nachdenklich stand er hinter dem Vorhang, sah, wie Julia in der Pension verschwand, und in seinem Kopf herrschte dabei eine ungewöhnliche Stille.

Dann lächelte er das erste Lächeln des Tages, dachte darüber nach, wie er nun weiter vorgehen sollte.

Er dankte dem Schicksal, dass es ihm in die Hände gespielt hatte. Bis gestern hatte er noch vor dem schier unlösbaren Problem gestanden, wie man Julia Wagner dazu bewegen konnte, zurück nach Wittenrode zu kommen – an den Ort, den sie mehr hasste als irgendetwas sonst auf der Welt. Und das, ohne einen Verdacht zu erregen.

Er lächelte das zweite Lächeln des Tages.

Das Problem hatte sich mit Kerstins Selbstmord ganz von alleine gelöst.

Jetzt aber gab es das nächste Problem: Julia war wie ihr toter Vater – unberechenbar. Genau das war aber gleichzeitig auch ihre Schwäche. Sie liebte ihren Daddy, himmelte ihn an, auch – oder erst recht – über seinen Tod hinaus. Und genau da würde er sie packen.

Er verzog die Lippen zum dritten Lächeln des Tages.

Er würde ihre Seele brechen. Er konnte das, denn er wusste, wie es ging. Er presste die Stirn an die kühle Fensterscheibe, und für einen Moment schien es, als würde die Zeit stillstehen.

Ihm war klar, dass sein Plan immer noch schiefgehen konnte. Es war durchaus möglich, dass sie schon in der nächsten Sekunde ihre Koffer wieder packte und davonfuhr, ohne sich noch einmal umzublicken.

Eben unberechenbar.

Abwarten.

Mit Besessenheit und Liebe zum Detail begann er zu planen und Rollen zu besetzen. So lange, bis das Stück perfekt war.

„Willkommen zu Hause“, flüsterte er und lächelte das letzte Lächeln des Tages.

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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