Читать книгу Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1 - Tanja Noy - Страница 9

4. KAPITEL

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So nackt wie nie zuvor

Dienstag, 6. April

8:15 Uhr

Julia träumte.

Während über der Ostsee ein heftiges Gewitter den Himmel mit Blitzen erhellte, mühte sie sich, den Traum abzuschütteln, und einen Moment schien es tatsächlich so, als würde sie aus der Tiefe auftauchen. Doch dann zuckten erneut Bilder durch ihren Geist, Menschen und Ereignisse, durch Jahre und Jahrzehnte getrennt, tot oder lebendig, trafen sich an einem Ort, wo so etwas wie Zeit nicht existierte. Und wie in so vielen Träumen zuvor, schritt Julia zwischen den Menschen dahin, die Menge teilte sich und ihr Vater trat vor sie. Er trug denselben dunklen Anzug, den er immer getragen hatte, wenn er zum Gericht gefahren war. Dieses Mal aber bemerkte Julia Blut an seiner Jacke. Der Fleck wurde größer. Dann formte ihr Vater die Lippen zu zwei Worten: „Sei vorsichtig.“

Für einen Moment war Julia verwirrt, weil sie seine Stimme nicht hören konnte, dann begriff sie: Der Grund dafür war natürlich der, dass er seit über zwanzig Jahren tot war, genau wie ihre Mutter. Gemeinsam bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Vollkommenes Schwarz. Dann riss Julia mit einem Ruck die Augen auf. Das Herz pochte wild in ihrer Brust, ihr Atem ging flach und schnell.

Jeder Versuch wieder einzuschlafen war zwecklos, das wusste sie aus leidvoller Erfahrung. Also schob sie die Bilder in ihrem Kopf entschlossen zur Seite, schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Das T-Shirt klebte nass auf ihrer Haut.

Sie spürte ihre verspannten Muskeln, als sie sich erhob, und griff gerade nach einem Löffel und einer Kaffeetasse, als ihr Handy klingelte. Sie ignorierte es, schüttete Instantkaffee in die Tasse und schritt zum Wasserkocher. Das Handy klingelte weiter. Das Wasser kochte, sie ließ es in die Tasse laufen. Das Handy klingelte immer noch. Mit dem Löffel rührte Julia in der Tasse und atmete das Kaffeearoma ein. Das Handy klingelte unermüdlich weiter. Schließlich nahm sie das Gespräch entnervt an. „Hallo?“

„Julia? Gut, dass ich dich erwische. Pastor Jordan hier.“

Alle Muskeln versteiften sich augenblicklich wieder. „Jordan? Was für eine Überraschung. Was macht der Job?“

„Er ist immer noch meine Berufung und ich gehe ihm mit Leib und Seele nach. Aber deswegen rufe ich nicht an. Ich wollte dir mitteilen, dass Eva wieder in Wittenrode ist.“

Überrascht zog Julia die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Seit wann?“

„Seit gestern Abend. Greger wird auch noch kommen.“

„Nach Wittenrode? Herzlichen Glückwunsch. Und was habe ich damit zu tun?“

„Hast du es denn nicht gehört?“

Julia trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und suchte nach ihren Zigaretten. „Was hätte ich hören sollen?“

„Es kam in allen Nachrichten.“

„Ich befinde mich im Urlaub, Pfarrer Jordan. Ich bin an der Ostsee. Nachrichten interessieren mich gerade nicht. Also, was ist passiert?“

Jordan antwortete erst nach kurzem Zögern. „Es geht um Kerstin.“ Anscheinend hatte er die ganze Zeit gesessen, denn am anderen Ende schrammten nun Stuhlbeine über den Boden. „Sie hat sich im Gefängnis erhängt.“

Wie vom Blitz getroffen, richtete Julia sich auf. „Was? Das ist ein Witz, oder? Was hat Kerstin denn im Gefängnis gemacht?“

„Sie hat ihren Mann getötet. Offenbar konnte sie mit der Schuld nicht leben und hat sich nun selbst gerichtet.“

Julia ließ das Handy sinken, zwei Sekunden, drei, dann hob sie es wieder ans Ohr. „Kerstin soll ihren Mann umgebracht haben?“ Sie versuchte sich das vorzustellen, was ihr beim besten Willen nicht gelang.

„Sie hat alles weggeworfen, Julia. Ihre Ehe, ihr Zuhause, ihr Leben. Und jetzt … Hör zu, morgen ist die Beerdigung, und ihr vier, Kerstin, Greger, du und Eva, ihr wart doch mal Freunde. Ich bitte dich in Erinnerung an diese Freundschaft …“

Julia spürte, wie eine unsichtbare Faust gegen ihre Brust schlug und dort verharrte. „Sie wollen mich jetzt aber nicht dazu überreden, zurück nach Wittenrode zu kommen, oder?“

„Nein, natürlich will ich dich nicht überreden. Ich bitte dich darum. Um eurer alten Freundschaft willen.“

Keine Antwort von Julia.

„Also, was sagst du?“, sprach Jordan weiter. „Wirst du kommen?“

„Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt kein Interesse daran, in meinem ganzen Leben noch einmal einen Fuß nach Wittenrode zu setzen. Ich finde schon allein den Gedanken daran unerträglich.“

Es rauschte und knackte in der Leitung und Julia hegte die vage Hoffnung, dass das Schicksal das Gespräch vielleicht beendet hatte, doch Jordans Stimme durchbrach schon in der nächsten Sekunde wieder das Rauschen.

„Meine liebe Julia …“ Wenn er sie früher so angesprochen hatte, wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. „Meine liebe Julia, kommst du nie auf den Gedanken, dass du dich irren könntest?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Du denkst, dass Wittenrode und die Zeit im Waisenhaus nur Schlechtes hatten. Und du nimmst an, wenn du es einfach ignorierst, dann ist es vergessen.“ Der Pfarrer hatte sich offenbar fest vorgenommen, am Ball zu bleiben. „Aber so ist es nicht. Du kannst weglaufen, Julia, du kannst laufen, wohin du willst, es wird dich trotzdem nicht loslassen. Ihr hattet damals keine Wahl. Ihr wurdet nicht gefragt. Ihr musstet mit unheimlichem Mut die Dinge angehen und habt ungeheuer schnell gelernt, was andere vielleicht nie im Leben lernen – nämlich alleine zu überleben.“

„Danke für die psychologische Lehrstunde, Herr Pastor, aber es ist doch ein bisschen komplizierter.“

„Es geht um Kerstin. Nicht um dich, nicht um mich, nicht um sonst irgendetwas. Eva und Greger fühlen sich nicht weniger unwohl und nehmen trotzdem an der Beerdigung teil.“

Schweigen.

„Also, was ist?“, fragte Jordan noch einmal. „Kommst du?“

„Nein. Und ich werde auch nicht noch einmal darüber nachdenken.“

Der Pfarrer konnte nicht weiter protestieren. Julia hatte bereits aufgelegt.

Und sie dachte doch darüber nach.

Sie bekam es einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Leise fluchend stieg Julia unter die heiße Dusche, lief anschließend nackt und rastlos im Zimmer auf und ab, um dann wieder stehen zu bleiben und sich forschend im Spiegel zu betrachten. Ihr Blick fiel auf die dunkelbraunen, halblangen Haare, auf den achtlos zur Seite geschobenen Pony, der ihr über das linke Auge fiel, auf die verschiedenen Tätowierungen: Ein Gitarrenriff von Judas Priest auf dem rechten Unterarm: „Breaking the law“, der Drache auf ihrem Rücken, dessen Flügel sich von einer Schulter zur anderen ausbreiteten und dessen Schwanz am Steißbein endete, die geschwungenen lateinischen Buchstaben auf der Innenseite des rechten Oberarms: Lebe das Leben wahr. Alles vertraut, alles bekannt. Doch heute kam noch etwas anderes hinzu, ein neuer Gedanke: dass ihr Spiegelbild ihr gar nichts sagte und dass ihre Nacktheit sich plötzlich absoluter anfühlte. Totaler. Irgendwie fühlte sie sich so nackt wie nie zuvor.

Julia wandte sich ab und rubbelte sich die Haare trocken, dann zog sie sich eine ausgewaschene Jeans und ein altes Sweatshirt an und trat hinaus auf den Balkon. Sie legte ein Foto auf den Tisch, das sie seit vielen Jahren immer bei sich trug, und setzte sich.

Während sie den kühlen Wind um sich herum spürte und den regenverhangenen Himmel beobachtete, suchte sie in ihrem Kopf nach einer Beschwörungsformel, nach irgendetwas, was sie darin bestätigte, dass es richtig war nicht zurück nach Wittenrode zu fahren. Aber es ging um alte Freundschaft. Kerstins Tod hatte so viel Unwirkliches. Obwohl sie über zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, rechnete Julia fest damit, dass Kerstin jetzt anrufen und mit ihrer unverwechselbaren Stimme in den Hörer sagen würde: „Hi Julia, ich weiß, du hast mich vergessen, aber hey, das ist in Ordnung, ich hasse dich nicht dafür. Du hattest eben wichtigere Dinge zu tun. Was ist? Kommst du wenigstens zu meiner Beerdigung?“

Und als würde das nicht reichen, immer wieder Jordans Stimme im Ohr: „Du kannst laufen, wohin du willst, Julia, es wird dich trotzdem nicht loslassen.“

Hatte er recht? Natürlich, gestand Julia sich ein. Aber wenn ich schon einen Moment ehrlich zu mir selbst bin, dann fliehe ich ja nicht nur vor Wittenrode und den Erinnerungen an das Waisenhaus. Ich fliehe vor allem. Vor Beziehungen. Vor meinem Beruf. Vor mir selbst. Vor meinen Albträumen. Und bitte – bitte! – nicht noch einen Menschen, der in meinen Träumen herumspukt.

Sie hob das Foto an und betrachtete es. Es war eine Aufnahme von vier Dreizehnjährigen, die die Arme umeinander gelegt hatten und sich vor dem Hintergrund einer verfallenen Burg gegen den Wind lehnten. Julia drehte das Foto um. Da stand nur ein einziges Wort in großen Buchstaben: WIR. Sie schluckte, spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, drehte das Foto erneut und starrte die Jugendlichen wieder an. Kerstin. Ein außergewöhnlich hübsches, blondes Mädchen. Auf dem Foto trug sie einen langen, nicht mehr ganz neuen Mantel und auf dem Kopf einen schwarzen runden Filzhut. Ihr Gesicht war der Kamera zugewandt und jeder Zug in ihm war klar und schön. Sie hatte die Lippen zu jener Art Lächeln verzogen, das sie damals stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte, und es sah echt aus, so wie es ihre Augen erhellte.

Julia ließ das Foto sinken und blickte erneut aufs Meer. Es gab ja verdammt noch mal genug Gelegenheiten zum Sterben. Krebs. Autounfall. Herzinfarkt. Aber Selbstmord nach dem Mord am Ehemann?

Was ist passiert, Kerstin? Du hattest so viele Hoffnungen und Träume, was ist passiert, dass sich das Blatt so gegen dich gewendet hat?

Warum so, Kerstin?

Plötzlich gelang es Julia nicht mehr, die Ereignisse voneinander zu trennen. Alles verschmolz wieder zu jener Zeit, in der sie zu viert „drinnen“ waren. „Drinnen“, das war im Waisenhaus. Wochen, Monate, Jahre zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Sie entsann sich vieler Kleinigkeiten – Gerüche, Melodien, Wortfetzen –, und am Ende blieb sie bei Eva hängen. Eva würde ihr Verhalten feige nennen, und das wahrscheinlich zu Recht.

Julia hob das Foto wieder an und betrachtete das Mädchen mit den hellroten Locken, die wild von seinem Kopf abstanden. „Curly Sue“, so hatten sie damals alle genannt.

Julia erinnerte sich an ihren ersten Tag im Heim und an ihre erste Begegnung mit Eva …

„Brauchst du Hilfe?“ Das helle Gesicht mit den Sommersprossen lächelte offen und freundlich.

Julia schüttelte den Kopf, aber Eva ging trotzdem nicht. „Wir haben uns das alle nicht ausgesucht“, erklärte sie ziemlich altklug für ihre zehn Jahre und hob dabei die Schultern an, fest entschlossen, sich mit dem Schicksal abzufinden.

Julia konnte das nicht. Julia wollte es auch nicht. Sie packte ihre Tasche nicht aus, sondern legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Eva legte sich auf das Bett daneben und tat dasselbe.

Von diesem Tag an wich sie Julia nicht mehr von der Seite. Sie erzählte ihr von den Vögeln am Himmel und den Tieren im Wald und war in der Lage, jedes einzelne – ob groß oder klein, im Wald, in der Luft oder im Wasser – mit Namen zu nennen. Ob Julia es wissen wollte, interessierte Eva ebenso wenig wie alle mehr oder weniger verbrämten Aufforderungen, sie in Ruhe zu lassen.

Nach zwei Wochen war Julia kurz davor, die Tür von innen abzusperren. Zu der Zeit hatte sie aber bereits begriffen, dass sie dazu auserwählt war, Evas besondere Gunst zu genießen, und dass sie für sie so etwas war wie ein verletztes Reh, das unbedingt gerettet werden musste …

Wieder in der Gegenwart, rieb Julia sich über die Augen. Sandmann war anders gewesen. Greger Sandmann. Wieder sah sie auf das Foto. Der dicke Junge in der Mitte, mit dem dunkelblonden Haar und der viel zu großen Brille auf der Nase. Ein Ass in der Schule, ein wandelndes Lexikon. Außer Eva, Julia und Kerstin hatte Sandmann keine Freunde, und Frauen waren vermutlich heute noch ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Er konnte reden wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma, aber im Gegensatz zu Eva hatte er Julia nie mit zu viel Nähe bedrängt. Das war etwas, das sie immer besonders an ihm gemocht hatte.

Julia seufzte und ließ das Foto sinken. Das waren sie, die vier Freunde, das Kleeblatt jener Zeit. Verlorene Seelen, die sich für kurze Zeit getroffen hatten, um einander in einer einsamen Zeit Halt zu geben. Jetzt war eine von ihnen tot. War es da nicht ihre Pflicht, wenigstens zur Beerdigung zu erscheinen?

Um 9:45 Uhr rief sie Pastor Jordan an und sagte nur einen Satz: „Ich komme, aber ich werde nicht lange bleiben.“

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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