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6. KAPITEL

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Geister der Vergangenheit

Norbert Kämmerer, der ehemalige Polizeichef von Hannover, saß in seinem Wohnzimmer, in einem Sessel, und schloss verzweifelt die Augen. Inzwischen war er stolze 86 Jahre alt und alleine. Statt seiner Frau, die schon viele Jahre tot war, hatte längst ein anderes Wesen die Räume bezogen. Ein Wesen, das nach ihm rief und dessen Schritte auf den Dielen knarrten.

Akustische Halluzinationen. So hatte der Arzt es genannt. Bei älteren Menschen wäre das keine Seltenheit. Kämmerer jedoch wusste, dass es etwas anderes war. Er wusste, dass es irgendwo dort draußen einen Menschen mit einer unerledigten Aufgabe gab. Die Bestätigung dafür hatte er erhalten, als er heute in der Zeitung von dem erneuten Mord in Wittenrode gelesen hatte. Und jetzt ließ es ihn erst recht nicht mehr los.

Er hatte immer mit der Angst gelebt. Angst davor, dass das, was in seinem Kopf vor sich ging, eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Und jetzt war es so weit.

Kein Frieden mehr zu schließen.

Mit niemandem.

Julia fuhr zur selben Zeit von Osten her auf Wittenrode zu und dachte darüber nach, dass das Sterben eine einsame Sache war.

Sie war schon vier Stunden unterwegs, es regnete in Strömen, die Scheibenwischer des Wagens waren auf maximale Geschwindigkeit eingestellt und dem heftigen Regen trotzdem kaum gewachsen. Die Heizung war ausgefallen und sie fror. Es war kurz vor 17:00 Uhr und die Scheinwerfer konnten das Dunkel des elend frühen Abends kaum durchdringen. Um sich weiter abzulenken, fügte Julia in Gedanken hinzu: Das Leben ist nicht weniger einsam. Und die Liebe? Erst recht nicht.

Sie hatte Hannover erst wenige Kilometer hinter sich gelassen und war trotzdem schon mitten auf dem Land, fuhr an Schildern vorbei mit Namen, an die sie sich vage erinnerte, über Straßen, die immer noch dieselben Schotterpisten waren wie früher. Und so wusste Julia auch, was gleich kam. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und dann sah sie das Schild: Wittenrode 2 km. Sie bremste ab, nahm die nächste Kurve, und plötzlich überkam sie eine Erinnerung. Die Erinnerung daran, wie sie mit ihren Eltern an genau demselben Schild vorbeigefahren war, vor mindestens fünfundzwanzig Jahren, im Sommer, auf den Wittenroder See zu. Sie glaubte, das Lachen ihrer Eltern zu hören, was der schönste Teil der Erinnerung war, das unbekümmerte Lachen. Julia wunderte sich, wie klar es in ihr Gedächtnis eingebrannt war und wie lebendig ihre Eltern für diesen kurzen Augenblick schienen. Sie blieben so lange, wie sie an dem Schild vorbeifuhr.

Dann fiel das Bild in sich zusammen und einmal mehr schwappten Wut und Zorn in Julia hoch wie eine Flut, die sich Welle für Welle in Richtung Deichkrone kämpfte. Sie spürte es als körperliche Schmerzen, als ein Nagen im Bauch, ein Ziehen im Kopf.

In der ersten Zeit nach dem Unfall hatte sie sich eingeredet, ihre Eltern wären nicht wirklich tot. Sie war fest davon überzeugt, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war. Ihre Eltern waren am Leben und warteten zu Hause auf sie. Ja, Julia war davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Eltern antreffen würde, wenn man sie nur zurück nach Hause gelassen hätte. Aber man ließ sie nicht. Und spätestens bei der Beerdigung hatte sie den Glauben daran dann auch endgültig verloren. Und auch allen anderen Glauben.

Julia zwang sich in die Realität zurück. Gleich würde es dort oben auf dem Berg zu sehen sein. Sie sah nach oben und, ja, da war es. Gelbe Lichter gaben sich alle Mühe, über den dichten Regen hinweg zu leuchten, und sie stellte fest, dass das große Haus immer noch genauso beeindruckend war wie früher. Etwas weiter links befand sich die alte Burgruine und dazwischen die kleine alte Kapelle.

So lange Julia denken konnte, gab es dieses Bild, standen das Waisenhaus, die Kapelle und die verwitterte Burg nebeneinander dort oben. Der Wagen kam gefährlich ins Schleudern und sie fluchte: „Scheiße, verdammte!“ Der Fluch galt der ganzen Welt, aber vor allem dem Waisenhaus, und als sie einen Gang herunterschaltete, fiel ihr auf, dass aus dem Zittern ihrer rechten Hand mittlerweile eine tiefe Lähmung geworden war. Der Linken wäre es nicht besser ergangen, hielte sie nicht mit weißen Knöcheln das Lenkrad umklammert.

Jeder in dieser Gegend wusste, dass das Haus dort oben stand und was es zu bedeuten hatte. Doch es wurde ignoriert. Geleugnet. Ein unsichtbares Haus. Ein Haus, von dem alle nur hinter vorgehaltener Hand sprachen. Ein Haus, in dem so manches Kind verschwunden war. Für Jahre.

Natürlich wusste Julia, dass sie unfair war. Die Menschen dort oben waren gute Menschen. Sie hatten alles für sie getan – und nicht nur für sie – und nichts dafür erwartet. Sie hatten es ihr ermöglicht, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Eben das Beste aus dem zu machen, was ihr geblieben war. Sie hatte lange aufbegehrt und doch irgendwann verstanden, dass sie Kompromisse eingehen musste. Und so fühlte sich ihre Erinnerung ab einem bestimmten Zeitpunkt an wie die anderer Menschen auch: verschiedene Stationen des Lebens, von Zufällen bestimmt, vielleicht auch vom Schicksal beeinflusst, irgendwo zwischen neurotisch und normal, zwischen gewöhnlich und verzweifelt. Sie hatte all die Dinge getan, die niemand tun sollte und die doch jeder tat. Sie fühlte sich schuldig und auch wieder nicht. Und dann, mit achtzehn, war sie förmlich aus dem Waisenhaus geflohen. War nach Hannover gegangen, zur Polizei. Nur weg von Wittenrode und all dem …

Vierzehn Jahre war das inzwischen her. Und nun war sie wieder hier. Ein ganz merkwürdiges Gefühl. Als wäre sie nie weg gewesen.

Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied. Sie war jetzt kein Kind mehr.

Sie war nicht mehr zehn Jahre alt.

Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1

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