Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 16

11. KAPITEL

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Stille Hoffnung, leise Drohung

Seit über einer Stunde putzte Petra Hagen nun schon unglücklich die Küche. Sie stand so sehr neben sich, dass sie beinahe vergaß, das Abendessen rechtzeitig in den Ofen zu schieben. Gott sei Dank ist er noch in der Kneipe, dachte sie bei sich und sah ihn vor sich, den grobschlächtigen Mann, der am Tresen saß und sich betrank, wie er es immer tat. Ihren Vater, Knut Hagen.

Sie versuchte sich zur Ordnung zu rufen, zur Ruhe zu kommen, indem sie ganz langsam durch die Nase atmete.

„Du musst nicht tun, was er dir sagt. Du bist erwachsen.“

Worte, an die Petra sich klammern wollte. Aber so einfach war es leider nicht. Sie spürte, wie es ihr in den Zähnen wehtat, wenn sie an ihren Vater dachte. Man mochte allen anderen etwas vormachen können, sich selbst etwas vormachen konnte man nicht.

„Petra, die Fliege“, das war sie. Immer unauffällig, wie die sprichwörtliche Fliege an der Wand, die zwar alles hört, der man aber keinen Blick schenkt.

Bei den Hagens fand ohnehin niemand Geschmack an unnötigen Gesprächen. Schon gar nicht Petras Vater, das Familienoberhaupt, das niemals in seinem Leben weiter als vom Hof bis zur Kneipe gekommen war. Verschlossen wie ein Geldtresor, das war er, und wen er übersah, der existierte nicht für ihn. Auch ein Wittenroder Talent, das nicht erlernt werden konnte.

Wenn Petra als Kind geweint hatte, dann meinte ihr Vater, dass sie das gefälligst in ihrem Zimmer tun sollte. Vor anderen mache man sich mit dem Geheule nur lächerlich. Petra wunderte sich, dass ihre Eltern zu den „anderen“ zählten. Denn wenn ihre Eltern die „anderen“ waren, wer gehörte dann zur Familie? Aber sie hatte die Lektion gelernt. Sie hatte nichts vergessen, besaß ein gutes Gedächtnis. Ein ausgezeichnetes sogar.

Noch heute erinnerte sie sich an eine Weihnachtsfeier in der Schule. Damals war sie acht Jahre alt gewesen und ihre Eltern erlaubten es ihr nicht, daran teilzunehmen. Es gäbe genug Arbeit auf dem Hof, meinte Knut Hagen, und Petra hatte sich schon damit abgefunden, als das Telefon klingelte und ihre Klassenlehrerin Frau Baakes anrief. Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, kündigte sie an, sie werde das Kind um 14:00 Uhr abholen. Und erschien dann auch tatsächlich um die besagte Zeit. Weder ihr Vater noch ihre Mutter legten sich mit der resoluten Lehrerin an. Sie wechselten lediglich ein paar Blicke.

Erstaunlich, dass Frau Baakes sich so für sie eingesetzt hatte, fand Petra noch heute, denn schüchtern und wenig selbstbewusst wie sie nun mal war, fand sie – selbst nach langem Nachdenken – noch heute keinen Grund, warum jemand sie mögen sollte. Sie empfand sich selbst als farblos, was sie auch tatsächlich war. Zu blass, zu dünn, die Augen wässrig, und zu all dem mangelte es Petra an Fantasie und Lebensfreude – was daran liegen mochte, dass es in ihrem bisherigen Leben nur wenig Freude gegeben hatte.

Ihre Mutter war gestorben, als sie zehn Jahre alt war, und in den Jahren darauf wurde ihr Vater immer launischer, tyrannischer, selbstsüchtiger. Was immer sie für ihn tat, es wurde kritisiert oder gar nicht erst beachtet.

So wurde das Leben außerhalb Wittenrodes mehr und mehr zu einer Fiktion für Petra. Unwirklich. Unerreichbar. Sie sah immer schlechter aus, genau genommen geradezu leichenhaft, was ihrem Vater nicht auffiel, dafür aber Margot, der Dorfältesten, bei einem der wenigen Male, die sie sich im Ort begegneten. Die Alte befand, dass das Mädchen etwas mehr Spaß bräuchte, aber Knut Hagen befand, dass seine Tochter weiß Gott genug Spaß hätte.

So begann Petra irgendwann an Flucht zu denken. Ein Zimmer oder eine kleine Wohnung in sicherer Entfernung vom Hof ihres Vaters, irgendwo in der Stadt, das wär’s gewesen. Aber so etwas erforderte Mut und noch mehr Durchsetzungsvermögen. Über beides verfügte Petra nicht und trotzdem hatte sie an einem Abend, bei einem der unzähligen schweigsamen Abendessen, gewagt, es auszusprechen. Und wenn sie hundert Jahre alt werden würde, was sie sich nicht wünschte, sie würde diesen Abend nicht vergessen.

„Ich denke darüber nach, wegzugehen und eine Ausbildung zu machen“, hatte sie gesagt.

Mit einer einzigen Bewegung hatte Knut Hagen daraufhin seinen Teller zur Seite gewischt, so heftig, dass er vom Tisch gefallen und auf dem Boden zersplittert war. „Du gehst nirgendwo hin.“ Dann war er aufgestanden und verschwunden und Petra war allein in der Küche sitzen geblieben. In diesem Moment wünschte sie sich zum ersten Mal, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass ihr Vater sterben würde. Dieser Gedanke war jedoch so schnell wieder verflogen, wie er gekommen war. Und wahrscheinlich hätte sie es sogar dabei belassen, wenn, ja wenn …

„Vielleicht kann ich eines Tages ja doch noch glücklich werden“, flüsterte sie sich selbst zu. „Vielleicht gibt es ja doch Gerechtigkeit.“

Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden, aber sie verbot es sich zu weinen, flüsterte nur noch einmal: „Vielleicht.“

Knut Hagen ahnte nichts von dem, was in seiner Tochter vorging. Selbst wenn er es geahnt hätte, es hätte ihn nicht interessiert. Er saß, einem Rausch gefährlich nahe, mit Wilhelm Raddatz an einem der Tische im „Eck“, als Eddie Winter die Kneipe betrat.

Der Bürgermeister hob eine Hand. „Hier!“

Eddie nickte, kam zu ihnen und nahm auf einem der freien Stühle Platz.

„Trink was“, sagte Hagen und klopfte ihm dabei auf die Schulter. „Bist noch viel zu nüchtern.“

„Was für dich zur Abwechslung auch mal nicht schlecht wäre“, bemerkte Raddatz mit düsterem Blick in seine Richtung.

„Ach was.“ Hagen winkte ab und gab dem Wirt ein Zeichen.

Keine zwei Minuten später legte Eddie eine Hand um ein kühles Bierglas und grinste. „Auf dich, Knut, und darauf, dass du die Schnapsbrennereien auf den Beinen hältst.“

„Die schon, nur sich selbst nicht“, bemerkte Raddatz ungnädig. „Hat einer von euch beiden die Evelyn in letzter Zeit gesehen?“

„Evelyn Jakob?“ Eddie kippte eiskaltes Bier die Kehle hinunter und stellte das Glas dann zurück auf den Tisch. „Nein. Wüsst auch nicht, was ich ihr sagen soll.“

Raddatz warf ihm einen finsteren Blick zu. „Beileid, vielleicht?“

„Scheiße, das alles“, sagte Hagen und versuchte sich zu konzentrieren. „Hab gehört, sie geht seit dem Mord an ihrem Jürgen nicht mehr aus dem Haus.“

„Was soll das scheiß Getue?“ Eddie schaukelte leicht mit dem Stuhl vor und zurück. „Der Jürgen ist tot, das ist blöd. Aber Kerstin hat den Mord gestanden und das ist doch das Beste, was uns passieren konnte, oder nicht?“

Raddatz’ Glas stockte auf halbem Weg zum Mund. „Wie meinst du das?“

„Wie ich’s gesagt hab.“

„Dann lass es und sag es nicht.“

„Ja, ja.“ Eddie lächelte kühl. „Ich weiß schon, Wilhelm.“

Einen Moment entstand Schweigen am Tisch. Dann griff der Bürgermeister nach seiner Pfeife und begann sie langsam und bedächtig zu stopfen. „Was weißt du, Eddie?“

„Dass die Kerstin dir gefallen hat. Mehr als das. Und durchaus verständlich, denn immerhin, hübsch war sie ja. Kein Wunder, dass du die Finger nicht von ihr lassen konntest.“

„Eddie, hör auf“, brummte Hagen dazwischen.

„Wieso? Stimmt’s etwa nicht?“ Eddies Blick lag unverwandt auf Raddatz. „Stimmt’s nicht, dass du dachtest, du könntest sie mit deinem Geld beeindrucken, Wilhelm? Hat nur leider nicht geklappt. Sie hat dich abblitzen lassen und das hat dich ziemlich wütend gemacht. War es nicht so? Du kannst es ruhig zugeben.“

„Willst du vielleicht irgendwas sagen, was du dich nicht traust auszusprechen, Eddie?“

„Und ob ich mich traue. Ich sag es genauso, wie es war: Sie hat dich abblitzen lassen und dir gedroht. Das hat dir ganz und gar nicht gepasst, also hast du ihr auch gedroht. Deshalb hat sie dich doch angerufen, ein paar Stunden bevor sie verhaftet wurde, richtig?“

„Halt jetzt die Klappe, Eddie“, warnte Knut Hagen noch einmal.

„Man könnte Kerstin ja viele Motive unterstellen“, sprach Eddie unbeeindruckt weiter. „Rache, Boshaftigkeit, Geld. Aber das hat sie alles gar nicht interessiert. Sie wollte einfach nur die Wahrheit. Die Wahrheit, weil’s halt mal die Wahrheit ist.“

„Du bist wirklich ein kluger Mann, Eddie“, ätzte Raddatz. „Aber du bist auch ein Idiot.“

„Ach was?“, zischte Eddie zurück. „Kann man mit der Wahrheit etwa keine Existenzen zerstören?“

Einen Moment sahen sie sich in die Augen. Eddies Blick sagte: Ich weiß es. Und vielleicht werde ich mein Wissen irgendwann gegen dich einsetzen.

Im selben Moment sahen sie es beide noch einmal vor sich: Jenen Tag, an dem Eddie unerwartet das Haus des Bürgermeisters betreten hatte. Zuvor hatte er geklopft und gerufen, aber er war nicht gehört worden. Gehört hatte dann Eddie – und zwar Kerstins Stimme, die klar und deutlich sagte: „Ich werde dich anzeigen, Wilhelm.“

Wie erstarrt war Eddie stehen geblieben und vernahm dann Raddatz, der antwortete: „Stell dich doch nicht so an. Ich kann dir alles bieten, Kerstin, alles, was du willst. Mehr als dein Schlachter. Tausend Mal mehr als dein Schlachter.“

„Ich will dich aber nicht, Wilhelm.“ Das war wieder Kerstin. „Dich nicht und dein schleimiges Geld will ich auch nicht. Ich habe dir gesagt, wenn du mich noch einmal anfasst, dann zeige ich dich an …“

„Anzeigen? Und wer, meinst du, wird dir glauben? Ich bin ein angesehener Mann, Kerstin, und was bist du?“

„Du fühlst dich auf der sicheren Seite, ja? Sei dir nicht zu sicher, Wilhelm. Ich weiß mehr, als du ahnst, und ich zögere nicht, von meinem Wissen Gebrauch zu machen. Geht das in deinen runden Schädel?“

„Was kannst du schon wissen, womit du mir drohen könntest?“

„Wenn ich es will, kann ich das ganze verdammte Dorf in die Luft fliegen lassen!“ In der nächsten Sekunde flog etwas anderes und zwar die Wohnzimmertür. Mit einem Knall donnerte sie gegen die Wand des Flurs und Kerstin stürzte heraus. Raddatz folgte ihr auf dem Fuß. „Du kleine, verdammte …“ Dann entdeckte er Eddie und sein eben noch hochrotes Gesicht wurde augenblicklich leichenblass.

Kerstin schritt auf Eddie zu und man musste anerkennend feststellen, dass sie es mit sehr viel Würde tat. „Geh zur Seite, Eddie.“

Er tat es, sie schritt an ihm vorbei und verließ das Haus.

„Ich weiß nicht, was du gehört hast, Eddie …“, hatte Raddatz angesetzt, nachdem die Haustür hinter ihr zugeschlagen war.

Eddie hatte sich vor ihm aufgebaut, sodass er nur noch mit etwa zwanzig Zentimeter Abstand zu seinem Gesicht sprach: „Genug, Wilhelm.“

„Dann hast du es sicher falsch verstanden.“

„Was hast du getan, Wilhelm? Sag’s mir. Wenn du es nicht tust, werde ich zu ihr gehen und sie persönlich danach fragen. Und glaub mir, sie wird es mir erzählen.“

Raddatz räusperte sich laut. Es klang wie ein kranker Hund. „Ich habe nur versucht, sie zu küssen. Mehr nicht.“

„Du hast nicht …?“

„Was?“

„Hast du sie vergewaltigt, Wilhelm?“

„Nein!“

„Wilhelm, ich kenne dich. Wenn du etwas unbedingt haben willst und es nicht bekommst …“

„Ich hab ihr nichts getan. Ich hab versucht, sie zu küssen, sie wollte nicht, das war alles.“

„Komisch, dass sie dem Jürgen noch nichts erzählt hat“, bemerkte Eddie nach ein paar Sekunden der Stille. „Ich meine, was glaubst du, was passiert, wenn sie ihm erzählt, dass du schon seit Monaten versuchst, ihr ins Höschen zu fassen?“

Raddatz schaute zur Seite, was zeigte, dass er sich sehr wohl darüber im Klaren war, was passieren würde, wenn Jürgen davon erfuhr.

Genau das geschah dann auch. Lediglich ein paar Stunden später. Jürgen Jakob kam in die Kneipe gestürmt und brüllte: „Du dreckiges Stück Scheiße! Ich bring dich um! Ich schneid dir den Schwanz ab und stopf ihn dir ins Maul! Du wagst es, meine Frau anzufassen?“

In der Sekunde darauf hatte er Raddatz vom Stuhl gezerrt und zugeschlagen.

„Wag dich nie wieder auch nur in ihre Nähe! Wenn du sie noch einmal anrührst, bring ich dich um! Aber vorher lass ich dich hochgehen. Ich ruinier dich! Ich ruinier dich so, dass du nie wieder auf die Füße kommst. Nie mehr. Hast du das kapiert, Wilhelm?“

Jetzt, in diesem Moment, durchlebte der Bürgermeister das Ganze noch einmal, und er wusste genau, woran Eddie dachte. Kurz danach war Jürgen tot. Und Kerstin auch.

„Niemandem hilft die Wahrheit“, sagte er mit einer Beiläufigkeit, als würde er einen Kaffee bestellen, was er niemals tat. „Auch dir nicht, Eddie. Schon gar nicht dir. Das solltest du niemals vergessen.“

In diesem Moment wurde die Tür zur Kneipe geöffnet und alle drei blickten hin. Pastor Jordan trat ein. Und er war nicht alleine.

Mit großen Augen stellten Raddatz, Eddie und Knut Hagen fest, dass er in Begleitung einer Frau war, die bisher noch keiner von ihnen gesehen hatte. Von der aber jeder instinktiv wusste, wer sie war.

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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